John Molyneux

Marxismus und Partei


Vorwort des Autors


Marxismus und Partei war mein erstes Buch. Ich habe es aus einer besonderen geschichtlichen Erfahrung heraus geschrieben, in den Jahren zwischen 1968 und 1974. In dieser Zeit bauten wir unter den Bedingungen eines bedeutenden Aufschwungs von Arbeiterkämpfen in Großbritannien eine revolutionäre Partei auf. Eine Epoche, die Chris Harman so brillant in seinem Buch 1968 – Eine Welt in Aufruhr analysiert hat.

Seitdem ist viel Wasser den Fluss der Geschichte hinuntergeflossen – zu viel, als dass ich das an dieser Stelle ausführlich darstellen könnte. Eines lässt sich aber im weitesten Sinne feststellen: Wenn die Jahre zwischen 1968 und 1974 eine internationale Belebung der Kämpfe mit sich brachten, dann haben wir in der darauffolgenden Periode, insbesondere in den 1980er Jahren unter Reagan und Thatcher, ebenso wie während eines großen Teils der 1990er Jahre, international einen tiefen Niedergang erlebt. Die bedeutendste Ausnahme bildeten die Massenmobilisierungen, die zwischen 1989 und 1991 zum Sturz des „Kommunismus“ in Osteuropa und Russland führten. Sie stellten einen wichtigen demokratischen Fortschritt dar, wurden aber dennoch in weiten Teilen der Linken nicht als ein Schritt nach vorne empfunden. Die meisten deuteten die Ereignisse nicht als den Niedergang des stalinistischen Staatskapitalismus, sondern sahen in ihnen in dieser oder jenen Form das Ende des Sozialismus. Eine internationale Gezeitenwende setzte erst mit der berühmten Massendemonstration in Seattle im Jahr 1999 und der Geburt der globalen „antikapitalistischen“ Bewegung ein, die später in eine globale Bewegung gegen den Krieg im Irak überging. Seitdem ist erneut ein Jahrzehnt vergangen mit vielen weiteren bedeutsamen Entwicklungen. Daraus ergeben sich offensichtlich zwei Fragen:

  1. In welchem Maß stehe ich noch zu dem, was ich vor über 35 Jahren geschrieben habe?
     
  2. Wie relevant ist das Buch und seine grundlegenden Argumente unter den heutigen Bedingungen?

Zur ersten Frage lässt sich sagen, dass ich nahezu vollständig zu allem stehe, was ich damals geschrieben habe. Natürlich hofft man immer, im Laufe der Jahre dazu zu lernen. Insofern gilt: Würde ich das Buch noch einmal schreiben, dann würde ich versuchen, es besser zu machen. Doch an meinen dem Buch zugrundeliegenden politischen Überzeugungen hat sich nichts Wesentliches geändert. Überdies glaube ich, die Auffassungen der großen Marxisten zu Charakter und Funktion der revolutionären Partei recht genau entwickelt zu haben. Wichtige Ausnahmen finden sich einzig in den Kapiteln zu Gram-sci und Trotzki.

Das Kapitel über Gramsci ist geschrieben worden, ehe mir bewusst war, wie sehr seine Ideen im Dienste des Reformismus und der Klassenkollaboration durch die Strömung des Eurokommunismus und dessen geistigen Mitläufer verzerrt worden sind. Gramscis Gefängnishefte enthalten eine Vielzahl an Mehrdeutigkeiten und Unschärfen. Auf diese Weise versuchte Gramsci, die Schriften an den faschistischen Zensoren vorbei aus dem Gefängnis zu bekommen. Seine eurokommunistischen Nachahmer haben es allerdings verstanden, diese begrifflichen Unschärfen zu einer beträchtlichen Verfälschung seines Erbes zu nutzen. Würde ich das Buch heute noch einmal schreiben, dann trüge ich diesem Umstand Rechnung. Ich würde Gramsci weiterhin als einen echten Revolutionär verteidigen, und mich zugleich kritischer mit seinen Formulierungen auseinandersetzen.

In Hinblick auf Trotzki würde ich dessen Konzeption zum Verhältnis von Partei und Klasse, die er in seinen Schriften zwischen 1928 und 1937 entwickelt hat, mehr Platz einräumen. Ich meine insbesondere seine Kritik am ultralinken Kurs der stalinistischen „Dritten Periode“, der die Arbeiterklasse im Angesicht von Hitler gespalten hat, und den darauf folgenden Opportunismus der Volksfront-Periode. Trotzkis Schriften hierzu erwiesen sich später als äußerst nützlich, im (erfolgreichen) Kampf gegen die faschistische National Front, den wir in Großbritannien in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre geführt haben. Ich betone das an dieser Stelle, weil der Kampf gegen den Faschismus heute wieder in ganz Europa von herausragender Bedeutung ist.

Der Aufbau revolutionärer Parteien bleibt die entscheidende Voraussetzung, um die künftige internationale Revolution zum Sieg zu führen. Diesbezüglich befinden wir uns in einer paradoxen Situation. Das kapitalistische System ist von zahlreichen Krisen gekennzeichnet, was den Aufbau solcher Parteien dringlich macht. Doch die verbreitete Stimmung in der Linken ist gegenüber Parteiaufbauprojekten in vielerlei Hinsicht eher feindlich eingestellt.

Dies wird besonders deutlich, wenn man sich die Zeit in Erinnerung ruft, in der ich Marxismus und Partei geschrieben habe. Obwohl der Einfluss anarchistischer und spontaneistischer Ideen damals spürbar war, spielte sich die Hauptdebatte in der radikalen Linken zwischen Strömungen ab, die sich zumindest verbal zum Leninismus bekannten. Dazu gehörten der traditionelle Kommunismus (d. h. der Stalinismus), der Maoismus, der Castroismus, unterschiedliche Spielarten des Trotzkismus usw. Das Ziel von Marxismus und Partei war es deshalb, die Leninismus-Interpretation in der Tradition der Internationalen Sozialisten zu verteidigen, insbesondere gegen die stalinistischen und so genannten „orthodox“-trotzkistischen Auslegungen. Entsprechend habe ich in dem Buch das dynamische und wechselseitige (dialektische) Verhältnis zwischen der Partei und der wirklichen, lebendigen Arbeiterklasse hervorgehoben.

Heute sieht das Bild ganz anders aus. Heute gibt es eine weitverbreitete Ablehnung jeder Art von Partei, insbesondere unter neu radikalisierten Jugendlichen. In Spanien etwa besetzte die Massenbewegung der Indignados in den Jahren 2011/12 städtische Plätze und forderte „Wahre Demokratie – sofort!“. Sie fand ihren Ausgangspunkt in der Opposition gegen alle politischen Parteien und Gewerkschaften. Selbst Anhänger revolutionärer Gruppierungen erhielten in Madrid und Barcelona nur als Individuen Zutritt zu den Plätzen, nicht als sichtbare Mitglieder von Organisationen. Ihre Fahnen und Zeitungen mussten sie zu Hause lassen. Ähnliche Tendenzen gab es auch in der Occupy-Bewegung in den USA, London, Irland und anderswo zu verzeichnen, ebenso – wenn auch in geringerem Ausmaß – auf dem Tahrir-Platz und in den Straßen Kairos während der ägyptischen Revolution.

Wenngleich Anarchisten und Autonome ihren Nutzen aus ihr ziehen können, würde ich diese Aversion gegen Parteien nicht als anarchistisch oder autonom bezeichnen. Denn ihren Ursprung, so meine ich, findet sie nicht in den Theorien von Bakunin, Kropotkin oder Hardt und Negri. Sie rührt vielmehr aus einer radikalisierten Version des neoliberalen Individualismus, der im Laufe der letzten Jahrzehnte starke Wurzeln im Bewusstsein der Jugend geschlagen hat.

Wo immer auch seine Ursprünge liegen mögen, diese Stimmung ist eine weit verbreitete Gegebenheit. Bedeutet dieser Umstand, wie oft behauptet wird, dass sich die Idee von einer revolutionären Partei überlebt hat? Nein, nicht nach meiner Überzeugung. Aber es heißt, dass wir vielleicht in der Auseinandersetzung noch „weiter zurück“ gehen müssen, zur Frage nach der Notwendigkeit politischer Parteien als solche.

Was die Vorstellung betrifft, mit politischen Parteien an sich stimme etwas nicht, müssen wir zunächst anerkennen, wie verständlich eine derartige Reaktion ist. Sie ist nur natürlich angesichts des an den Tag gelegten Verhaltens nahezu aller Parteien, mit denen die meisten Menschen ihre Erfahrungen gemacht haben. Im Übrigen müssen wir verstehen, dass an den bestehenden politischen Parteien tatsächlich etwas grundsätzlich falsch ist, insofern sie Symptom und Ausdruck einer in Klassen gespaltenen Gesellschaft sind und daher viele ihrer fürchterlichen Eigenschaften in sich tragen. Da jedoch die Klassengesellschaft existiert und die Arbeiterklasse sich ihr nicht einfach entziehen kann, um irgendwo ein Utopia aufbauen, muss sie um ihre Befreiung aus ihr heraus kämpfen. In diesem Zusammenhang ist das Vorhandensein politischer Parteien eine Errungenschaft und zugleich eine Grundvoraussetzung – selbst, wenn es nur um den Erhalt einer noch so begrenzten Form von Demokratie geht.

Historisch gesehen jedenfalls entwickelten sich politische Parteien Hand in Hand mit der (bürgerlichen) Demokratie und der Ausweitung des Wahlrechts auf die Arbeiter im 19. Jahrhundert. Zuvor haben keine Parteien existiert, sondern lediglich lockere Zusammenschlüsse von „Honoratioren“, das heißt von Adeligen und führenden Vertretern des Besitzbürgertums. Erst die Erkämpfung des Wahlrechts durch die Massen hat die oberen Klassen, die Mittelschicht und die Arbeiterklasse selbst dazu gezwungen, Parteien zu bilden, mittels derer sie um Wählerstimmen kämpfen konnten. Zweitens sind die einzigen modernen Gesellschaften, in denen nicht mehrere Parteien bestehen, solche Gesellschaften, in denen sie mit Gewalt von militärischen, faschistischen oder stalinistischen Diktatoren unterdrückt werden. Das heißt Gesellschaften, in denen es überhaupt keine demokratischen Rechte mehr gibt.

Mehr noch: Stellen wir uns vor, es sei in einer kapitalistischen Gesellschaft möglich (was es natürlich nicht ist), ohne gewaltsame Unterdrückungsmaßnahmen zu einer freiwilligen Auflösung aller politischen Parteien zu kommen, so dass alle Abgeordneten, Senatoren, Bezirksverordneten usw. nur noch parteiungebundene Individuen wären. Würde das der Arbeiterklasse und der Mehrheit der Bevölkerung nutzen? Nein, das würde es nicht. Ganz im Gegenteil, von einer solchen Situation würden die Reichen, die Bourgeoisie, enorm profitieren. Denn sie wären in der Lage, ihren persönlichen Reichtum und all ihre anderen Vorteile (Beziehungen, kulturelles Kapital usw.) einzusetzen, um die Politik noch mehr zu beherrschen, als sie es gegenwärtig ohnehin schon tun. Nur durch kollektive Organisationen – sei es in Form von Parteien oder Gewerkschaften – können arbeitende Menschen der Macht des Kapitals und der Herrschaft der Bourgeoisie etwas entgegensetzen.

Jene Sozialisten, die die Notwendigkeit einer Parteibildung verstehen, bevorzugen allerdings in der aktuellen Epoche in ihrer Mehrheit den Aufbau „breit“ aufgestellter linker Parteien gegenüber dem Aufbau einer spezifisch revolutionären oder leninistischen Organisation. Das betrifft auch linke Sozialisten. Das bedeutsamste Beispiel der jüngeren Vergangenheit lieferte die internationale und meist unkritische Begeisterung für Syriza in Griechenland. Andere Beispiele sind die Begeisterung für die relativ erfolgreiche Front de Gauche in Frankreich (erfolgreich im Vergleich zur erklärtermaßen revolutionären NPA), den Linksblock in Portugal, für Die Linke in Deutschland oder das rot-grüne Bündnis in Dänemark. In Großbritannien sehnen sich viele nach einer solchen Partei – sie ist noch nicht gegründet worden, weil die Menschen, die sie gründen könnten, sich weigern, mit der sozialdemokratischen Labour Party zu brechen.

Selbstverständlich sind das Entstehen und Fortkommen solch breit aufgestellter Parteien der radikalen Linken begrüßenswert, da es sich dabei um den Ausdruck einer sich nach links bewegenden Arbeiterklasse handelt. Wer aber diese Parteien dem Aufbau revolutionärer Parteien entgegensetzt und ihren Erfolg bei Wahlen – und daraus folgernd die Eroberung der Regierungsgewalt – als das entscheidende Vehikel auf dem Weg zur letztendlichen Überwindung des Kapitalismus versteht, übersieht die Erfahrungen mit der tragischen Geschichte linker Reformregierungen. Ich denke insbesondere an jene von Salvador Allendes Volksfront in den Jahren 1970 bis 1973 in Chile, die durch Pinochets brutalem Militärputsch beendet wurde. Aber auch an die Volksfrontregierung 1936 in Spanien, die Franco und dem Faschismus unterlag. Die historische Erfahrung mit dem linken Reformismus, darunter der Menschewismus in Russland, die Sozialdemokratie in Deutschland unter Kautsky vor dem Ersten Weltkrieg oder die Sozialistische Partei in Italien von 1918 bis 1921, liefert reichlich Anschauungsunterricht für ein Organisationsmodell, das in großen historischen Krisen in die Niederlage führt.

Der linke Reformismus ist, wie Lenin in seiner Schrift Staat und Revolution herausstellte, von einer grundlegenden Schwäche gekennzeichnet. Er weicht der Notwendigkeit aus, den kapitalistischen Staatsapparat zu zerschlagen, und will ihn stattdessen übernehmen. Infolgedessen werden linke Reformregierungen vom kapitalistischen Staat entweder eingebunden und instrumentalisiert, oder sie werden durch ihn zerstört.

Die Erkenntnis, dass der Sieg der Revolution eine eigenständige Organisation von Revolutionären erfordert, ist das Kennzeichen des Bolschewismus und wird in diesem Buch eingehend diskutiert. Diese Lehre wurde mühevoll erworben. Große Revolutionäre wie Rosa Luxemburg und Leo Trotzki gewannen sie zur Gänze erst auf Grundlage der Erfahrung sowohl des Ersten Weltkriegs als auch der russischen Revolution. Im Fall von Luxemburg lässt sich sogar behaupten, dass sie mit ihrem Leben dafür bezahlte, diesen Sachverhalt nicht früher erkannt zu haben; für Trotzki bildete er die wesentliche Lehre des Erfolgs der Oktoberrevolution von 1917 und den Grund für das Scheitern der deutschen Revolution 1923. Er schrieb in seinem Band 1917: Die Lehren des Oktobers:

Ohne die Partei, unter Umgehung der Partei, durch ein Surrogat der Partei, kann die proletarische Revolution nie siegen. Das ist die Hauptlehre des letzten Jahrzehntes. [...] Die Erkenntnis, welche Rolle die Partei für die proletarische Revolution hat, haben wir zu teuer erkaufen müssen, um sie leichtfertig aufzugeben oder ihre Bedeutung auch nur abzuschwächen. [1]

Diese Ansicht hat mich geleitet, als ich dieses Buch geschrieben habe. Die Frage ist, ob die unzähligen Veränderungen und Entwicklungen der vergangenen Jahre diese Schlussfolgerung für heute widerlegt haben. In meinen Augen absolut nicht. Ungeachtet vorherrschender „Stimmungen“ oder Meinungen glaube ich, dass sie in den Kämpfen, die vor uns liegen, bestätigt wird. Angesichts der gewaltigen Krise, vor der die Menschheit steht, ist es unerlässlich, dass die schwierige Arbeit des Aufbaus revolutionärer Massenparteien fortgesetzt wird.

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Anmerkung

1. https://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1924/lehren/kap7.htm




Zuletzt aktualisiert am 21. Dezember 2022