Georgi Plechanow


N.G. Tschernischewsky



V

Wenn Tschernischewsky bei all seiner heißen Liebe für das Volk dessen Mängel mit nüchternen Augen zu sehen vermochte, so kann man sich schon vorstellen, wie er den Adel und die damals ziemlich stark polternde liberale Partei beurthei-len mußte. Da kannte er keine Schonung. Wir haben bereits Wolgin’s Urtheil über die Liberalen Rjasanzew und Genossen angeführt. Solcher Urtheile findet man im Prolog zum Prolog die schwere Menge. Ueberhaupt benutzte er jede Gelegenheit, um die russischen Liberalen in seinen Artikeln zu verspotten und öffentlich zu erklären, daß weder er, noch die ganze extreme Partei mit ihnen etwas gemein hätten. Feigheit, Kurzsichtigkeit, Bornirtheit, Unthätigkeit, schwatzhafte Prahlerei – dies die hervorstechendsten Eigenschaften, die er in den damaligen Liberalen sah. Das ist beinahe buchstäblich die Charakteristik, die er in seinem, im Athenäum von 1858 erschienenen Artikel Ein Russe beim Stelldichein gab. Dieser Artikel bespricht Turgenjew’s Novelle Assja; da aber Assja im Sowremennik erschienen war, so hielt es Tschernischewsky für unpassend, darüber in seiner Zeitschrift zu schreiben. Von der Novelle selbst wird im Artikel sehr wenig, besser gesagt, beinahe gar nicht gesprochen. Tschernischewsky greift nur die Szene der Liebeserklärung zwischen dem Helden der Novelle und Assja heraus, und macht dazu seine Bemerkungen. In dieser Szene handelt es sich darum, daß der Turgenjew’sche Held im entscheidenden Augenblicke auf einmal das Hasenpanier ergreift. Dieser Umstand nun bringt den Kritiker auf seine Reflexionen. Er bemerkt, daß Unentschlossenheit und Feigheit die bezeichnenden Eigenschaften nicht nur dieses Helden sind, sondern der meisten Helden der besten russischen belletristischen Werke. Nicht die Belletristen macht er dafür verantwortlich, da sie ja nur das aufzeichneten, was im wirklichen Leben ihnen auf Schritt und Tritt begegnete. Muth fehlt den russischen Männern, und daher fehlt er auch den Helden der belletristischen Werke. Die Russen sind aber deswegen nicht muthig, weil sie nicht gewöhnt sind, an öffentlichen Angelegenheiten theilzunehmen. „Wenn wir in eine Gesellschaft kommen, so sehen wir um uns Menschen in Uniform, oder im Rock, oder im Frack; einige von ihnen sind fünfeinhalb oder sechs Fuß hoch, andere noch höher; sie lassen die Haare wachsen, oder sie rasiren sich die Backen, die Oberlippe und das Kinn; und wir glauben Männer vor uns zu sehen. Das ist aber ein vollkommener Irrthum, eine optische Täuschung, eine Halluzination, nichts weiter. Unbekannt mit der Gewohnheit, an öffentlichen Angelegenheiten theilzunehmen, unvertraut mit den Gefühlen eines Bürgers, wächst ein Kind männlichen Geschlechts nur zu einem Wesen männlichen Geschlechts heran; es erreicht das mittlere Lebensalter, wird später ein Greis, aber ein Mann wird es nie, oder wenigstens wird es nie ein Mann von edlem Charakter. Bei entwickelten, gebildeten und liberalen Menschen fällt der Mangel an edlem Muth noch mehr in die Augen, als bei ungebildeten, da ein entwickelter und liberaler Mensch sich sehr gerne über „hohe Dinge“ unterhält. Er spricht mit Begeisterung und beredt, aber nur so lange, als es sich nicht darum handelt, von den Worten zu Thaten zu schreiten. So lange es sich nicht um Thaten handelt, so lange es nur gilt, die müßige Zeit, den müßigen Kopf oder das müßige Herz durch Gespräche und Träumereien auszufüllen, ist unser Held gleich bei der Hand; wenn es aber darauf ankommt, offen und klar seine Gefühle zum Ausdruck zu bringen, da fangen bereits die meisten Helden zu wanken an, und empfinden so eine Art Schwere in der Zunge. Nur Wenigen, und das sind die Tapfersten, gelingt es noch halb und halb, ihre Kräfte zusammenzufassen und mit stotternder Zunge etwas auszusprechen, was einen dunkeln Begriff von ihren Gedanken giebt. Aber versuche es gar Jemand, ihre Wünsche ernst zu nehmen, und sage zu ihnen: Ihr wollt also das und das; das macht uns viel Freude; fangt also nur an zu wirken und wir werden Euch schon unterstützen; – nach einer solchen Replik wird die eine Hälfte der Helden ohnmächtig zusammenbrechen, die anderen werden Euch sehr grob vorwerfen, daß Ihr sie in eine unangenehme Lage gebracht hättet, und davon sprechen, daß sie von Euch solche Vorschläge nicht erwartet hätten, daß sie ganz überrascht seien und Euch nicht begreifen könnten, denn wie könne man so vorschnell sein; und dabei seien sie ja ehrliche Leute, und nicht nur ehrlich, sondern auch sehr ruhig, und möchten Euch keinen Unannehmlichkeiten aussetzen, und überhaupt könne man denn wirklich alles das ernst nehmen, was so in einer müßigen Stunde gesprochen werde? Das beste sei – gar nichts anzufangen, da ja alles mit Mühe und Unzuträglichkeiten verbunden sei und vorläufig nichts Gutes daraus werden könne“ u.s.w. u.s.w.

Der Objektivität halber muß jedoch hinzugesetzt werden, daß unser Verfasser nicht allein die russischen Liberalen so verächtlich behandelte. In seinen vorzüglichen politischen Uebersichten, die er für den Sowremennik bis zu seiner Verhaftung schrieb, gab er der schonungslosesten Verachtung für alle europäischen Liberalen überhaupt Ausdruck. Die meisten Hiebe bekamen die österreichischen (d.h. die deutsch-liberale Partei in Oesterreich), die preußischen und die italienischen Liberalen. In seinen Abhandlungen über die französische Geschichte bekundet er auch keine große Achtung für die liberale Partei. Alles das konnte natürlich den Repräsentanten des russischen Liberalismus nicht gefallen und in ihrem Kampfe gegen ihn griffen sie zu dem Manöver, zu welchem die Liberalen aller Länder so oft ihre Zuflucht Männern gegenüber genommen haben, die in der Politik über sie selbst hinausgingen: sie warfen ihm vor, daß er die Freiheit nicht liebe, ja daß er zum Despotismus neige. Natürlich konnten solche Vorwürfe der Liberalen unseren Tschernischewsky nur zum Lachen reizen. Er fürchtete sie so wenig, daß er zuweilen seine Gegner gleichsam zu neuen Vorwürfen herauszufordern suchte, indem er die Richtigkeit ihrer früheren Vorwürfe scheinbar zugestand. „Nichts ergötzt uns so sehr, wie der Liberalismus“ – schreibt er in einer seiner letzten politischen Uebersichten – „es kitzelt uns förmlich, ein paar Liberale aufzufischen, um uns über sie sattlachen zu können.“ [1] Und nun beginnt er über die preußischen Liberalen zu spotten, die, wie er sich treffend ausdrückt, sich darüber ärgerten, daß die politische Freiheit in Preußen „sich nicht von selbst einführt“. [2] Aber solche „Ergötzungen“ hinderten den aufmerksamen Leser nicht daran, zu begreifen, daß Tschernischewsky’s Verachtung für die Liberalen nicht durch Mangel an Liebe zur Freiheit hervorgerufen sei. Man brauchte nur einige von seinen politischen Uebersichten zu lesen, um zu sehen, wie heiß er mit allen Freiheitsbewegungen sympathisirte, wo immer sie auch ausbrachen, sei es in Frankreich oder in Italien, in Amerika oder in Ungarn. Er glaubte nur, daß die Liberalen bei derartigen Bewegungen gewöhnlich eine recht unschöne Rolle spielten. Sie selbst thun sehr wenig, ja sie hemmen sogar oft die Anstrengungen Anderer, indem sie kühnere und entschlossenere Männer, als sie selbst sind, bekämpfen. Später aber, wenn dank diesen entschlossenen Männern der Kampf zu Ende geht und der Sieg als zweifellos erscheint, da suchen die Liberalen sich in den Vordergrund zu drängen, um die Kastanien zu genießen, die die „Fanatiker“ aus dem Feuer geholt haben. Wer weiß es nicht, daß diese Leute in der Politik dieselben Ausbeuter sind, wie in der Oekonomie, wo sie gewöhnlich zu der Klasse der Geschäftsleute und Unternehmer gehören? Eben dieser ausbeuterischen Neigungen wegen verabscheute sie Tschernischewsky. Und dieser Haß gegen die Ausbeuter ist es auch, den jede Zeile seiner politischen Uebersichten athmet. Wir unsererseits beklagen nicht, daß er sich in dieser Hinsicht klar und bestimmt ausgesprochen hat, sondern vielmehr nur, daß nach ihm keiner unter den politischen Rundschauschreibern Rußlands desgleichen that. Die politischen Begriffe der tonangebenden russischen Journalistik sind überhaupt in den letzten fünfundzwanzig Jahren ungemein verworren und seicht geworden. Daher gab es auch später in keiner einzigen russischen periodischen Zeitschrift so ausgezeichnete politische Uebersichten, wie sie Tschernischewsky für den Sowremennik schrieb. In diesen Uebersichten offenbart sich mit besonderer Kraft sein hervorragender Geist und seine nüchterne Auffassung der Dinge. In ihnen weicht er fast niemals von dem unumstößlichen Grundsatze ab, daß „der Gang der Geschichte von den realen Machtverhältnissen bestimmt wird“, [3] und davon ausgehend analysirt er genau die inneren Triebfedern des damaligen politischen Lebens der zivilisirten Länder. Nur Eins ist an seinen Uebersichten auszusetzen. Er hat die hervorragende politische Rolle nicht vorausgesehen, welche die Arbeiterklasse aller fortgeschrittenen Länder in sehr naher Zukunft (seit der Begründung der In-ternationale im Jahre 1864) übernehmen sollte. Dieser Revolutionär aus Prinzip, der behauptete, daß alle wichtigen Streitpunkte innerhalb jedes Staates, ebenso wie zwischen verschiedenen Staaten, schließlich durch den Krieg zum Austrag gebracht würden, [4] sah noch nicht, wie sehr alle revolutionären Kräfte in den modernen zivilisirten Gemeinwesen einzig in der Arbeiterklasse sich konzentriren. Er war immer noch zu geneigt, übertriebene Hoffnungen auf die „besten Männer“ aus den anderen Gesellschaftsklassen zu setzen. Da wurde sein gewohnter Scharfblick durch die Verwechslung des Proletariats mit dem „gemeinen Volk“ getrübt.

Zu bemerken ist noch, daß die reaktionäre Partei von Tschernischewsky fast ebenso sehr verachtet wurde, wie die liberale Partei. Mit den russischen „Aristokraten“ stand er in keinem unmittelbaren Verkehr. „Er verkehrte nie selbst auch nur in den niederen Salonkreisen, von den höheren, vornehmen schon gar nicht zu sprechen. Aber welche Stadt, welches Städtchen war denn nicht voll von dem Ruhm ihrer Thaten? Er kannte sie von Kindheit auf als freche Krakehler“, – so spricht Tschernischewsky im Prolog zum Prolog von Wolgin, d.h. von sich selbst. Zur Zeit der Bauernreform stand Alles, was jene Leute für ihre wichtigsten Interessen hielten, auf dem Spiel. Sie frondirten und schrieen laut: „Wir werden es nicht erlauben, es nicht zulassen! Wollen wir nicht, so wird man es nicht wagen! – Möge man es nur wagen – und man wird erfahren, was es heißt, den russischen Adel aufzubringen!“ Kaum hatte aber die Regierung sie angeschrieen, da wagten sie nicht mehr zu mucksen, „sie wurden so ruhig, als wären sie vom Schlage gerührt“. „Als einem Demokraten“ erschien Tschernischewsky diese Metamorphose zugleich lächerlich und angenehm. „Er liebte den Adel nicht, es gab aber Momente, da er gegen denselben keine Feindschaft hegte. Kann man denn elende Sklaven hassen?“ [5]


Anmerkungen

1. Sowremennik, 1862, März. Politik, S.188.

2. Sowremennik, 1862, April. Politik, S.357.

3. Der Leser dürfte sich dabei erinnern, daß Lassalle in seiner Rede Ueber das Verfassungswesen fast mit denselben Worten von den Machtverhältnissen spricht, als der wesentlichtsten Grundlage der politischen Verfassung jedes gegebenen Landes.

4. A.a.O., S.364.

5. Prolog zum Prolog, S.208, 209.


Zuletzt aktualiziert am 9.8.2008