Georgi Plechanow


N.G. Tschernischewsky



II

Merkwürdig ist es, daß Tschernischewsky den historischen Gesichtspunkt, dem er in der politischen Oekonomie keinen Werth beilegte, auf dem Gebiete der literarischen Kritik für nothwendig hielt. In einem seiner frühesten Aufsätze, und zwar in dem über die Poetik des Aristoteles, rechnet er es der Aesthetik als ein großes Verdienst an, daß sie in Rußland nie der Literaturgeschichte im Wege stand. „Bei uns wurde immer die Nothwendigkeit der Literaturgeschichte aner-kannt; und die, welche sich besonders mit der ästhetischen Kritik abgaben, haben sehr viel mehr als irgend einer von unseren heutigen Schriftstellern – auch für die Literaturgeschichte geleistet. Bei uns erkannte die Aesthetik stets an, daß sie sich auf das exakte Studium von Thatsachen stützen muß.“ ... „Die Geschichte der Kunst ist die Grundlage für die Theorie der Kunst.“ [1] Man sollte nun meinen, daß ein Mann, der diese Sätze geschrieben hat und der sich selbst treu bleiben wollte, ohne jegliche Einschränkung anerkennen mußte, daß die Geschichte der ökonomischen Entwicklung der Menschheit die Grundlage für die ökonomische „Theorie“ sein muß. Wir haben aber bereits gesehen, daß er diese „Theorie“ anders auffaßte.

Die große Richtigkeit der Tschernischewsky’schen Auffassung der Theorie der Kunst erklärt sich erstens durch den wohlthätigen Einfluß seiner Vorgänger: nach der Aesthetik eines Hegel und nach den kritischen Arbeiten eines Bjelinsky wurde es schlechterdings unmöglich, den historischen Gesichtspunkt in der Theorie der Kunst zu ignorieren. Ueberdies konnte dieser Gesichtspunkt auf dem Gebiete der ästhetischen Theorie nur von den Anhängern der sogenannten „reinen Kunst“ bekämpft werden, d.h. von Leuten, die die „ewige“ Kunst außer allem Zusammenhang mit der Wirklichkeit und mit deren wichtigsten, brennendsten Fragen wissen möchten. Indem nun Tschernischewsky gegen diese Richtung kämpfte, mußte er natürlich zur historischen Auffassung der Kunst hinneigen, denn diese Auffassung bot die Möglichkeit die Aufgaben der Kunst mit den wichtigsten sozialen Bestrebungen einer gegebenen Zeit in Zusammenhang zu bringen. Schon Schelling sagte: „Verschiedenen Zeitaltern wird eine verschiedene Begeisterung zu Theil.“ [2] Bei der Fortentwicklung dieses Gedankens war es nicht schwer, die Anhänger der „reinen“ Kunst aufs Haupt zu schlagen. – Anders verhält es sich in der politischen Oekonomie. Da waren der lebendig verknöcherte Roscher und seine Konsorten Gegner der Tschernischewsky so theuren Bestrebungen der Arbeiterklasse. Und zwar waren sie die einzigen ihm bekannten Repräsentanten der historischen Auffassung in der politischen Oekonomie. Kein Wunder also, daß er im Kampfe gegen dieselben in das entgegengesetzte Extrem verfiel, – ein Extrem, dessen Unrichtigkeit ihm unter anderen Umständen nicht hätte entgehen können.

Uebrigens kann man nicht sagen, daß es unserem Verfasser gelungen ist, seine Auffassung der Geschichte der Kunst als der nothwendigen Grundlage der Theorie der Kunst folgerichtig zu entwickeln. Wir haben schon bemerkt, daß ein gewisses Prinzip blos anzuerkennen noch lange nicht bedeutet, es folgerichtig in dem betreffenden Zweig der Wissenschaft durchzuführen.. Tschernischewsky hatte eine prächtige Gelegenheit, die Theorie der Kunst mit der Geschichte derselben in Zusammenhang zu setzen, und zwar in seiner Dissertation Ueber das ästhetische Verhältniß der Kunst zur Wirklichkeit, die er zur Erlangung der Magisterwürde im Anfang des Jahres 1854 der philologischen Fakultät der Petersburger Universität vorlegte. Dieses Werk gehört zu den besten Schriften unseres Verfassers; deshalb spiegeln sich dort alle Vorzüge und Mängel seiner Anschauungen und seiner Denkweise außerordentlich deutlich wieder. Der materialistischen Grundlage seiner Anschauungen getreu, stellte er sich in seiner Dissertation die Aufgabe, den Idealismus aus der Aesthetik zu verbannen. Wir wollen einige der von ihm aufgestellten Thesen anführen, da sie vortrefflich gerade seine materialistische Kunstauffassung hervortreten lassen:

„Eine richtige Definition des Schönen ist folgende: das Schöne ist das Leben; nur jenes Wesen hält der Mensch für schön, in dem er das Leben, wie er es gerade auffaßt, wiedererblickt; schön erscheint ihm der Gegenstand, der ihn an das Leben erinnert.

Das Erhabene wirkt auf den Menschen keineswegs dadurch, daß es in ihm die Idee des Absoluten weckt; diese wird von ihm fast nie geweckt.

Erhaben ist für den Menschen das, was weit größer ist, als die Gegenstände, oder weit mächtiger ist, als die Erscheinungen, mit denen er es vergleicht.

Das Tragische hat keinen wesentlichen Zusammenhang mit der Idee des Schicksals oder der Nothwendigkeit. Im wirklichen Leben ist das Tragische meist zufällig, entspringt nicht dem Wesen der vorhergehenden Momente. Die Form der Nothwendigkeit, in welche es die Kunst kleidet, ist entweder eine Folge des banalen Prinzips aller Kunstschöpfungen: des Prinzips, wonach die aus der Verwicklung entspringen muß; – oder es ist eine übel angebrachte Unterwerfung des Dichters unter den Schicksalsbegriff.

Das Tragische ist, nach den Begriffen der neuen europäischen Bildung, das Furchtbare im Leben des Menschen.

Die Wirklichkeit ist nicht nur lebendiger, sondern auch vollkommener als die Phantasie. Die Gestalten der Phantasie sind nur kümmerliche und fast immer mißrathene Nachahmungen der Wirklichkeit.

Das Schöne in der objektiven Wirklichkeit ist vollkommen schön.

Das Schöne in der objektiven Wirklichkeit befriedigt den Menschen vollkommen.

Die Kunst entsteht durchaus nicht aus dem Bedürfniß der Menschen, die Mängel der Wirklichkeit zu ergänzen.

Das Bedürfniß, welches die Kunst im ästhetischen Sinne dieses Wortes (die schönen Kunste) erzeugt, ist dasselbe, das sich sehr deutlich in der Porträtmalerei kundgiebt ... Die Kunst erinnert uns durch ihre Schöpfungen an das, was uns im Leben interessirt, und sucht uns bis zu einem gewissen Grade mit solchen interessanten Seiten des Lebens bekannt zu machen, die zu erfahren oder zu beobachten wir in der Wirklichkeit keine Gelegenheit hatten.

Die Wiederspiegelung des Lebens – das ist das allgemeine charakteristische Merkmal der Kunst, ist deren Wesen; oft haben die Kunstwerke auch eine andere Bedeutung – sie erklären das Leben; oft haben sie auch die Bedeutung von Urtheilssprüchen über Erscheinungen des Lebens.“

Einigen von diesen Thesen kann man nur dann beistimmen, wenn man sie in einem weiteren Sinne auslegt. Eine derselben ist vollends durchaus unstichhaltig: man kann nämlich nicht sagen, daß „das Tragische nach den Begriffen der neuen europäischen Bildung das Furchtbare im Leben des Menschen“ sei. Zwar ist es vollkommen richtig, daß „das Tragische in keinem wesentlichen Zusammenhang zur Idee des Schicksals“ stehe, zweifellos aber ist dessen Zusammenhang mit der Idee des Nothwendigen. – Nicht alles Furchtbare im Leben eines Menschen ist tragisch. Furchtbar ist z.B. das Loos der Menschen, die unter den Mauern eines im Bau begriffenen Hauses begraben werden; tragisch kann es nur für diejenigen derselben sein, deren Leben gewisse Züge aufweist (hohe Pläne, weitgehende politische Bestrebungen), die ihrem zufälligen Tode durch einen Haufen Steine einen tragischen Charakter beilegen. Doch ist in unserem Beispiel das Tragische immerhin noch eng mit dem Zufälligen verknüpft, daher ist es noch nicht das Tragische im wahren Sinne dieses Wortes. Das wahrhaft Tragische beruht auf der Idee der historischen Nothwendigkeit. Wahrhaft tragisch ist das Loos der Gracchen, deren Pläne, ja, deren Leben an der Unfähigkeit der ärmsten Schicht der römischen Bevölkerung zur politischen Selbstthätigkeit scheiterten. Wahrhaft tragisch ist das Loos von Robespierre und St. Just, die an den verschiedenen um die Herrschaft ringenden Klassen der französischen Gesellschaft zu Grunde gingen. Ueberhaupt entsteht das wahrhaft Tragische aus dem Konflikt der bewußten Bestrebungen des Individuums, welches nothwendig beschränkt und mehr oder weniger einseitig ist, mit den wie Naturgesetze wirkenden, blinden Kräften der historischen Bewegung. Tschernischewsky beachtete nicht, noch konnte er diese Seite beachten, da er in seinem Kampfe gegen den Idealismus sich noch auf das Gebiet abstrakter philosophischer Sätze beschränkte. In diesem Kampfe verfiel er wiederum in das Extrem des Verstandesmäßigen und setzte einfach das Tragische dem Furchtbaren gleich. Und doch hätte er nur – sagen wir – die von Hegel an dem Beispiel der Sophokleischen Antigone gegebene Erklärung des Tragischen ins Auge fassen sollen, um einzusehen, daß man wohl von Nothwendigkeit sprechen kann, ohne Idealist zu sein. Hegel sieht nämlich in der Antigone den Konflikt zweier Rechte, – des Gentil- und des Staatsrechts. Die Vertreterin des ersten ist Antigone, der Vertreter des zweiten Kreon. Der Kampf zwischen diesen zwei Rechten spielte zweifellos eine große Rolle in der Geschichte, und man kann, ohne in den Geruch des Idealismus zu kommen, das Tragische aus einem solchen Kampf herleiten. Tschernischewsky sieht dies nicht ein, weil er in seiner Untersuchung die Geschichte vergessen zu haben scheint. Das ist um so bedauerlicher, als es ihm, wenn er sich rechtzeitig an sein Prinzip erinnert hätte: die Theorie der Kunst soll auf der Geschichte der Kunst beruhen, vielleicht gelungen wäre, eine ganz neue theoretische Grundlage für die Aesthetik zu liefern.

Indem er seine These beweist, daß das Schöne das Leben sei, macht er die sehr treffende Bemerkung, daß verschiedene Gesellschaftsklassen, je nach ihren ökonomischen Daseinsbedingungen, auch verschiedene Schönheitsideale haben. Die betreffenden Ausführungen sind so wichtig, daß wir sie fast vollständig wiedergeben wollen.

„Ein gutes Leben, ein Leben wie es sein soll, besteht nach der Meinung des gemeinen Volkes darin, daß man sich satt ißt, in einem guten Hause wohnt und nach Genüge schläft; beim Landmann ist aber auch der Begriff ‚Leben‘ mit dem Begriff ‚Arbeit‘ aufs Engste verknüpft; ohne Arbeit ist kein Leben denkbar, und ein solches wäre auch langweilig. Die Folge guter Lebensverhältnisse bei vieler, jedoch nicht erschöpfender Arbeit ist bei den Bauernburschen oder Bauernmädchen eine ungemein frische Gesichtsfarbe und rothe Wangen – die erste Bedingung der Schönheit nach Volksbegriffen. Wegen großer Arbeit auch stark gebaut, wird ein Bauernmädchen bei ausgiebiger Kost recht rund – auch ein nothwendiges Attribut einer ländlichen Schönen; eine aristokratische ‚ätherische Schönheit‘ scheint dem Bauer durchaus unansehnlich, macht sogar auf ihn einen unangenehmen Eindruck, weil er gewöhnt ist, die ‚Magerkeit‘ nur als die Folge der Krankhaftigkeit oder eines ‚bitteren Lebens‘ zu betrachten. Anderseits läßt aber die Arbeit das Fettwerden nicht zu: ist nun ein Bauernmädchen fett, so gilt das als eine Art Krankheit, als das Zeichen einer ‚schwammigen‘ Konstitution, und das Volk hält Fettleibigkeit für ein Gebrechen; eine ländliche Schöne kann keine kleinen Hände und Füße haben, da sie viel arbeitet – von diesem Zubehör der Schönheit singen denn auch die Volkslieder nicht. Mit einem Worte, in den Schilderungen der Schönen in den Volksliedern findet man kein einziges Attribut der Schönheit, das nicht der Ausdruck einer blühenden Gesundheit und eines Gleichgewichts der Kräfte im Organismus wäre, – der beständigen Folge eines behaglichen Lebens bei einer fortwährenden, ernsten, jedoch nicht übermäßigen Arbeit. Ganz anders verhält es sich mit einer Salon-Schönheit: schon mehrere Generationen ihrer Vorfahren lebten ohne körperliche Arbeit; bei einer müßigen Lebensweise ist aber der Blutzufluß zu den Extremitäten gering; mit jeder neuen Generation werden die Muskeln der Hände und der Füße schwächer, die Knochen werden dünner; die nothwendige Folge davon sind kleine Hände und Füße – das Zeichen eines Lebens, welches die höheren Klassen der Gesellschaft allein für Leben halten – eines Lebens ohne physische Arbeit; hat nun eine Weltdame große Hände und Füße, so gilt sie für schlecht gebaut, oder man nimmt an, sie stamme nicht von alter guter Familie ab ... Freilich kann die Gesundheit nie ihren Werth in den Augen des Menschen verlieren, weil auch im Wohlstand und Luxus ein Leben ohne Gesundheit traurig ist; daher sind Wangenröthe und eine von Gesundheit strotzende Frische auch für Salonmenschen noch immer anziehend; aber auch Krankhaftigkeit, Schwachheit, Schlaffheit, Mattheit haben in ihren Augen den Werth von Schönheit, sobald sie die Folge einer müßig-luxuriösen Lebensweise zu sein scheinen. Blässe, Mattheit, Krankhaftigkeit haben noch eine andere Bedeutung für diese Leute: sucht der Bauer Erholung, Ruhe, so suchen die Menschen der gebildeten Gesellschaft, welche keine materielle Noth und physische Müdigkeit kennen, welche aber durch Nichtsthun und durch die Abwesenheit materieller Sorgen oft gelangweilt werden, ‚starke Empfindungen, Aufregung und Leidenschaft‘ – Dinge, welche dem sonst eintönigen und farblosen Salonleben Farbe, Abwechslung und Reiz geben. Von heftigen Empfindungen, von glühenden Leidenschaften wird nun aber der Mensch bald verbraucht: wie soll man also nicht von der Mattigkeit, der Blässe einer Schönen entzückt sein, da ja ihre Mattigkeit und ihre Blässe Zeugen sind, daß sie viel ‚erlebt‘ hat?“ [3]

Die Schönheitsbegriffe der Menschen offenbaren sich in Kunstwerken. Diese Begriffe sind, wie wir sehen, bei verschiedenen Gesellschaftsklassen sehr verschieden, zuweilen sogar entgegengesetzt. Die Klasse, welche zur gegebenen Zeit in der Gesellschaft herrscht, herrscht auch in der Literatur und in der Kunst. Sie bringt in diesen ihre Anschauungen und Begriffe zum Ausdruck. Nun herrschen aber in einer sich entwickelnden Gesellschaft zu verschiedenen Zeiten verschiedene Klassen. Zudem hat auch jede Klasse ihre eigene Geschichte: sie entwickelt sich, kommt zur Blüthe und Herrschaft und neigt sich endlich ihrem Ende zu.

Dementsprechend wechseln auch ihre literarischen Anschauungen und ihre ästhetischen Begriffe. Daher die verschiedenen literarischen Anschauungen und die verschiedenen ästhetischen Begriffe in der Geschichte: die zu einer Epoche herrschenden Begriffe sind in einer anderen schon veraltet. Nun hat Tschernischewsky gezeigt, daß die ästhetischen Begriffe der Menschen in engem ursächlichen Zusammenhang zu ihrer ökonomischen Lebensstellung stehen. Das ist eine geniale Entdeckung im vollen Sinne des Wortes. Er brauchte also nur, die Wirkung des von ihm entdeckten Prinzips durch die ganze Geschichte der Menschheit in der Aufeinanderfolge der verschiedenen einander ablösenden herrschenden Klassen zu verfolgen, um durch die enge Verbindung der Theorie der Kunst mit der modernen materialistischen Geschichtsauffassung die größte Umwälzung in der Aesthetik hervorzurufen. Wir wissen aber, daß ihm selbst jene Geschichtsauffassung in hohem Masse fremd war. Daher konnte er auch nicht das so glänzend begonnene Werk vollenden; daher finden wir auch in seinem Aesthetischen Verhältniß der Kunst zur Wirklichkeit weit weniger wirklich materialistische Bemerkungen über die Geschichte der Kunst, als z.B. in der Aesthetik des „absoluten Idealisten“ Hegel. [4]

In Tschernischewsky’s Dissertatien treten, wie wir bereits gesagt haben, alle Mängel und Vorzüge seiner Denkweise besonders grell hervor.


Anmerkungen

1. Werke, 1. Band, S.3, 4

2. Ueber das Verhältniß der bildenden Künste zu der Natur.

3. Werke, 1. Band, S.44-46.

4. Siehe z.B. Hegel’s Ausführungen über die Geschichte der holländischen Malerei, welchen jeder der modernen dialektischen Materialisten nahezu unbedingt zustimmen kann (Aesthetik, I, S.217, 218; II, S.217-223). Viele solcher Bemerkungen sind in seiner Aesthetik verstreut.


Zuletzt aktualiziert am 9.8.2008