Georgi Plechanow


N.G. Tschernischewsky



VII

Der Sowremennik für 1861 ist besonders reich an Tschernischewsky’s polemischen Artikeln. In dieses Jahr fallen seine berühmten Polemischen Schönheiten, Nationale Taktlosigkeit (gegen das Lemberger Blatt Slowo – „Das Wort“ – gerichtet), Nationaler Unsinn (gegen den Aksakow’schen Djen – „Der Tag“) – und viele polemische Notizen in der Abtheilung für russische und ausländische Literatur. Bei einigen dieser polemischen Aufsätze müssen wir etwas verweilen.

Von den Polemischen Schönheiten werden wir nicht viel sprechen. Es ist dies eine Antwort auf die Angriffe des Russky Wjestnik („Der russische Bote“) und der Otetschestwennyja Sapiski („Vaterländische Annalen“). Für einen russischen Literaturhistoriker wird es natürlich sehr interessant sein zu lesen, mit welchen Beweisgründen die Feinde des Sowremennnik auftraten; für Tschernischewsky’s Charakteristik aber ist es unnöthig, ausführlich zu berichten, was für wunderliche und oft ganz unsinnige Vorwürfe ihm Katkow und die übrigen Gegner machten. – In einem gegen die Russky Wjestnik gerichteten Aufsatze äußert sich u.A. unser Autor in sehr interessanter Weise über seine eigene literarische Thätigkeit. Das wollen wir hier anführen. Tschernischewsky weiß ganz gut, daß er in der russischen Literatur einen hervorragenden Platz gewonnen hat. Er wird von seinen Gegnern gefürchtet, und diese machen ihm sogar zuweilen Komplimente. Er aber freut sich nicht im mindesten über seine immer wachsende Berühmtheit. Er stellt die russische Literatur zu niedrig, um einen hervorragenden Platz in derselben als ehrenvoll zu betrachten. Er ist „ganz todt für seinen literarischen Ruf“. Nur eine Frage interessirt ihn: wird er die Frische der Gedanken und der Gefühle bis zu jener besseren Zeit bewahren können, wo die russische Literatur wirklich der Gesellschaft nützlich sein wird? „Ich weiß, daß bessere Zeiten für die literarische Thätigkeit kommen werden, wo sie der Gesellschaft einen wirklichen Nutzen bringen wird, und wo jeder, der Kräfte besitzt, seinen guten Namen wirklich verdienen wird. Und da denke ich: werde ich noch bis dahin die Fähigkeit bewahren, der Gesellschaft, wie es sich gehört, zu dienen? Dazu ist eine Frische der Kräfte, eine Frische der Ueberzeugung erforderlich. Ich sehe aber, daß ich schon zur Zahl der „angesehenen“ Schriftsteller gerechnet werde, d.h. zu den abgelebten, hinter der Bewegung der gesellschaftlichen Forderungen zurückgebliebenen Schriftstellern. Das Alter tritt in seine Rechte; zweimal ist man nicht jung. Ich kann nur die beneiden, die jünger und muthiger sind als ich ...“ Wehmüthig berühren uns jetzt diese edlen Befürchtungen, uns, die wir wissen, daß, als Tschernischewsky dieses schrieb, er nur noch ein Jahr in der Freiheit leben sollte. Die angeführten Zeilen erschienen im Juni-Heft des Sowremennik für 1861, und im Juli des nächsten Jahres saß er schon in der Peter-Pauls-Festung ... Aber man kann sich denken, mit was für einer Verachtung der Mann seinen Feinden begegnete, der im vollen Bewußtsein seiner ungeheuren Ueberlegenheit nicht einmal seinen eigenen literarischen Verdiensten irgend einen Werth beilegte. Und in der That, fast aus jeder Seite der Polemischen Schönheiten athmet eine kalte Verachtung für die Tadler des Sowremennik. Insbesondere gilt dies von seiner Antwort auf die Angriffe der Otetsch. Sapiski. Seinen Gegnern in dieser Zeitschrift ist er gar nicht böse. Er belehrt sie fast freundlich, wie ein gutmüthiger Pädagog einen Schüler, der ein Versehen begangen hat. Allerdings sagt der gute Pädagog seinem Zöglinge, indem er ihn rügt, oft sehr bittere Wahrheiten und verbirgt nicht im mindesten seine geistige Ueberlegenheit über ihn. Er thut dies aber blos im Interesse seines Zöglings. So verfährt auch Tschernischewsky. Er vergißt keinen einzigen Irrthum, kein einziges Versehen jener Zeitschrift und rügt dafür in väterlicher Weise die Redaktion. Am meisten ärgert ihn die unvorsichtige Hitze, mit welcher sie sich in den Kampf gegen ihn gestürzt hat. Wie konntet ihr doch nur auf den Gedanken kommen, mit mir polemisiren zu wollen, – ruft er ihnen wiederholt zu, nachdem er ihnen die vollkommene Unhaltbarkeit dieser oder jener gegen ihn erhobenen Anschuldungen nachgewiesen hat. Gelegentlich sagt er ihnen offen heraus, daß er mehr als sie weiß, und die Dinge tiefer als sie versteht; daß sie einfach nicht im Stande sind, die von ihm in die Literatur eingeführten neuen Ideen zu würdigen. „Sie möchten wissen, wie groß meine Kenntnisse sind?“ wendet er sich an den Redakteur jener Zeitschrift, der ihn nach dem Vorgang seiner Genossen einer frechen Ignoranz beschuldigte, – „darauf kann ich nur das Eine antworten: sie sind unvergleichlich größer als die Ihrigen. Und das wissen Sie ja selbst. Warum ließen Sie es also auf eine solche öffentliche Antwort ankommen? Unüberlegt, ja unüberlegt haben Sie gehandelt. Aber, bitte, sehen Sie es nicht für Stolz an: man kann wahrlich kaum darauf stolz sein, daß man mehr weiß als Sie! Und nehmen Sie doch ja nicht an, als ob ich zu Ihnen sagen wollte, Sie hätten zu wenig Kenntnisse. Nein, ein wenig wissen Sie schon, und Sie sind überhaupt ein gebildeter Mann. Warum aber polemisiren Sie so schlecht?“ u.s.w. Dies wäre vielleicht zu scharf, wenn es nicht unbedingt wahr wäre.

Tschernischewsky schont jetzt auch nicht die Slavophilen, von welchen er früher mit großer Achtung sprach, weil sie die Landgemeinde vertheidigten und ihm überhaupt aufrichtige „Freunde der Aufklärung“ schienen. Die Tendenzen der Slavophilen traten gegen Anfang der sechziger Jahre so klar zu Tage, daß sie jetzt eher den Namen von Obskuranten verdienten. Allerdings vertheidigten sie nach wie vor die Landgemeinde und den bäuerlichen Grundbesitz. Aber Tschernischewsky legte jetzt keinen Werth mehr darauf. Und dazu fand man in der damaligen slavophilen Literatur, außer der Vertheidigung der genannten Prinzipien, nichts als alberne Ausfälle gegen den verfaulenden und heimtückischen Westen und widrige Lobpreisungen der Orthodoxie, der Autokratie und sonstiger Herrlichkeiten der urwüchsigen russischen „Wirklichkeit“. Und nun entschließt sich Tschernischewsky, ihnen eine Lektion zu ertheilen. Gelegenheit dazu gab das Erscheinen des Djen, einer Zeitung von I. Aksakow, deren erste Nummern einige Ausfälle gegen den Sowremennik enthielten. Tschernischewsky antwortete darauf mit seinem Artikel Nationaler Unsinn. Die Grobheit des Titels erklärt er dadurch, daß er sich, überzeugt von slavophilen Beweisgründen, entschieden habe, alle Fremdwörter zu vermeiden, welche, ohne das Wesen der Bezeichnung zu verändern, dieser eine höflichere Form geben könnten.

Tschernischewsky war immer ein begeisterter „Sapadnik“ (Anhänger des Westens). Und wenn seine Sympathien für die Landgemeinde ihn auf einige Zeit und bis zu einem gewissen Grade den Slavophilen näherten, so erkannte er nichtsdestoweniger immer die Absurdität ihres Geredes von der Verwesung des Westens und von der Regeneration der Menschheit mittelst byzantinischer Traditionen. Schon in den Umrissen der Gogol’schen Periode äußerte er sich darüber, wenn auch in milder, aber doch sehr entschiedener Weise. Die Quelle für die Meinung der slavophilen Schriftsteller von der Verwesung des Westens und von dem Bankerott seiner Philosophie erblickte er in dem Umstand, daß die Besten unter ihnen weder mit der wirklichen Lage der Dinge in Westeuropa, noch mit der Richtung der leitenden westeuropäischen Ideen bekannt waren. Für ihn ist der Westen kein siecher Greis; im Gegentheil, er ist ein Jüngling, und zwar ein kräftiger und frischer Jüngling, „welcher (durch den Mund seiner ersten Denker) spricht: etwas weiß ich schon, aber sehr Vieles habe ich noch zu erlernen, ich dürste nach noch größeren Kenntnissen und studire ziemlich erfolgreich ... Ich muß noch viel arbeiten, um mir ein gesichertes, behagliches Dasein zu sichern; aber zur Arbeit bin ich immer bereit, Kräfte besitze ich genug – verzweifelt ja nur nicht an meiner Zukunft.“ [1] In der Frage über die Zukunft Westeuropas wich Tschernischewsky nicht nur von den Slavophilen ab – was sich von selbst versteht –, sondern sogar auch von Herzen, an dem die Beziehungen zu dem Moskauer slavophilen Kreise der vierziger Jahre nicht spurlos vorübergegangen waren, und der öfters die Befürchtung aussprach, daß der Westen, nachdem er sich bis zum Sozialismus vorwärts gedacht hatte, nicht mehr im Stande sein werde, sein Programm zu verwirklichen, wie das alte Rom nicht im Stande gewesen sei, die Forderungen des Christentums zu verwirklichen. Angesichts dieses angeblichen Bankerottes des Westens erschien nun selbstverständlich Rußland als das gelobte Land des Sozialismus, das berufen war, die greisenhaft gewordene Menschheit zu verjüngen. [2] Gerade gegen diese Anschauung Herzen’s war höchst wahrscheinlich der oben erwähnte Aufsatz Tschernischewsky’s Ueber die Ursachen von Roms Untergang gerichtet. In diesem Aufsatz sagt er gerade heraus, es sei nicht der Mühe werth mit solchen „Sonderlingen“ wie die Slavophilen über die Schicksale des Westens zu streiten, und er schreibe vielmehr für andere Menschen, die noch ihren menschlichen Verstand besitzen. Diese verständigen Menschen sind es denn auch, denen er zu beweisen sucht, daß Westeuropa keineswegs seine Kräfte erschöpfen konnte, da bis zur allerneuesten Zeit seine historischen Schicksale durch die Thätigkeit eines einzigen Standes bestimmt wurden: nämlich der Aristokratie. Sogar der Mittelstand wurde erst in einer uns sehr naheliegenden Epoche auf dem europäischen Kontingent der herrschende. Hinter dem Mittelstande aber steht noch das niedere Volk, welches bis jetzt noch keinen direkten Einfluß auf die Schicksale Europas ausgeübt hat. Welchen Grund hat man zu glauben, fragt nun Tschernischewsky, daß dieser neue Stand, nachdem einmal an ihn die Reihe gekommen ist, die historische Bühne zu betreten, nicht im Stand sein werde, die sozialen Fragen zu lösen, welche die höheren Stände nicht zu lösen vermochten? Ein solcher Glaube ist durchaus unbegründet, und folglich auch die Befürchtung für das Schicksal des Westens. Eine neue Invasion der Barbaren aber zu befürchten, ist einfach lächerlich bei der ungeheuren Ueberlegenheit der Kräfte der zivilisirten Welt. Was endlich Rußland anbelangt und dessen vermeintlichen Beruf, die Menschheit zu verjüngen, so deckt Tschernischewsky schonungslos das Unhaltbare einer derartigen patriotischen Selbsttäuschung auf. Nur der ländliche Gemeindebesitz erscheint ihm als eine sympathische Eigenthümlichkeit des russischen sozialen Lebens. Aber auch diese findet keine Schonung vor seiner Kritik. Die Landgemeinde könnte wohl, meint er, der weiteren Entwicklung Rußlands einen gewissen Nutzen bringen; aber auf sie stolz sein könne man doch nicht, da sie ja ein Zeichen der ökonomischen Zurückgebliebenheit sei. Die Landgemeinde werde vielleicht den Prozeß der Entwicklung Rußlands erleichtern; den wichtigsten Anstoß aber werde doch der Westen geben, und es sei nicht unser Beruf, die Menschheit zu verjüngen – nicht einmal durch die Landgemeinde.

Und doch verkündeten die „Sonderlinge“ von Slavophilen nicht nur laut die Verjüngung Europas durch den russich-byzantinischen Geist, – sie stellten auch ein praktisches Programm für eine derartige Verjüngung auf. Nach dem I. Aksakow’schen Djen sollte Rußland damit beginnen, die Slaven mit „der Gabe eines selbständigen Daseins unter dem Schatten der Fittige des russischen Adlers“ zu beglücken. Tschernischewsky weist nun nach, daß solche Ideen weiter nichts sind, als ein Produkt des „nationalen Unsinns“. Erstens, will es ihm scheinen, habe der mächtige russische Adler bei sich zu Hause sehr viel russische Geschäfte zu erledigen, die er über keiner Verjüngung vergessen soll. „Wenn Ihr einen Krieg wünscht“, schreibt er, „so überlegt doch zuerst, ob unsere Verhältnisse an einen Krieg denken lassen können.“ Zweitens, meint er, würde eine kriegerische Einmischung Rußlands alle westeuropäischen Mächte gegen die Befreiung der Slaven einnehmen: „In der europäischen Türkei giebt es ja nur zwei Millionen Türken, dagegen sieben bis acht Millionen Slaven. Könnten diese denn nicht allein mit den Türken fertig werden? ... Sie müssen nur die Zuversicht haben, von anderen Mächten in ihrer Befreiung nicht gehemmt zu werden.“ Wenn nun die Slavophilen wirklich das Wohl der türkischen Slaven im Auge hätten, so würden sie die Westmächte davon zu überzeugen suchen, daß der Fall der türkischen Herrschaft in Europa nicht ein Verschlingen der Donaufürstenthümer durch Rußland und die Verwandlung Konstantinopels in eine russische Gouvernementsstadt nach sich ziehen würde. Würden dies die Slavophilen erreichen, so könnten sich die türkischen Slaven auch ohne russische Hilfe befreien. Dasselbe gilt auch für die österreichischen Slaven: „Glaubt ihr wirklich, daß den Deutschen daran gelegen wäre, Oesterreich zu unterstützen, wenn sie nicht befürchteten, daß nach dem Sturz dieses Reiches dessen östliche Hälfte an Rußlands Herrschaft fallen würde? – „Ihr hetzt die Deutschen gegen die Befreiung der österreichischen Slaven auf“, sagt Tschernischewsky zu der Redaktion des Djen, und fügt noch hinzu, daß ihr kriegerisches Gebahren nicht durch Sympathie für die Slaven, sondern durch das Streben hervorgerufen sei, die slavischen Stämme unter die russische Herrschaft zu bringen. [3]

Nebenbei widerlegt auch Tschernischewsky das slavophile Gerede von einem heimtückischen und böswilligen Benehmen des Westens gegen Rußland. Aber bedenkt doch, sagt er, behandelt denn nicht alle ernsteren Organe der europäischen Presse die wichtigsten Reformen in Rußland mit großer Sympathie? Und heißt es denn Rußland böses wünschen, wenn man mit den Fortschritten des russischen sozialen Lebens sympathisirt?

Im nächsten Jahre mußte er gegen die Slavophilen noch schärfer auftreten. Die Koryphäen des Slavophilenthums hatten nämlich die sonderbare Idee gehabt, sich an die Serben mit einer ganzen Reihe sehr naiver Belehrungen zu wenden. Diese Belehrungen waren in einer Broschüre enthalten, die den Titel führte: An die Serben, Ein Sendschreiben aus Moskau, und unterschrieben war von sämmtlichen hervorragenden Vertretern der slavophilen Partei. Einige in dieser Broschüre enthaltene Ideen sind einfach lächerlich, andere nicht nur lächerlich, sondern auch äußerst reaktionär. So z.B. riethen die Slavophilen den Serben, Personen, die dem orthodoxen Glauben nicht angehörten, keine politischen Rechte zu verleihen. Tschernischewsky antwortete auf dieses Sendschreiben mit einem beißenden Artikel: Die unberufenen Häuptlinge.

Zu den Auseinandersetzungen über Rußlands Verhältniß zu den Slaven überhaupt gesellte sich noch der Streit über die Beziehungen einiger slavischer Stämme zu einander. Tschernischewsky sympathisirte immer mit den Kleinrussen. Das ablehnende Verhalten Bjelinsky’s gegenüber der im Entstehen begriffenen kleinrussischen Literatur betrachtete er als einen großen Fehler. Im Januarheft des Sowremennik für 1861 erschien von ihm ein Aufsatz, welcher das Erscheinen des kleinrussischen Organs Osnowa begrüßte. Aber – im Gegensatz zu den Slavophilen – mochte er den Kampf der galizischen Ruthenen gegen die Polen nicht unbedingt billigen. Erstens gefiel es ihm nicht, daß die Ruthenen bei der Wiener Regierung eine Stütze suchten. Sodann gefiel ihm auch nicht die einflußreiche Rolle, die der Klerus in der Bewegung der galizischen Ruthenen spielte: „Um weltliche Angelegenheiten haben sich nur Laien zu kümmern.“ Endlich gefiel ihm nicht die ausschließlich nationale Fassung der Frage, in der er vor allem eine ökonomische Frage sah. In seinem gegen das Lemberger Slowo gerichteten Artikel Nationale Taktlosigkeit (Sowrem, 1861, Juli) bekämpfte er scharf den Ultranationalismus dieses Organs: „Das Lemberger Organ Slowo dürfte bei einer genaueren Betrachtung der wirklichen Verhältnisse wohl einsehen, daß der ganzen Sache eine Frage zu Grunde liegt, die mit der Nationalitätenfrage gar nichts zu thun hat – nämlich die Ständefrage. Das Blatt dürfte dann auf beiden Seiten Ruthenen und Polen sehen, die, obwohl verschiedener Nationalität, sich in der gleichen sozialen Lage befinden. Wir glauben nicht, der polnische Bauer wäre gegen eine Erleichterung der Abgaben und überhaupt gegen eine Verbesserung der Lage der ruthenischen Bauern. Wir glauben anderseits nicht, daß die Gesinnung der Gutsbesitzer ruthenischer Nationalität in dieser Frage sehr stark von der Gesinnung der polnischen Gutsbesitzer abweicht. Wenn wir nicht irren, liegt die Wurzel der galizischen Frage in den gesellschaftlichen, nicht in den nationalen Verhältnissen.“

Die gegenseitige Feindschaft der unter Oesterreichs Herrschaft lebenden Nationalitäten mußte Tschernischewsky um so taktloser erscheinen, als damals, wie auch früher, die Wiener Regierung daraus große Vortheile zog. Die österreichischen Deutschen, die Tschechen, die Kroaten, und wie wir sahen, die Ruthenen schienen ihm alle in gleicher Weise „verständnislos“ zu sein. Insbesondere fürchtete er, die 1848 und 1849 bewährte slavische „Verständnißlosigkeit“ könnte wieder zu weit gehen. Im Anfange der sechziger Jahre führte nämlich Ungarn einen hartnäckigen Kampf gegen die reaktionären Wiener Zentralisten. Die Unzufriedenheit der Ungarn erreichte einen so hohen Grad, daß man eine Zeit lang dort eine revolutionäre Explosion erwarten konnte. Unser Verfasser sprach nun nicht selten die Befürchtung aus, die österreichischen Slaven würden sich im Falle einer revolutionären Bewegung in Ungarn wieder als gefügige Werkzeuge der Reaktion erweisen. Die damalige Taktik vieler slavischer Stämme war so recht geeignet, derartige Befürchtungen zu steigern, da sie sich vielfach der schnöden Rolle rühmten, die sie in den Ereignissen von 1848/49 gespielt hatten. Indem Tschernischewsky eine solche Taktik scharf verurtheilte, suchte er zu beweisen, daß es für sie im Gegentheil viel vortheilhafter wäre, die Feinde der Wiener Regierung zu unterstützen, da sie von jenen sehr wesentliche Konzessionen erlangen könnten. Er sprach dies aus von den Beziehungen der Kroaten zu den Ungarn und wiederholte es auch den Ruthenen.

Endlich ging in Russisch-Polen, gerade zur Zeit, als er mit dem Slowo polemisirte, ebenfalls eine starke politische Bewegung vor sich, zu der er sich sehr sympathisch verhielt. Und schon deshalb allein mußten ihm die Ausfälle der ruthenischen Unterthanen des Hauses Habsburg gegen die Polen taktlos und unzeitig erscheinen.

Zweige der revolutionären polnischen Organisation existirten auch in Petersburg, wo Tschernischewsky fast ständig wohnte. Stand er in irgend welchen bestimmten formellen Beziehungen zu den polnischen Revolutionären? Vorläufig besitzen wir keine Anzeichen dafür. Es ist wohl möglich, daß die polnischen Historiker jener Epoche zur Aufklärung dieser Frage Manches beitragen könnten. Von der russischen Literatur läßt sich in dieser Beziehung aus sehr leicht verständlichen Ursachen gar nichts erwarten. Wir wollen uns hier nicht in Vermuthungen einlassen und begnügen uns mit der Anführung einiger Stellen aus seinen Werken, welche die allgemeinen Sympathien Tschernischewsky’s mit der polnischen Sache bekunden. Aber auch solcher Stellen giebt es wenig.

Der Roman Prolog zum Prolog kommt hierbei kaum in Betracht. Dort werden nur die freundlichen Beziehungen Wolgin’s (Tschernischewsky’s) zu Sokolowsky (d.h. zu dem bekannten polnischen Revolutionär Sierakowski, der später von Murawjew auf den Galgen gebracht wurde) geschildert. Wolgin preist an Sokolowsky die rückhaltlose Ueberzeugungstreue, die Selbstlosigkeit und Selbstbeherrschung, die sich mit der leidenschaftlichen Heftigkeit des wahren Agitators vereinigen. Wolgin nennt ihn einen echten Mann und meint, daß die russischen Liberalen von ihm Manches zu lernen hätten. So interessant nun dies Alles an sich auch ist, die etwaigen praktischen Beziehungen Tschernischewsky’s zur polnischen Sache werden dadurch nicht im mindesten aufgehellt. – Und auch aus seinen Aufsätzen, die in dem der Zensur unterstellten Sowremennik erschien, läßt sich nur so viel entnehmen, daß er gelegentlich stets zu Gunsten Polens sich aussprach. Gegen die Angriffe der russischen offiziellen Schriftsteller vertheidigte er sogar die alte polnische Staatsordnung, mit welcher er doch, bei seinen demokratischen Anschauungen, nicht stark sympathisiren konnte. Aber er rühmt an ihr diejenigen Seiten der sozialen Verhältnisse, auf welche er in seinen früheren Aufsätzen keinen Werth legte. Wie wir bereits wissen, äußerte er in seinem Aufsatz Die Parteikämpfe in Frankreich eine vollständige Gleichgiltigkeit gegen alle politischen Formen. Als er jenen Aufsatz schrieb (1858), schien es ihm, daß ein Demokrat sich nur mit der Aristokratie nicht versöhnen könne, und daß ein solcher Sibirien höher als England stellen müsse trotz der politischen Freiheit des letzteren Landes; denn in Sibirien sei das „gemeine Volk“ angeblich materiell besser daran, als in England. Nunmehr betrachtet Tschernischewsky die Frage der politischen Einrichtungen von einem ganz anderen Standpunkt. Das alte Polen zieht ihn durch seine politische Freiheit an: „In der vollständigen Abwesenheit einer bureaukratischen Zentralisation in Polen“ – schreibt er in einer Besprechung des damals eben erschienen Archivs des südwestlichen Rußland – „offenbart sich das Streben nach Verwirklichen einer anderen Gesellschaftsordnung, als diejenige, zu welcher andere Mächte gelangten (hier ist natürlich das Moskowitische Reich gemeint) – einer Ordnung, die nicht auf einer Opferung des Individuums für die abstrakte Idee des Staates beruht, sondern auf der Vereinigung freier Persönlichkeiten zum Zweck des allgemeinen Wohls ... Hier ist jede gesellschaftliche That das Resultat des gesellschaftlichen Gedankens; hier geht der ewige Kampf der Anschaungen und der Ueberzeugungen aus dem Gebiete des Gedankens und des Wortes direkt in die Lebenserscheinungen über.“ Freilich war die polnische Gesellschaft durchaus aristokratisch, „aber der privilegirte Kreis hätte sich mehr und mehr erweitern und die unbeachtete, verstoßene, aller Rechte beraubte Volksmasse in sich aufnehmen können, wenn nur die politischen Anschauungen sich entwickelt hätten und bis zu allgemein menschlichen Ideen herangewachsen wären, die nicht durch vorübergehende, sie beschränkende Vorurtheile gebunden waren.“ [4] Bis zu einer solchen Verherrlichung des alten Polen gingen selbst die polnischen Demokraten nicht immer. Lief ja doch die ganze Frage eben darauf hinaus, wie die polnischen Magnaten zur Anerkennung der „allgemein menschlichen“ Ideen gebracht werden könnten.

Auch in der Frage über die geschichtlichen Resultate der Vereinigung des Großfürstenthums Litthauen mit Polen wichen die Ansichten Tschernischewsky’s weit von denen der russischen offiziellen Historiker ab. „War denn wirklich die Lage von Weißrußland zur Zeit eines Olgerd, eines Lubart, eines Skirigajlo, eines Swidrigajlo [5] eine bessere als unter den Sigismunden im 16. und 17. Jahrhun-dert?“ – entgegnet er den Historikern, welche die Vereinigung des westlichen Rußland mit Polen (1569) als die einzige Ursache aller Uebel in Westrußland hinstellten: „Es ist hohe Zeit, daß wir aufhören, einseitig und ungerecht gegen Polen zu sein –, geben wir wenigstens zu, daß dessen Einfluß auf Westrußland in Bezug auf die Aufklärung wohltäthig war. Vergleichen wir die intellektuelle Bildung in dem Theil Rußlands, welcher mit Polen vereinigt war, mit der jenes Theiles unseres allgemeinen russischen Vaterlandes, welcher unberührt von fremden Einflüssen blieb – des Moskowitischen Staates. Kam denn die Aufklärung im 17. Jahrhundert nach Moskau nicht aus Kleinrußland, und war sie es denn nicht, die unsere ganze spätere Bildung vorbereitete? Und war sie denn in Kleinrußland nicht unter Polens Einfluß aufgewachsen?“

Auch an der Polonisirung Westrußlands tragen nach Tschernischewsky nicht die Polen die Schuld. Besaßen doch die höheren Klassen in Westrußland alle Rechte und alle Mittel, um ihren Glauben und ihre Sprache beibehalten und um ihr – übrigens ja von ihnen selbst geknechtetes – Volk vor Erniedrigung bewahren zu können. Wenn nun trotzdem die westrussische Aristokratie vollkommen polonisirt worden ist, so ist sie und nur sie allein dafür verantwortlich zu machen: „Wenn Ihr selbst Euch zu wehren nicht verstanden habt, so sollt Ihr nicht Eure Schuld auf Andere abwälzen wollen.“


Anmerkungen

1. Sowremennik, 1856, Februar. Kritik, S.75.

2. Auf diese Ansicht bezieht sich die bekannte scharfe Bemerkung in der ersten Auflage des Kapital von Marx über den „Halbrussen und ganzen Moskowiter Herzen“, der den „russischen Kommunismus nicht in Rußland entdeckt hat, sondern in dem Werke des preußischen Regierungsraths Haxthausen“. S.763.

3. Ueber dieselbe Frage vergl. den Aufsatz von Fr. Engels: Die auswärtige Politik des russischen Zarenthums, in der Neuen Zeit, Jahrgang 1890, S.145ff.

4. Sowremennik, 1861, April. Bibliographie, S.443ff.

5. Olgerd, Lubart u.s.w. waren litthauische Fürsten. Der größte Theil der Bevölkerung Litthauens bestand aus Russen: Kleinrussen und Weißrußen.


Zuletzt aktualiziert am 9.8.2008