Anton Pannekoek

 

Marxistische Theorie
und revolutionäre Taktik

2. Klasse und Masse

Wir hatten dem Genossen Kautsky vorgeworfen, bei seiner Untersuchung der Aktion der Masse habe er sein marxistisches Rüstzeug zu Hause gelassen, und die Fehlerhaftigkeit seiner Methode ergebe sich schon sofort daraus, dass er zu keinem bestimmten Resultat komme. Kautsky antwortet darauf:

„Mitnichten. Ich habe das Ergebnis meiner Untersuchung sehr bestimmt dahin formuliert, dass jene unorganisierte Masse, die ich untersuche, höchst unberechenbarer Natur sei.“ (S. 655)

Und er weist auf den Flugsand der Wüste hin, der auch unberechenbar ist. Mit allem Respekt vor diesem Beispiel müssen wir jedoch unsere Beweisführung aufrechthalten. Wenn man eine Erscheinung untersucht, und man kommt zu dem Ergebnis, dass sie bald so, bald anders stattfindet und völlig unberechenbar ist, so beweist das bloß, dass man die wirkliche Ursache, die sie beherrscht, nicht gefunden hat. Wenn einer zum Beispiel nach einer Betrachtung der Monderscheinungen das Ergebnis seiner Untersuchung „sehr bestimmt dahin formuliert“, dass der Mond bald im Nordosten, bald im Süden, bald im Westen steht, ganz regellos und unberechenbar, dann wird jeder mit Recht sagen, dass seine Untersuchung resultatlos geblieben ist – natürlich kann es sein, dass die hier wirkende Ursache überhaupt noch nicht auffindbar ist. Ein Vorwurf kann daraus nur erwachsen, wenn er die ihm bekannte Forschungsmethode, die hier allein Resultate geben kann, völlig außer acht gelassen hat.

So liegt die Sache mit Kautskys Behandlung der Aktion der Masse in der Geschichte. Er sieht, wie die Massen jedes Mal anders, bald reaktionär, bald revolutionär auftraten, bald aktiv, bald passiv waren, und er schließt, dass auf diesen unberechenbaren Flugsand nicht zu bauen ist. Was sagt uns aber die marxistische Theorie? Das gesellschaftliche Handeln der Menschen wird – von individuellen Abweichungen abgesehen, also für größere Massen – bestimmt durch ihre materielle Lage, ihre Interessen und die daraus entspringenden Anschauungen – wobei eine Korrektur für die Macht der Tradition vorzunehmen ist –, die für die verschiedenen Klassen verschieden sind. Will man also ihr Auftreten verstehen, so muss man die verschiedenen Klassen scharf auseinander halten; die Aktionen einer lumpenproletarischen, einer kleinbürgerlichen, einer bäuerlichen, einer modern-proletarischen Masse müssen durchaus verschieden sein. Indem Kautsky sie alle unterschiedslos zusammenwirft, konnte er natürlich zu keinem Resultat kommen; aber die sich aus der geschichtlichen Untersuchung ergebende Unberechenbarkeit hegt nicht im Untersuchungsobjekt, in der Masse, sondern in der mangelhaften Methode.

Für die heutige Masse gibt Kautsky einen anderen Grund an, weshalb er ihren Klassencharakter außer acht ließ: als Mischung vieler Klassen hat sie keinen bestimmten Klassencharakter:

„Auf S. 45 meines Artikels untersuchte ich, welche Elemente heute in Deutschland bei solchen Aktionen in Frage kommen könnten. Ich kam zu dem Resultat, dass dazu ohne Kinder und landwirtschaftliche Bevölkerung etwa 30 Millionen zu rechnen seien, wovon etwa ein Zehntel organisierte Arbeiter. Den Rest bilden unorganisierte Arbeiter, zum großen Teil noch mit Ideengängen der Bauernschaft, des Kleinbürgertums, des Lumpenproletariats infiziert, und endlich nicht wenige Mitglieder der letzten zwei Schichten selbst.

Auch jetzt, nach Pannekoeks Tadel, ist es mir noch nicht klar geworden, wieso ich in einer so bunt gemischten Masse einen einheitlichen Klassencharakter entdecken könnte. Das ‚marxistische Rüstzeug‘, das habe ich nicht etwa ‚zu Hause gelassen‘, sondern nie besessen. Genosse meint hier offenbar, das Wesen des Marxismus bestehe darin, überall, wo von Masse die Rede, darunter eine bestimmte Klasse zu verstehen, und zwar heute das industrielle, klassenbewusste Lohnproletariat.“ (S. 656)

Kautsky macht sich hier schlechter, als er ist. Um einen gelegentlichen Fehler zu verteidigen, verallgemeinert er ihn, und zwar mit Unrecht. Um in dieser „bunt gemischten Masse“ einen bestimmten Klassencharakter zu entdecken – er sagt „einheitlichen“, aber es ist klar, dass es sich nur um einen vorwiegenden Klassencharakter handelt, den Charakter der Klasse, die die Mehrheit bildet und deren Anschauungen und Interessen den Ausschlag geben, wie heute die des industriellen Proletariats –, habe er nie ein „marxistisches Rüstzeug“ besessen. Da irrt er sich aber. Denn diese selbe Masse, noch bunter gemischt durch das Hinzutreten der Landbevölkerung, tritt auch in der parlamentarischen Politik auf. Und da sehen wir – alle sozialdemokratischen Schriften gehen davon aus –, dass der Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat den Hauptinhalt dieser Politik bildet, dass die Anschauungen und Interessen der Lohnarbeiter diese ganze Politik beherrschen und als Anschauungen und Interessen des Volkes schlechtweg gelten. Was für die Massen in der parlamentarischen Politik gilt, soll auf einmal nicht mehr gelten, sobald sie zu Massenaktionen greifen?

Umgekehrt, in den Massenaktionen tritt der proletarische Klassencharakter noch stärker hervor. In der parlamentarischen Politik zählt das ganze Land mit, auch die entlegensten Dörfer und Kleinstädte; die Konzentration der Menschen spielt keine Rolle. In den Massenaktionen handelt es sich vor allem um Aktionen der dichtgedrängten, großstädtischen Massen. Und hier finden wir, dass nach der neuesten Reichsstatistik in den 42 deutschen Großstädten, nach Ausscheidung von 25 vom Hundert nicht gut bestimmbaren Berufslosen, die Bevölkerung sich in 15,8 vom Hundert Selbständige, 9,1 vom Hundert Angestellte und 75,0 vom Hundert Arbeiter gliedert. Wenn man dann dazu bedenkt, dass von der industriellen Arbeiterschaft in Deutschland 1907 15 vom Hundert in Kleinbetrieben, 29 vom Hundert in Mittelbetrieben, 56 vom Hundert in Groß- und Riesenbetrieben arbeiteten, dann wird klar, in wie hohem Maße schon der Charakter des großindustriellen Lohnarbeiters auf die für Massenaktionen in Betracht kommenden Massen seinen Stempel drückt. Wenn Kautsky hier nur eine bunt gemischte Masse sieht, so weil er erstens die Frauen der organisierten Arbeiter einfach der unorganisierten Masse von 27 Millionen zuzählt und zweitens den unorganisierten oder noch in bürgerlichen Traditionen befangenen Arbeitern den proletarischen Klassencharakter aberkennt. Deshalb weisen wir noch einmal daraufhin, dass im Fortschreiten dieser Aktionen, bei denen die tiefsten Interessen und Leidenschaften der Massen zum Durchbruch kommen, nicht die Angehörigkeit zur Organisation, nicht eine traditionelle Ideologie, sondern immer mehr der reale Klassencharakter den Ausschlag gibt.

Damit wird auch das Verhältnis unserer Methoden klar. Kautsky wirft mir vor, dass meine Methode „vereinfachter Marxismus“ sei; ich bestätige ihm nochmals, dass die seinige weder ein vereinfachter noch ein komplizierter, sondern gar kein Marxismus ist. Jede Wissenschaft, die ein Stück Wirklichkeit erforschen will, muss damit anfangen, die Hauptsachen, die Grundursachen in ihrer einfachsten Gestalt herauszufinden ; indem sie dann nachher immer weitere Einzelheiten, Nebenursachen und weiter abliegende Kräfte zur Korrektur des ersten Resultats hinzuzieht, wird das erste einfache Bild ergänzt, verbessert, weiter kompliziert und so der Wirklichkeit immer mehr angenähert. Nehmen wir das Beispiel der von Kautsky herangezogenen großen Französischen Revolution. In erster Annäherung ergibt sich hier ein Klassenkampf zwischen der Bourgeoisie und den feudalen Klassen; eine Darlegung dieser Hauptsache, deren allgemeine Richtigkeit nicht bestritten werden kann, wäre als „vereinfachter Marxismus“ zu bezeichnen.

Kautsky hat 1889 in seiner Broschüre die Gliederungen innerhalb jener Klassen untersucht und konnte dadurch das erste einfache Bild erheblich verbessern und vertiefen. Der Kautsky von 1912 würde jedoch sagen: In dieser bunt gemischten Masse, die der damalige dritte Stand darstellte, ist nichts Einheitliches zu entdecken; es ist vergebens, hier bestimmte Aktionen und Resultate zu erwarten. So hegt die Sache auch hier – nur um so viel schwieriger, da es sich um die Zukunft handelt, deren bestimmenden Kräften es in den heutigen Klassen nachzuspüren gilt. In einer ersten Annäherung, um einen ersten allgemeinen Einblick zu bekommen, kann es sich nur um die große Hauptsache der kapitalistischen Welt, um den Kampf der beiden Hauptklassen Bourgeoisie und Proletariat handeln; den Prozess der Revolution als eine Entwicklung ihrer Machtverhältnisse haben wir in kurzen Strichen zu zeichnen versucht. Natürlich wissen wir sehr gut, dass die Wirklichkeit sehr viel komplizierter ist und dass zu ihrer Erfassung noch viele Probleme zu lösen sind – teilweise werden wir da auf die Belehrung der Praxis warten müssen. Die Bourgeoisie ist so wenig eine einheitliche Klasse wie das Proletariat; in beiden wirken noch Traditionen nach; in der Volksmasse treten noch Lumpenproletarier, Kleinbürger, Angestellte auf, deren Handeln aus ihrer speziellen Klassenlage abzuleiten ist. Da sie aber nur Beimischungen bilden, die den lohnproletarischen Hauptcharakter der Masse nicht verwischen können, kann das alles nur als eine Korrektur gelten, die das erste Bild weiter ausbaut, ohne es unrichtig zu machen. Zur Bewältigung und Klärung dieser Fragen ist das Zusammenwirken vieler Kräfte in Gestalt einer Diskussion nötig. Brauchen wir zu sagen, dass wir da vor allem auf die Hilfe des Autors der Klassengegensätze von 1789 rechneten, der durch seine Kritik unserer Skizze auf die noch ausstehenden Probleme und Schwierigkeiten hinweisen könnte? Aber der Kautsky von 1912 erklärt sich außerstande, an dieser wichtigsten Frage für das kämpfende Proletariat, der Erkenntnis der Kräfte, die seinen kommenden revolutionären Kampf gestalten werden, mitzuarbeiten, denn er wisse nicht, wieso er „in einer so bunt gemischten Masse“ wie der heutigen proletarischen Masse einen „einheitlichen Klassencharakter“ entdecken könnte ...


Zuletzt aktualisiert am 30. Dezember 2019