John Molyneux

John Molyneux

Picasso, Modernismus und der Nichteuropäer

(22. August 2006)


Ursprünglich veröffentlicht: Socialist Worker, No. 1997, 22 April 2006.
Aus dem Englischen von Rosemarie Nünning
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


In Diskussionen über Rassismus und Multikulturalismus kommen immer schnell Fragen nach „Zivilisation“ und Entwicklung von „Kultur“ auf.

Les Demoiselles d’Avignon

Les Demoiselles d’Avignon

In Wirklichkeit entwickelte sich die Zivilisation – also das Leben in Städten, Lesen und Schreiben, Gesetze – zunächst in drei Gebieten, von denen keins in Europa liegt: im Fruchtbaren Halbmond des Nahen Ostens (von Irak bis nach Ägypten), in Nordwestindien und Südostchina.

Europa war dagegen im Mittelalter bedauernswert rückständig verglichen mit China oder der islamischen Zivilisation im Nahen Osten und Nordafrika.

Aber selbst jene, die diese entscheidenden historischen Tatsachen anerkennen, klammern sich nicht selten trotzdem an die Idee, dass „moderne Kultur“ und „Modernismus“ eine ausschließlich europäische (und deshalb „weiße“) Schöpfung seien.

Daneben gibt es Leute im antirassistischen Lager, die unterschiedliche Kulturen als gleichberechtigt oder „gleichwertig“ und doch getrennt und von Natur aus verbunden mit ethnischen Gruppierungen betrachten. Deshalb setzen sie sich für die Erhaltung unterschiedlicher Kulturen und ihrer Ursprünglichkeit ein und versuchen deren „Verunreinigung“ durch äußere Einflüsse zu verhindern (zum Beispiel, indem sie sich gegen gemischtethnische Adoptionen wenden).

Das Werk und der Werdegang des größten aller modernen Künstler, Pablo Picasso, stellen eine eindrucksvolle Widerlegung all dieser Ansichten über die Entwicklung der Kultur dar.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Picasso mit seinen Werken aus der „blauen“ und „rosa“ Periode bereits ein aufgehender Stern am Himmel der Kunstwelt. In diesen Bildern stellte er auf starke, wenn auch etwas sentimentale Weise hauptsächlich die Armen und die Marginalisierten, die an den Rand der Gesellschaft Gedrängten, dar.

Im Jahr 1907 malte Picasso dann Les Demoiselles d’Avignon (Die Fräulein von Avignon), fünf Prostituierte in einem spanischen Bordell, die sich ihren möglichen Freiern darbieten und den Betrachter vor der Leinwand offen anstarren.

Zu den vielen schockierenden Elementen der Darstellung gehörte unter anderem, dass zwei der Frauenköpfe afrikanischen Masken ähnelten, während die drei anderen Bildern alter iberischer Kultur entlehnt waren.

Der marxistische Kunstkritiker John Berger beschreibt die Fräulein von Avignon als „einen wütenden Frontalangriff gegen das Leben, so wie Picasso es vorfand“ – und die afrikanischen Maskenbilder gehören dazu. Wenn wir uns jedoch ansehen, wie sich Picassos Werk weiterentwickelt, entdecken wir, dass die Verwendung afrikanischer Kunststile noch eine tiefere Bedeutung hat.

In afrikanischer Kunst fand Picasso den Schlüssel, oder einen der Schlüssel, zu neuen Wegen des Sehens und der Darstellung der Welt sowie eine tiefgreifend neue Kunstkonzeption. Er brach so entschiedener als andere zuvor mit der vorherrschenden europäischen Kunsttradition (dieser Bruch hatte sich seit Jahrzehnten herausgebildet).

Seit dem I5. Jahrhundert – mit dem Einsetzen der Ära des Kapitalismus – wurde in der europäischen Malerei und Bildhauerei vor allem versucht, die Umwelt naturgetreu darzustellen. Es sollten mehr oder weniger getreue Abbilder von Dingen, Menschen und Szenen sein, besonders von Eigentum, Land und dem Erscheinungsbild der Reichen und Mächtigen.

Die afrikanischen Skulpturen, von denen Picasso sich beeinflussen ließ, gehörten zu einer vorkapitalistischen Gesellschaft, in der Kunst eine ganz andere Rolle spielte. Sie waren nicht geschaffen worden, um in Palästen oder Museen zur Schau gestellt zu werden, sondern für den Gebrauch im Alltagsleben, vor allem in Ritualen. Es ging nicht darum, einen gesellschaftlichen Status oder Eigentum naturalistisch nachzuahmen, sondern sie sollten Ausdruck einer „geistigen“ (emotional-psychologischen) Stärke oder Macht sein.

Das ist der Grund, warum diese Kunst zu einer so wertvollen Quelle für Künstler der Bohème, wozu auch Picasso gehörte, wurde, die gegen all die Traditionen der bürgerlichen und aristokratischen Kunstakademie aufbegehrten.

Wäre nur ein einziges modernistisches Werk von afrikanischer Kunst beeinflusst gewesen, könnte das als Zufall abgetan werden – so war es aber nicht.

Der afrikanische Einfluss auf Picasso und auf Braques Kubismus allgemein, und dann auf Picassos spätere Arbeit ist offensichtlich.

Gemälde wie die Drei Tänzer und sogar Guernica wären ohne den Durchbruch, den die Demoiselles darstellten, undenkbar gewesen.

Und es gab viele weitere Künstler, die ebenfalls unmittelbar von afrikanischer Kunst beeinflusst waren. Zu ihnen gehörten Matisse, André Derain und Maurice de Vlaminck; Constantin Brâncuși als Wegbereiter modernistischer Bildhauerei; die Expressionisten Paul Klee und Amedeo Modigliani und der Bildhauer Alberto Giacometti.

All diese waren Teil einer noch viel breiteren Strömung von Menschen, die sich nichteuropäischen vorkapitalistischen Inspirationsquellen zuwandten. Das reichte von der Begeisterung der Impressionisten und Vincent van Goghs für japanische Drucke, Paul Gauguins nicht nur spirituelle Auswanderung zunächst in die Bretagne und dann nach Tahiti, Henri Rousseaus „primitivistische“ Heraufbeschwörung von Dschungelszenen oder der Anregung, die Henry Moore aus Mayaskulpturen schöpfte, bis zu Jackson Pollock, der sich bei seinen Gemälden in „Träufeltechnik“ (Drip-Painting) von der Technik des Sandstreuens bei amerikanischen Ureinwohnern (den Navajos) beeinflussen ließ.

Zudem war diese Bewegung nicht auf die Bildende Kunst beschränkt, wie die Rolle von Blues und Jazz mit ihren afrikanischen Wurzeln in der modernen Musik bezeugt, oder Ezra Pounds Übersetzungen chinesischer Poesie oder D. H. Lawrences Reise nach Mexiko.

Politisch war diese allgemeine Strömung höchst zwiespältig. Sie konnte, wie im Fall von Picasso, eine linke Stoßrichtung haben und sogar eine Identifikation mit antiimperialistischen Kämpfen beinhalten.

Sie konnte aber auch mit kolonialistischen Vorstellungen vom „Exotischen“ verbunden sein oder sogar, wie bei Pound und Lawrence, mit faschistischen Ideen von „Rasse“ und „Blut“.

Und doch ging es in all diesen Fällen um die Suche nach Gegenmodellen zu den traditionellen europäischen Konventionen hinsichtlich Sprache, Rhythmus und visueller Darstellung. Diese flossen dann in die Auseinandersetzung mit den Kräften der Moderne ein – Elektrizität, Autos, Flugzeuge und die Rastlosigkeit der Stadt –, um etwas völlig Neues zu schaffen: die modernistische Kunst.

Das Beispiel Picassos und diese Phase insgesamt zeigen, dass Kulturen nicht in unbeweglichen und geschlossenen Räumen bestehen, sondern sich durch Beeinflussung von außen und dynamische Verschmelzung entwickeln.

Das galt schon für den Einfluss des alten Ägyptens auf die Griechen vor langer Zeit. Es gilt umso mehr für die heutige Ära von Imperialismus und Globalisierung.