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Nach G. W. Plechanow: Sozialismus und politischer Kampf, Frankfurt am Main 1980, S. 115–122.
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Die Gruppe „Befreiung der Arbeit“ setzt sich das Ziel, die sozialistischen Ideen in Russland zu propagieren und die Elemente zur Organisierung einer russischen sozialistischen Arbeiterpartei auszuarbeiten.
Das Wesen ihrer Auffassungen lässt sich in den folgenden wenigen Thesen zum Ausdruck bringen [1]:
Indem sie den Klassenkampf durch die Aufhebung der Klassen selbst beseitigt; indem sie den ökonomischen Kampf der Individuen unmöglich und unnötig macht durch die Beseitigung der Warenproduktion und der mit ihr verbundenen Konkurrenz; kurz, indem sie den Kampf ums Dasein zwischen Personen, Klassen und ganzen Gesellschaften beseitigt, macht sie alle die gesellschaftlichen Organe überflüssig, die sich in der jahrhundertelangen Periode dieses Kampfes als dessen Instrumente herausgebildet haben.
Ohne sich in utopische Phantasien hinsichtlich der gesellschaftlichen und internationalen Organisation der Zukunft einzulassen, kann man jetzt schon die Aufhebung des wichtigsten Organs des ständigen Kampfes im Innern der Gesellschaften voraussagen – des Staates nämlich, als einer politischen Organisation, die der Gesellschaft gegenübersteht und in der Hauptsache die Interessen ihrer herrschenden Teile wahrnimmt. Genauso kann man auch jetzt schon den internationalen Charakter der bevorstehenden ökonomischen Revolution voraussehen. Die gegenwärtige Entwicklung des internationalen Austauschs der Erzeugnisse macht die Teilnahme aller zivilisierten Gesellschaften an dieser Revolution notwendig.
Daher anerkennen die sozialistischen Parteien aller Länder den internationalen Charakter der heutigen Arbeiterbewegung und proklamieren die Prinzipien der internationalen Solidarität der Produzenten.
Die Gruppe „Befreiung der Arbeit“ anerkennt ebenso die großen Prinzipien der ehemaligen „Internationalen Arbeiterassoziation“ und die Identität der Interessen der Werktätigen der ganzen zivilisierten Welt.
Indem die sozialistische Revolution die Bewusstheit dort hinein trägt, wo heute blinde ökonomische Notwendigkeit herrscht, indem sie die jetzige Herrschaft des Produkts über den Produzenten ersetzt durch die Herrschaft des Produzenten über das Produkt, macht sie alle gesellschaftlichen Beziehungen einfach und vernünftig und gibt gleichzeitig jedem Bürger die reale Möglichkeit, unmittelbar an der Erörterung und Entscheidung aller gesellschaftlichen Angelegenheiten teilzunehmen.
Diese unmittelbare Teilnahme der Bürger an der Leistung aller gesellschaftlichen Angelegenheiten setzt die Beseitigung des jetzigen Systems der politischen Vertretung und seine Ersetzung durch die direkte Volksgesetzgebung voraus.
In ihrem gegenwärtigen Kampf müssen die Sozialisten diese unentbehrliche politische Reform im Auge haben und mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln ihre Verwirklichung anstreben.
Dies ist umso notwendiger, als die politische Selbsterziehung und die Herrschaft der Arbeiterklasse die unentbehrliche Vorbedingung ihrer ökonomischen Befreiung darstellt. Nur ein vollständig demokratischer Staat kann die ökonomische Umwälzung zu Ende führen, die den Interessen der Produzenten entspricht und die deren einsichtige Teilnahme an der Organisierung und Regulierung der Produktion erfordert.
In der heutigen Zeit macht sich die Arbeiterklasse der fortgeschrittenen Länder in ständig wachsendem Maße die Notwendigkeit der angegebenen sozialen und politischen Umwälzung klar und organisiert sich in einer besonderen, allen Parteien der Ausbeuter feindlichen Partei der Arbeit.
Auf den Grundsätzen der „Internationalen Arbeiterassoziation“s tehend, beabsichtigt diese Organisation jedoch vor allem die Eroberung der politischen Herrschaft durch die Arbeiter innerhalb des jeweiligen Staates. „Naturgemäß muss das Proletariat jedes Landes vor allem mit seiner eigenen Bourgeoisie Schluss machen“.
Dies trägt ein Element der Verschiedenartigkeit in die Programme der sozialistischen Parteien der verschiedenen Staaten, da jede von ihnen gezwungen ist, sich nach den gesellschaftlichen Bedingungen des eigenen Landes zu richten.
Es versteht sich von selbst, dass die praktischen Aufgaben und folglich auch die Programme der Sozialisten notwendigerweise einen originelleren und komplizierteren Charakter in den Ländern tragen, in denen die kapitalistische Produktion noch nicht herrschend geworden ist und wo die werktätigen Massen sich unter doppeltem Joch befinden – dem des sich entwickelnden Kapitalismus und dem der überlebten patriarchalischen Wirtschaft.
In diesen Ländern müssen die Sozialisten gleichzeitig die Arbeiterklasse für den Kampf gegen die Bourgeoisie organisieren und Krieg führen gegen die – für die Entwicklung der Arbeiterklasse ebenso wie für den Wohlstand des ganzen Volkes – schädlichen Überreste der alten vorbürgerlichen gesellschaftlichen Verhältnisse.
Die russischen Sozialisten befinden sich gerade in solch einer Situation. Die werktätige Bevölkerung Russlands trägt unmittelbar auf sich die ganze Last der riesigen Maschinerie des polizei-despotischen Staates und durchlebt zur selben Zeit alle Nöte, die der Epoche der kapitalistischen Akkumulation eigentümlich sind, und stellenweise – in unseren Industriezentren – erleidet sie schon den Druck der kapitalistischen Produktion, der weder durch einen einigermaßen entschiedenen staatlichen Eingriff noch durch die organisierte Gegenwirkung der Arbeiter selbst begrenzt ist. Das heutige Russland leidet – wie Marx einmal vom Westen des europäischen Kontinents sagte [A] – nicht nur unter der Entwicklung der kapitalistischen Produktion, sondern auch unter dem Mangel dieser Entwicklung.
Eine der nachteiligsten Folgen dieser rückständigen Lage der Produktion war und ist bis heute der unentwickelte Zustand der Mittelklasse, die bei uns nicht fähig ist, die Initiative des Kampfes gegen den Absolutismus zu ergreifen.
Die sozialistische Intelligenz musste sich daher an die Spitze der gegenwärtigen Befreiungsbewegung stellen, deren unmittelbare Aufgabe der Aufbau freier politischer Institutionen in unserem Vaterland sein muss, wobei die Sozialisten ihrerseits danach zu streben haben, der Arbeiterklasse die Möglichkeit einer aktiven und fruchtbaren Teilnahme am künftigen politischen Leben Russlands zu verschaffen.
Das erste Mittel zur Erreichung dieses Ziels muss die Agitation für eine demokratische Verfassung sein, welche gewährleistet:
Aber dieses Ziel wird unerreicht bleiben, die politische Eigeninitiative der Arbeiter wird undenkbar sein, wenn der Fall des Absolutismus diese in völlig unvorbereitetem und unorganisiertem Zustand vorfindet.
Daher hat die sozialistische Intelligenz die Verpflichtung, die Arbeiter zu organisieren und sie nach Kräften auf den Kampf vorzubereiten sowohl mit dem jetzigen Regierungssystem als auch all der: späteren bürgerlichen Parteien.
Sie muss unverzüglich die Organisierung der Arbeiter unserer Industriezentren – als der fortgeschrittensten Vertreter der gesamten werktätigen Bevölkerung Russlands – in miteinander in Verbindung stehenden geheimen Zirkeln in Angriff nehmen,.die ein genau bestimmtes soziales und politisches Programm haben, das den gegenwärtigen Bedürfnissen der gesamten russischen Produzentenklasse und den grundlegenden Aufgaben des Sozialismus entspricht.
In der Einsicht, dass die Einzelheiten eines solchen Programms erst in Zukunft und überdies nur von der Arbeiterklasse selbst, die zur Teilnahme am politischen Leben berufen und in einer besonderen Partei zusammen geschmiedet ist, ausgearbeitet werden können, glaubt die Gruppe „Befreiung der Arbeit“, dass die wichtigsten Punkte des ökonomischen Teils des Arbeiterprogramms folgende Forderungen sein müssen:
Die Gruppe „Befreiung der Arbeit“ ist der Überzeugung, dass nicht nur der Erfolg, sondern auch schon die Möglichkeit einer solchen zielbewussten Bewegung der russischen Arbeiterklasse in ungeheurem Maße von der oben bezeichneten Arbeit der Intelligenz in ihrer Mitte abhängt.
Jedoch glaubt die genannte Gruppe, dass sich vorher die Intelligenz auf den Standpunkt des wissenschaftlichen Sozialismus stellen muss und nur in dem Maße die Traditionen der Volkstümler bewahren kann, wie diese nicht dessen Lehrsätzen widersprechen.
In Anbetracht dessen setzt sich die Gruppe „Befreiung der Arbeit“ das Ziel, den modernen Sozialismus in Russland zu propagieren und die Arbeiterklasse auf eine bewusste soziale und politische Bewegung vorzubereiten; und diesem Ziel widmet sie alle ihre Kräfte und ruft unsere revolutionäre Jugend zur Hilfe und Mitwirkung auf.
Indem die Gruppe „Befreiung der Arbeit“ mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln dieses Ziel verfolgt, erkennt sie gleichzeitig die Notwendigkeit des terroristischen Kampfes gegen die absolute Regierung an und trennt sich von der Partei „Narodnaja Wolja“ lediglich in der Frage der sogenannten Machteroberung durch die revolutionäre Partei und in der Frage der Aufgaben der unmittelbaren Tätigkeit der Sozialisten inmitten der Arbeiterklasse.
Die Gruppe „Befreiung der Arbeit“ ignoriert keineswegs die Bauernschaft, die den gewaltigsten Teil der werktätigen Bevölkerung Russlands ausmacht. Sie glaubt aber, dass die Arbeit der Intelligenz, besonders unter den gegenwärtigen Bedingungen des sozialen und politischen Kampfes, sich zuerst auf die entwickeltere Schicht dieser Bevölkerung richten muss, wie sie die Industriearbeiter darstellen. Nachdem sie sich die kraftvolle Unterstützung seitens dieser Schicht gesichert hat, kann die sozialistische Intelligenz mit weit größerer Hoffnung auf Erfolg ihren Einfluss auch auf die Bauernschaft ausdehnen, besonders wenn es ihr zu dieser Zeit gelungen ist, die Freiheit der Agitation und der Propaganda zu erhalten. Es versteht sich übrigens von selbst, dass die Verteilung der Kräfte unserer Sozialisten wird verändert werden müssen, wenn sich in der Bauernschaft eine selbständige revolutionäre Bewegung zeigt, und dass auch in der Gegenwart Leute, die sich in unmittelbarem Kontakt mit der Bauernschaft befinden, durch ihre Tätigkeit in ihr der sozialistischen Bewegung in Russland einen bedeutenden Dienst erweisen könnten. Die Gruppe „Befreiung der Arbeit“ wird solche Leute nicht nur nicht von sich stoßen sondern alle Mühe aufwenden, siehst ihnen in den grundlegender. Thesen des Programms zu einigen.
1.. Das Programm, das wir den Genossen zur Beurteilung vorlegen, betrachten wir keineswegs als etwas völlig Abgeschlossenes, das keinen teilweisen Änderungen und Ergänzungen unterzogen werden kann. Im Gegenteil, wir sind bereit, jede Verbesserung in es aufzunehmen, wenn sie nur mit den Grundbegriffen des wissenschaftlichen Sozialismus vereinbart ist und den praktischen Folgerungen entspricht, die sich aus diesen Begriffen hinsichtlich der Tätigkeit der Sozialisten in Russland ergeben.
2.. Zu solchen Vergehen können zum Beispiel gerechnet werden Bestechungen bei Wahlen schreiende Unterdrückungen der eigenen Arbeiter durch den Unternehmer usw.
3.. Dieser Punkt ergibt sich logisch aus § 4, der unter anderem die volle Gewissensfreiheit fordert; wir halten es jedoch für nötig, ihn zu betonen, angesichts der Tatsache, dass heute bei uns ganze Bevölkerungsschichten existieren, wie zum Beispiel die Juden, die sich nicht einmal der jämmerlichen „Rechte“ erfreuen, die anderen „Untertanen“ zugestanden werden.