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Die Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts glaubten den Idealismus abgetan zu haben. Die alte Metaphysik war tot und begraben; die „Vernunft“ wollte nichts mehr davon hören. Bald nahmen die Dinge aber eine andere Wendung. Bereits zur Zeit der „Philosophen“ beginnt in Deutschland die Restauration der spekulativen Philosophie, und während der ersten vier Jahrzehnte unseres Jahrhunderts will man nunmehr nichts vom Materialismus hören, betrachtet man ihn als tot und begraben. Seine Lehre erscheint der ganzen philosophischen und literarischen Welt, wie sie Goethe erschien, „grau“, „cimmerisch“, „totenhaft“; man schauderte davor „wie vor einem Gespenste“. [1] Ihrerseits glaubte die spekulative Philosophie, ihren Rivalen ein für allemal besiegt zu haben.
Und man muss gestehen, dass sie einen großen Vorzug vor ihm hatte. Sie studierte die Dinge in ihrer Entwicklung, in ihrer Entstehung und ihrer Vernichtung. Wenn man sie aber von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, so gibt man gerade jene Betrachtungsweise auf, die für die Aufklärer so charakteristisch ist und die durch die Entfernung jeder inneren Lebensbewegung aus den Phänomenen diese in Versteinerungen verwandelt, deren Natur und Zusammenhang zu begreifen unmöglich ist. Hegel, der Titan des Idealismus des neunzehnten Jahrhunderts, wird nicht müde, diese Betrachtungsweise zu bekämpfen; sie war für ihn „kein freies und objektives Denken, da sie das Objekt sich nicht frei aus sich selbst bestimmen ließ, sondern dasselbe als fertig voraussetzt.“ [2] Die restaurierte idealistische Philosophie verherrlicht die diametral entgegen gesetzte Methode, die dialektische Methode, und wendet sie mit schlagendem Erfolg an. Da wir diese Methode bereits öfters erwähnt haben, und da wir mit ihr noch zu tun haben werden, so ist es nicht unnütz, sie mit den eigenen Worten Hegels, des Meisters der idealistischen Dialektik, zu charakterisieren.
„Die Dialektik“, sagt er, „wird gewöhnlich als eine äußere Kunst betrachtet, welche durch Willkür eine Verwirrung in bestimmten Begriffen und einen bloßen Schein von Widersprüchen in ihnen hervorbringt, so dass nicht diese Bestimmungen, sondern dieser Schein ein Nichtiges und das Verständige dagegen vielmehr das Wahre sei. Oft ist die Dialektik auch weiter nichts als ein subjektives Schaukelsystem von hin- und herübergehendem Räsonnement, wo der Gehalt fehlt und die Blöße durch solchen Scharfsinn bedeckt wird, der solches Räsonnement erzeugt. – In ihrer eigentümlichen Bestimmtheit ist die Dialektik vielmehr die eigene wahrhafte Natur der Verstandesbestimmungen, der Dinge und des Endlichen überhaupt. Die Reflexion ist zunächst das Hinausgehen über die isolierte Bestimmtheit und ein Beziehen derselben, wodurch diese, in Verhältnis gesetzt, übrigens in ihrem isolierten Gelten erhalten wird. Die Dialektik dagegen ist dies immanente Hinausgehen, worin die Einseitigkeit und Beschränktheit der Verstandesbestimmungen sich als das, was sie ist, nämlich als ihre Negation darstellt. Alles Endliche ist dies, sich selbst aufzuheben. Das Dialektische macht daher die bewegende Seele des wissenschaftlichen Fortgehens aus und ist das Prinzip, wodurch allein immanenter Zusammenhang und Notwendigkeit in den Inhalt der Wissenschaft kommt.“
Alles, was uns umgibt, kann als ein Beispiel des Dialektischen dienen.
„Ein Planet steht jetzt an diesem Ort, ist aber an sich, dies auch an einem andern Orte zu sein, und bringt dies sein Anderssein zur Existenz dadurch, dass er sich bewegt ... Was das Vorkommen der Dialektik in der geistigen Welt, und näher auf dem Gebiet des Rechtlichen und Sittlichen anbetrifft, so braucht hier nur daran erinnert zu werden, wie, allgemeiner Erfahrung zufolge, das Äußerste eines Zustandes oder eines Tuns in sein Entgegengesetztes umzuschlagen pflegt, welche Dialektik dann auch vielfältig in Sprichwörtern ihre Anerkennung findet. So heißt es z. B.: Summum jus summa injuria, womit ausgesprochen ist, dass das abstrakte Recht, auf seine Spitze getrieben, in Unrecht umschlägt...“ usw. [3]
Die metaphysische Methode der französischen Materialisten verhält sich zur dialektischen Methode des deutschen Idealismus wie die niedere Mathematik zur höheren. In der niederen Mathematik sind die Begriffe streng begrenzt und voneinander wie durch einen „Abgrund“ getrennt: ein Polygon ist ein Polygon und weiter nichts; ein Kreis ist ein Kreis und weiter nichts. Aber bereits in der Planimetrie sind wir gezwungen, die sogenannte Grenzmethode anzuwenden, welche unsere ehrwürdigen, unbeweglichen Begriffe erschüttert und einander in seltsamer Weise nähert. Wie beweist man, dass der Flächeninhalt des Kreises gleich dem Produkt aus dem Umfang und dem halben Radius ist? Man sagt: Die Differenz zwischen der Fläche eines regelmäßigen, einem Kreise einbeschriebenen Polygons und der Fläche dieses Kreises kann man so klein machen, wie man will, vorausgesetzt, dass man die Zahl der Seiten hinreichend groß nimmt. Wenn man der Reihe nach mit a, p, r die Fläche, den Umfang und die Seitenachse eines regelmäßigen, einem Kreis einbeschriebenen Polygons bezeichnet, ist a = p * ½ r; nun sind a und p * ½ r Größen, welche mit der Zahl der Seiten variieren, aber stets einander gleichbleiben; ihre Grenzen sind also gleich. Wenn A, C, R der Reihe nach die Fläche, den Umfang und den Radius des Kreises bezeichnen, so ist A die Grenze von a, C die von p und R die von r; also ist A = C * ½ R. So wird das Polygon zum Kreis; so wird der Kreis im Prozess seines Werdens betrachtet. Dies ist bereits eine bemerkenswerte Umstürzung der mathematischen Begriffe. Die höhere Analysis nimmt diese Umstürzung zu ihrem Ausgangspunkt. Die Differentialrechnung beschäftigt sich mit unendlich kleinen Größen, oder, wie Hegel sagt, sie beschäftigt sich mit Größen, „die in ihrem Verschwinden sind, nicht vor ihrem Verschwinden, denn alsdann sind sie endliche Größen; nicht nach ihrem Verschwinden, denn alsdann sind sie nichts“. [4]
So seltsam, so paradox dies Verfahren erscheint, es leistet der Mathematik unberechenbare Dienste und beweist dadurch, dass es ganz das Gegenteil eines Absurdums ist, wofür man es zunächst zu halten geneigt sein könnte. Die „Philosophen“ des achtzehnten Jahrhunderts wussten seine Vorteile sehr wohl zu schätzen; sie beschäftigten sich viel mit höherer Analysis. Aber dieselben Männer, die, wie Condorcet, diese Waffe bei ihren Rechnungen sehr gut zu handhaben wussten, würden in großes Erstaunen geraten sein, wenn man ihnen gesagt hätte, dass dasselbe dialektische Verfahren bei dem Studium aller Phänomene, mit denen sich die Wissenschaft beschäftigt, welcher Domäne sie auch angehören mögen, angewandt werden müsse. Sie würden geantwortet haben, dass zum mindesten die menschliche Natur ebenso fest und ewig ist wie die Rechte und Pflichten der Menschen und Bürger, die daraus fließen. Die deutschen Idealisten waren nicht dieser Ansicht. Hegel versichert, „dass es gar nichts gibt (das nicht ein Werden), das nicht ein Mittelzustand zwischen Sein und Nichts ist“.
Solange man in der Geologie an der Theorie der Kataklysmen, der plötzlichen Revolutionen, festhielt, welche mit einem Schlage die Oberfläche der Erdkugel erneuerten und die alten Arten der Tiere und Pflanzen verschwinden ließen, um für das Erscheinen neuer Platz zu machen, dachte man metaphysisch. Als man diese Theorie aufgab, um an ihre Stelle die Idee einer langsamen Entwicklung der Erdrinde unter der dauernden Tätigkeit der auch heute wirkenden Kräfte zu setzen, stellte man sich auf den dialektischen Standpunkt.
Solange man in der Biologie glaubte, dass die Arten unveränderlich seien, dachte man metaphysisch. Die französischen Materialisten hatten diese Ansicht. Selbst wenn sie bestrebt waren, dieselbe zu verlassen, kehrten sie doch fortwährend zu ihr zurück. Die heutige Biologie hat sie für immer aufgegeben. Die Theorie, welche den Namen Darwins trägt, ist eine wesentlich dialektische Theorie.
Doch bedarf es hier folgender Bemerkung. So heilsam die Reaktion gegen die alten metaphysischen Theorien der Naturwissenschaft war, so verursachte sie ihrerseits in den Köpfen eine sehr beklagenswerte Verwirrung. Man zeigte sich geneigt, die neuen Theorien in dem Sinne des alten Wortes: natura non facit saltum [5] auszulegen, und fiel in ein anderes Extrem: man betrachtete nur den Prozess des allmählichen quantitativen Veränderns eines gegebenen Phänomens; sein Übergang in ein anderes Phänomen wurde gänzlich unbegreiflich. Das war alte Metaphysik auf den Kopf gestellt. Wie früher, blieben auch jetzt die Phänomene voneinander durch einen unüberbrückbaren Abgrund getrennt. Und diese Metaphysik setzte sich so sehr in den Köpfen der modernen Evolutionisten fest, dass es heutzutage eine Anzahl „Soziologen“ gibt, die jedes Mal gänzlich außer Fassung kommen, wenn sie es bei ihren Studien mit einer Revolution zu tun haben. Eine Revolution ist ihrer Ansicht nach nicht mit der Evolution verträglich: historia non facit saltum. [6] Wenn trotz dieser Weisheit der Geschichte Revolutionen, große Revolutionen vorkommen, so bekümmert sie dies nicht, man hält an der Theorie fest; um so schlimmer für die Revolutionen, welche ihre Ruhe stören, man betrachtet sie als „Krankheiten“. Bereits der dialektische Idealismus verurteilte und bekämpfte diese schauderhafte Verwirrung der Ideen. Hegel sagt gelegentlich des obenerwähnten Wortes: „Es gibt keinen Sprung in der Natur, wird gesagt; und die gewöhnliche Vorstellung, wenn sie ein Entstehen oder Vergehen begreifen soll, meint ... es damit begriffen zu haben, dass sie es als ein allmähliches Hervorgehen oder Verschwinden vorstellt.“ Aber die Dialektik zeigt aufs Deutlichste, „dass die Veränderungen des Seins überhaupt nicht nur das Übergehen eines Quantums in ein anderes Quantum, sondern Übergang vom Qualitativen in das Quantitative und umgekehrt sind, ein Anderswerden, das ein Abbrechen des Allmählichen und ein Qualitativ-Anderes gegen das vorhergehende Dasein ist. So wird das Wasser durch die Erkaltung nicht nach und nach hart, so dass es breiartig würde und allmählich bis zur Konsistenz des Eises sich verhärtete, sondern es ist auf einmal hart; schon wenn es die ganze Temperatur des Eispunktes hat, aber ruhig steht, hat es noch seine ganze Flüssigkeit, und eine geringe Erschütterung bringt es in den Zustand der Härte. Bei der Allmählichkeit des Entstehens liegt die Vorstellung zugrunde, dass das Entstehende schon sinnlich oder überhaupt wirklich vorhanden, nur wegen seiner Kleinheit noch nicht wahrnehmbar, so wie bei der Allmählichkeit des Verschwindens, dass das Nichtsein oder das Andere an seine Stelle Tretende gleichfalls vorhanden, nur noch nicht bemerkbar sei – und zwar vorhanden nicht in dem Sinne, dass das Andere in dem vorhandenen Anderen an sich enthalten, sondern dass es als Dasein, nur unbemerkbar, vorhanden sei.“ [7] Also:
Dies sind die charakteristischen Züge der dialektischen Weltanschauung, die hier mit Nutzen hervorgehoben werden.
In ihrer Anwendung auf die sozialen Phänomene, um nur von diesen zu sprechen, bewirkte die dialektische Methode eine totale Revolution. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass wir ihr die Auffassung der menschlichen Geschichte als eines gesetzmäßigen Prozesses verdanken. Die materialistischen „Philosophen“ sahen in ihr nur bewusste Handlungen mehr oder weniger weiser und tugendhafter, meist sehr wenig weiser und ganz und gar nicht tugendhafter Menschen. Der dialektische Idealismus begriff das Bestehen einer Notwendigkeit dort, wo beim ersten Anblick nur das ungeordnete Spiel des Zufalls, nur ein endloser Kampf individueller Leidenschaften und Absichten sich zeigte. Auch Helvétius, welcher sich mit seiner „Vermutung“, dass in der Geschichte wie in der Natur sich alles „von selbst auslöst und zur Reife gelangt (dies sind seine eigenen Worte), bereits dem dialektischen Gesichtspunkt nähert, erklärte die historischen Ereignisse nur durch die Eigenschaften der Individuen, die die politische Macht in ihren Händen haben. Seiner Ansicht nach hatte Montesquieu in seinem Buche: Sur la grandeur et la décadence des Romains mit Unrecht „die glücklichen Zufälle, welche Rom zu Hilfe gekommen sind, verkannt“. Er sagte, dass Montesquieu „mit der bei Forschern nur zu gewöhnlichen Torheit von allem habe Rechenschaft geben wollen und zugleich in den Fehler der Stubengelehrten verfallen sei, die, die Menschheit vergessend, allzu leicht allen Körperschaften“ (Helvétius spricht hier von politischen „Körperschaften“, wie zum Beispiel dem Senat von Rom) „konstante Ansichten, gleichförmige Prinzipien unterschieben, während doch häufig ein einziger Mensch nach seinem Gefallen diese ernsten Versammlungen, die man Senate nennt, leitet“. [8] Wie verschieden ist davon die Theorie Schellings, der behauptet, dass in der Geschichte Freiheit (das heißt das bewusste Handeln der Menschen) Notwendigkeit, Notwendigkeit Freiheit wird. Schelling betrachtet als das höchste Problem der Philosophie die Frage: „Wie kann uns, indem wir völlig frei, d. h. mit Bewusstsein handeln, bewusstlos etwas entstehen, was wir nie beabsichtigten, und was die sich selbst überlassene Freiheit nie zustande gebracht hätte?“ [9] Für Hegel ist „die Weltgeschichte ... der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit – ein Fortschritt, den wir in seiner Notwendigkeit zu erkennen haben“. Nach ihm, wie nach Schelling, kommt „in der Weltgeschichte durch die Handlungen der Menschen noch etwas anderes überhaupt heraus, als sie bezwecken und erreichen, als sie unmittelbar wissen und wollen; sie vollbringen ihr Interesse, aber es wird noch ein Ferneres damit zustande gebracht, das auch innerlich darin liegt, aber das nicht in ihrem Bewusstsein und in ihrer Absicht lag“. [10] Es ist klar, dass von diesem Gesichtspunkt aus nicht die „Meinung“ der Menschen „die Welt regiert“, dass man nicht in ihr den Schlüssel der historischen Ereignisse zu suchen hat. Die „öffentliche Meinung“ ist in ihrer Entwicklung Gesetzen unterworfen, die sie mit derselben Notwendigkeit modeln, die die Bewegungen der Himmelskörper bestimmt. So wurde die Antinomie gelöst, an deren Spitzen sich die „Philosophen“ fortwährend stießen: 1. Die öffentliche Meinung regiert die Welt; sie bestimmt die wechselseitigen Beziehungen der Mitglieder einer Gesellschaft; sie schafft das soziale Milieu; 2. der Mensch ist ein Produkt des sozialen Milieus, seine Meinungen werden durch die Eigentümlichkeiten dieses Milieus bestimmt. [11]
Die Gesetzgebung bringt alles fertig, wiederholten die „Philosophen“ ohne Aufhören, und sie waren fest davon überzeugt, dass die Sitten eines Volkes seiner Gesetzgebung geschuldet seien. Andererseits wiederholten sie ebenso oft, dass die Sittenverderbnis den Ruin der antiken Zivilisation verursacht habe. Hier haben wir eine neue Antinomie: 1. die Gesetzgebung schafft die Sitten, 2. die Sitten schaffen die Gesetzgebung. Und ähnliche Antinomien machten sozusagen das Wesen und das Unglück des philosophischen Gedankens des achtzehnten Jahrhunderts aus, der sie weder zu lösen, noch sich davon frei zu machen, noch sich die Ursachen dieser grausamen Verwirrung, in die er sich immer wieder zurückfallen sah, zu erklären vermochte.
Ein Metaphysiker betrachtet und studiert die Gegenstände nacheinander und unabhängig voneinander. Wenn er das Bedürfnis fühlt, sich zu einer Gesamtansicht zu erheben, so betrachtet er die Gegenstände in ihrer Wechselwirkung; und hier hält er an, er geht nicht weiter und kann nicht weitergehen, da die Gegenstände für ihn voneinander durch einen Abgrund getrennt bleiben; da er keine Idee von ihrer Entwicklung hat, die ihren Ursprung ebenso wie die zwischen ihnen bestehenden wechselseitigen Beziehungen erklärt. Der dialektische Idealismus überschreitet diese für die Metaphysiker unüberschreitbare Grenze. Er betrachtet die beiden Seiten des Verhältnisses der Wechselwirkung nicht als „unmittelbar gegeben“, sondern als „Momente eines Dritten, Höheren, welches dann der Begriff ist“. Hegel nimmt zum Beispiel die Sitten und die Konstitution Spartas. „Betrachten wir“, sagt er, „die Sitten des spartanischen Volkes als die Wirkung seiner Verfassung, und so umgekehrt diese als die Wirkung seiner Sitten, so mag diese Betrachtung immerhin richtig sein, allein diese Auffassung gewährt um deswillen keine letzte Befriedigung, weil durch dieselbe in der Tat weder die Verfassung noch die Sitten des Volkes begriffen werden, welches nur dadurch geschieht, dass jene beiden und ebenso alle die übrigen besonderen Seiten, welche das Leben und die Geschichte des spartanischen Volkes zeigen, als in diesem Begriff begründet erkannt werden.“ [12]
Die französischen Philosophen hatten für das Mittelalter nur Verachtung oder vielmehr nur Hass. Der Feudalismus erschien Helvétius als ein „Meisterwerk der Absurdität“. Hegel, obwohl weit entfernt von der romantischen Idealisierung der Sitten und Einrichtungen des Mittelalters, betrachtet diese Periode als ein notwendiges Element in der menschlichen Entwicklung. Noch mehr, er sieht bereits, dass die immanenten Widersprüche des sozialen Lebens des Mittelalters die moderne Gesellschaft erzeugten.
Die französischen Philosophen sahen in der Religion nur einen Haufen Aberglauben, den die Menschheit ihrer eigenen Dummheit und der Schufterei der Priester und Propheten verdankte. Sie wussten die Religion nur zu bekämpfen. So nützlich auch diese Arbeit zu ihrer Zeit war, förderte sie doch das wissenschaftliche Studium der Religionen in keiner Weise. Der dialektische Idealismus bereitete dies Studium vor. Man braucht nur Das Leben Jesu von Strauss mit der Kritischen Geschichte Jesu Christi von Holbach zu vergleichen, um den ungeheuren Fortschritt zu sehen, den die Philosophie der Religion unter dem wohltuenden Einfluss der dialektischen Methode Hegels machte. [13]
Wenn die „Philosophen“ die Geschichte der Philosophie studierten, so taten sie dies, um von dort Argumente zugunsten ihrer Ansichten oder zur Vernichtung der Systeme ihrer idealistischen Vorgänger zu holen. Hegel bekämpft die Systeme seiner Vorgänger nicht; er betrachtet sie als verschiedene Ausbildungsstufen „einer Philosophie“. Jede besondere Philosophie ist die Tochter ihrer Zeit und „die der Zeit nach letzte Philosophie ist das Resultat aller vorhergehenden Philosophien und muss daher die Prinzipien aller enthalten; sie ist darum, wenn sie anders Philosophie ist, die entfaltetste, reichste und konkreteste“. [14]
Die „vollendete Gesetzgebung“ war einer der Lieblingsgegenstände der Untersuchungen der Philosophen. Ein jeder von ihnen hatte seine Utopie für sich. Der dialektische Idealismus verschmähte diese Art von Untersuchungen. „Ein Staat“, sagt Hegel, „ist eine individuelle Totalität, von der nicht eine besondere, obgleich höchst wichtige Seite, wie die Staatsverfassung, für sich allein herausgenommen, darüber nach einer nur sie betreffenden Betrachtung isoliert beratschlagt, und gewählt werden könne ... Der Geist des Volkes, aus dem alles im Staate hervorgeht, muss begriffen werden; er entwickelt sich für sich, und in seiner Entwicklung unterscheiden sich bestimmte Perioden, und in jeder von diesen ist eine bestimmte Verfassung notwendig, die nicht die Sache der Wahl ist, sondern die dem Geiste des Volkes angemessen sein muss ... Das Andere und Weitere ist, dass die Verfassung nicht nur in dem Geist des Volkes bestimmt ist, sondern dass dieser Geist des Volkes selbst ein Glied in dem Entwicklungsgange des Weltgeistes ist, in welchem nun die besonderen Verfassungen hervortreten.“ [15]
Kurz, der dialektische Idealismus betrachtete das Universum als eine organische Totalität, die sich „aus ihrem eigenen Begriff entwickelt“. Diese Totalität erkennen, den Prozess ihrer Entwicklung enthüllen, war die Aufgabe, welche sich die Philosophie stellte. Eine edle, großartige, bewundernswerte Aufgabe! Eine Philosophie, welche sich diese Aufgabe stellte, konnte niemand „grau“ oder „totenhaft“ erscheinen. Weit entfernt davon! Sie entzückte jedermann durch die Fülle ihres Lebens, durch die unwiderstehliche Kraft ihrer Bewegung, durch die Schönheit ihrer glänzenden Farben. Und doch blieb der edle Versuch der idealistischen dialektischen Philosophie unvollendet; sie vollendete ihn nicht, sie konnte ihn nicht vollenden. Nachdem der deutsche Idealismus dem menschlichen Geiste unschätzbare Dienste geleistet hatte, ging er zugrunde, wie um einen weiteren Beweis für seine eigene Lehre zu liefern und auch an seinem Beispiel zu zeigen, dass „alles Endliche dies ist, sich selbst aufzuheben, in sein Gegenteil überzugehen“. Ein Jahrzehnt nach dem Tode Hegels erscheint der Materialismus wiederum auf der Bühne der philosophischen Entwicklung und hat bis heute nicht aufgehört, über seinen alten Gegner Siege zu erringen.
Was ist dieser Begriff, diese absolute Idee, dieser Weltgeist, von dem die deutsche Spekulation ohne Aufhören sprach? Gibt es ein Mittel zur Erkenntnis dieses mysteriösen Wesens, von dem man glaubte, dass es alles bewege und belebe?
Ja! Es gibt eins und ein sehr einfaches. Man braucht es nur mit etwas aufmerksameren Augen zu betrachten. Sobald man dies tut, vollzieht sich eine der wunderbarsten Umwandlungen. Diese absolute Idee, so unwiderstehlich in ihrer Bewegung, so voll Saft und Fruchtbarkeit, Mutter alles dessen, was war, ist und in den kommenden Jahrhunderten sein wird, erbleicht, wird unbeweglich, erscheint als eine reine Abstraktion und bittet uns – weit entfernt, irgend etwas erklären zu können – demütig um eine kleine Erklärung ihrer selbst. Sic transit gloria ... ideae. [16]
Die absolute Idee mit allen ihren immanenten Gesetzen ist nur eine Personifikation unseres Denkprozesses. Wenn man, um die Phänomene der Natur oder der sozialen Evolution zu erklären, an diese Idee appelliert, gibt man den reellen Boden der Tatsachen auf. und tritt in das Schattenreich ein. Gerade dies geschah den deutschen Idealisten.
In einem Buche, das 1845 in Frankfurt a. M. erschien und von zwei Männern geschrieben war, welche die zweite Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts mit ihrem Rufe erfüllten, finden wir eine bemerkenswerte Enthüllung des „Geheimnisses der spekulativen Konstruktion“.
„Wenn ich mir aus den wirklichen Äpfeln, Birnen, Erdbeeren, Mandeln die allgemeine Vorstellung ‚Frucht‘ bilde, wenn ich weiter gehe und mir einbilde, dass meine aus den wirklichen Früchten gewonnene abstrakte Vorstellung: ‚die Frucht‘ ein außer mir existierendes Wesen, ja das wahre Wesen der Birne, des Apfels etc. sei, so erkläre ich – spekulativ ausgedrückt – ‚die Frucht‘ für die Substanz‘ der Birne, des Apfels, der Mandel etc. Ich sage also, der Birne sei es unwesentlich, Birne, dem Apfel sei es unwesentlich, Apfel zu sein. Das Wesentliche an diesen Dingen sei nicht ihr wirkliches sinnlich anschaubares Dasein, sondern das von mir aus ihnen abstrahierte und ihnen untergeschobene Wesen, das Wesen meiner Vorstellung, ‚die Frucht‘. Ich erkläre dann Apfel, Birne, Mandel etc. für bloße Existenzweisen, Modi ‚der Frucht‘. Mein endlicher, von den Sinnen unterstützter Verstand unterscheidet allerdings einen Apfel von einer Birne und eine Birne von einer Mandel, aber meine spekulative Vernunft erklärt diese sinnliche Verschiedenheit für unwesentlich und gleichgültig. Sie sieht in dem Apfel dasselbe wie in der Birne, und in der Birne dasselbe wie in der Mandel, nämlich ‚die Frucht‘. Die besonderen wirklichen Früchte gelten nur mehr ab Scheinfrüchte, deren wahres Wesen ‚die Substanz‘, ‚die Frucht‘ ist.“ [17]
Aber der Gesichtspunkt der Substanz war eigentlich nicht der Gesichtspunkt der deutschen Spekulation. „Die absolute Substanz“, sagt Hegel, „ist das Wahre, aber sie ist noch nicht das ganze Wahre; sie muss auch als in sich tätig, lebendig gedacht werden und eben dadurch sich als Geist bestimmen.“ Sehen wir zu, wie man zu diesem höheren und wahreren Gesichtspunkt gelangt.
„Wenn der Apfel, die Birne, die Mandel, die Erdbeere in Wahrheit nichts anderes als ‚die Substanz‘, ‚die Frucht‘ sind, so fragt es sich, wie kommt es, dass ‚die Frucht‘ sich mir bald als Apfel, bald als Birne, bald als Mandel zeigt, woher kommt dieser Schein der Mannigfaltigkeit, der meiner spekulativen Anschauung von der Einheit, von ‚der Substanz‘, von ‚der Frucht‘ so sinnfällig widerspricht?
Das kommt daher, antwortet der spekulative Philosoph, weil ‚die Frucht‘ kein totes, unterschiedsloses, ruhendes, sondern ein lebendiges, sich in sich unterscheidendes, bewegtes Wesen ist. Die Verschiedenheit der profanen Früchte ist nicht nur für meinen sinnlichen Verstand, sondern für ‚die Frucht‘ selbst, für die spekulative Vernunft, von Bedeutung. Die verschiedenen profanen Früchte sind verschiedene Lebensäußerungen der ‚einen Frucht‘ sie sind Kristallisationen, welche ‚die Frucht‘ selbst bildet. Also z. B. in dem Apfel gibt sich ‚die Frucht‘ ein apfelhaftes, in der Birne ein birnenhaftes Dasein. Man muss also nicht mehr sagen, wie auf dem Standpunkt der Substanz: die Birne ist ‚die Frucht‘, der Apfel ist ‚die Frucht‘, die Mandel ist ‚die Frucht‘, sondern vielmehr: ‚die Frucht‘ setzt sich als Birne, ‚die Frucht‘ setzt sich als Apfel, ‚die Frucht‘ setzt sich als Mandel, und die Unterschiede, welche Apfel, Birne, Mandel voneinander trennen, sind eben die Selbstunterscheidungen ‚der Frucht‘ und machen die besonderen Früchte eben zu unterschiedenen Gliedern im Lebensprozesse ‚der Frucht‘ ...
Man sieht: wenn die christliche Religion nur von einer Inkarnation Gottes weiß, so besitzt die spekulative Philosophie so viel Inkarnationen, als es Dinge gibt, wie sie hier in jeder Frucht eine Inkarnation der Substanz, der absoluten Frucht besitzt. Das Hauptinteresse für den spekulativen Philosophen besteht also darin, die Existenz der wirklichen profanen Früchte zu erzeugen und auf geheimnisvolle Weise zu sagen, dass es Äpfel, Birnen, Mandeln und Rosinen gibt ...
Es versteht sich, dass der spekulative Philosoph diese fortwährende Schöpfung nur zuwege bringt, indem er allgemein bekannte, in der wirklichen Anschauung sich vorfindende Eigenschaften des Apfels, der Birne etc. als von ihm erfundene Bestimmungen einschiebt, indem er dem, was allein der abstrakte Verstand schaffen kann, nämlich den abstrakten Verstandesformeln, die Namen der wirklichen Dinge gibt; indem er endlich seine eigne Tätigkeit, wodurch er von der Vorstellung Apfel zu der Vorstellung Birne übergeht, für die Selbsttätigkeit des absoluten Subjekts, ‚der Frucht‘ erklärt.“ [18]
Diese materialistische Kritik des Idealismus ist ebenso scharf wie gerecht. Die „absolute Idee“, der „Geist“ der deutschen Spekulation war nur eine Abstraktion. Eine Abstraktion aber, von der man glaubt, dass sie in letzter Analyse die tiefsten Probleme der Wissenschaft löst, kann dem Fortschritt dieser nur schädlich sein, und wenn die Denker, die an diese Abstraktion appellierten, dem menschlichen Denken große Dienste leisteten, haben sie dies nicht dank, sondern trotz der Abstraktion getan, insofern diese sie nicht daran hinderte, die wirkliche Bewegung der Dinge zu studieren. Man findet sehr bemerkenswerte Ansichten in Schellings Naturphilosophie. Schelling besaß große Kenntnisse in den Naturwissenschaften. Aber für ihn ist „das materielle Universum“ nur die „aufgeschlossene Ideenwelt“. Er widersprach sich vielleicht mit seiner Behauptung nicht, dass „der Magnetismus der allgemeine Akt der Beseelung, Einpflanzung der Einheit in die Vielheit, des Begriffs in die Differenz“ sei und dass „dieselbige Einbildung des Subjektiven ins Objektive, welche im Idealen ... Selbstbewusstsein ist, hier in dem Sein ausgedrückt erscheint“. Aber bringt uns dies einen Schritt in der Erkenntnis der Phänomene des Magnetismus oder in der Erfassung ihrer Natur weiter? Wir sind nicht nur nicht weitergekommen, sondern laufen die größte Gefahr, die wirklichen Tatsachen zugunsten einer Theorie zu verkennen, welche uns mehr oder weniger scharfsinnig erscheinen kann, aber in, jedem Fall ganz willkürlich ist.
Dasselbe gilt für die Geschichte der Menschheit. Sir Alexander Grant hat gesagt, dass „von Hegels Geschichte der Philosophie Philosophie leihen ebenso viel bedeutet, wie Poesie von Shakespeare leihen, das heißt eine Schuld, die fast unvermeidlich ist“. In mancher Hinsicht ist das Studium der Philosophie der Geschichte Hegels wie seiner Ästhetik, seiner Rechtsphilosophie, seiner Logik eine auch heute noch unumgängliche Pflicht. Es ist aber nicht der idealistische Gesichtspunkt, der all diesen Werken ihren Wert verleiht. Im Gegenteil. Dieser Gesichtspunkt ist gänzlich steril und nur fruchtbar im Anstiften von Verwirrung. So beschreibt Hegel mit einem Scharfsinn, der zum Ruhm eines Spezialisten genügen würde, den Einfluss des geographischen Milieus auf die historische Entwicklung der menschlichen Gesellschaften. Gelingt es ihm aber, irgend etwas zu erklären, wenn er sagt, dass „der bestimmte Volksgeist, da er wirklich und seine Freiheit als Natur ist, nach dieser von besonderer geographischer und klimatischer Bestimmung ist“? Oder – um ein Beispiel anzuführen, dessen er sich selbst bedient – bringt es uns einen Schritt in dem Verständnis der Geschichte Spartas weiter, wenn er uns sagt, dass die Sitten dieses Landes wie seine Konstitution nur Momente in der Evolution des Begriffs waren? Es ist gewiss wahr, dass der Gesichtspunkt der „französischen Philosophen“, gegen die er dies Beispiel vorbringt (der Standpunkt der Wechselwirkung, der die unüberschreitbare Grenze ihrer glücklichsten Untersuchungen bleibt), gänzlich unzureichend ist. Es genügt aber nicht, diesen Gesichtspunkt aufzugeben; es ist durchaus notwendig, zu zeigen, inwiefern der Begriff die verborgene Springfeder der sozialen Bewegung sein kann. Und nicht nur hat Hegel niemals diese sehr berechtigte Frage beantworten können, sondern es scheint auch, als ob er selbst sehr wenig von dem durch den Begriff angeblich auf die Geschichte der Menschheit ausgegossenen Lichte befriedigt gewesen wäre. Er sieht sich gezwungen, auf den festen Boden herabzusteigen und aufmerksam die sozialen Beziehungen zu studieren. So endigt er auch damit, uns kategorisch zu erklären, dass „Lakedämon ... besonders wegen der Ungleichheit des Besitzes herunterkam“. Das ist wahr, aber in dieser Wahrheit steckt kein Fünkchen von absolutem Idealismus. [19]
Ein Mensch erklärt uns mit oft bewundernswerter Klarheit den Mechanismus der Bewegungen der Tiere. Dann fügt er mit einem nicht weniger bewundernswerten Ernst hinzu, dass das wichtigste Geheimnis aller dieser Bewegungen sich in dem Schatten befindet, den die sich bewegenden Körper werfen. Dieser Mensch ist ein „absoluter“ Idealist. Wir werden vielleicht eine Zeitlang der Ansicht dieses Idealisten sein; aber ich hoffe, dass wir uns schließlich die Wissenschaft der Mechanik aneignen und seiner „Philosophie der Mechanik“ ein „ewiges Lebewohl“ sagen werden.
Wenigstens taten dies verschiedene Schüler Hegels. Sie wussten die Vorteile der Methode des großen Denkers sehr wohl zu schätzen, stellten sich aber auf den materialistischen Standpunkt. Die oben aus dem Buche „Die heilige Familie“ gegebenen Zitate genügen, um zu zeigen, wie bestimmt und rücksichtslos ihre Kritik der idealistischen Spekulation war.
Die dialektische Methode ist der charakteristischste Zug des modernen Materialismus; darin besteht sein wesentlicher Unterschied von dem alten metaphysischen Materialismus des achtzehnten Jahrhunderts. Man kann danach die Tiefe der Ansichten und die Gründlichkeit der Geschichtsschreiber der Literatur und der Philosophie beurteilen, welche sich nicht herabließen, diesen Unterschied zu bemerken. Der verstorbene Lange hat seine „Geschichte des Materialismus“ in zwei Teile geteilt: den Materialismus vor Kant, den Materialismus nach Kant. Für jeden, den nicht Systemgeist oder Routine blind machen, drängte sich mit Notwendigkeit eine andere Einteilung auf; der Materialismus nach Hegel ist nicht mehr das, was er vor ihm war. Was kann man aber anderes erwarten? Um den Einfluss beurteilen zu können, welchen der Idealismus des neunzehnten Jahrhunderts auf die Entwicklung des Materialismus gehabt hat, muss man sich vor allem genaue Rechenschaft davon geben, was dieser in unseren Tagen geworden ist. Und gerade das hat Lange niemals getan. Obschon er in seinem Buche von allem und allen, selbst von Nullen wie Heinrich Czolbe handelt, erwähnt er mit keinem Worte den dialektischen Materialismus. Der gelehrte Historiker des Materialismus ahnte durchaus nicht, dass es zu seinen Zeit Materialisten gab, die in ganz anderer Weise bemerkenswert waren als die Herren Vogt, Moleschott und Konsorten. [20]
Die Leichtigkeit, mit welcher der dialektische Materialismus über den Idealismus siegte, muss einem jeden unerklärlich scheinen, der keinen klaren Begriff von der fundamentalen Frage hat, welche die Materialisten von den Idealisten trennt. Von dualistischen Vorurteilen erfüllt, stellt man sich gewöhnlich vor, dass man es im Menschen zum Beispiel mit zwei gänzlich verschiedenen Substanzen zu tun habe: dem Körper, der Materie einerseits, der Seele, dem Geist andererseits. Man weiß nicht, oft fragt man sich nicht einmal, wie eine dieser Substanzen auf die andere wirken könne, aber man glaubt sehr genau zu wissen, dass es „einseitig“ wäre, die Erklärung der Phänomene mit Hilfe nur einer dieser beiden Substanzen zu vollziehen. Man fühlt sich mit großer Selbstbefriedigung über beide Extreme erhaben und ist weder Idealist noch Materialist. Aber so respektabel diese Art und Weise, philosophische Fragen zu betrachten, durch ihr Alter sein mag, im Grunde ist sie doch nur eines Philisters würdig. Die Philosophie konnte sich niemals mit einer ähnlichen „Vielseitigkeit“ begnügen; sie versuchte im Gegenteil, sich von dem den eklektischen Geistern so teuren Dualismus frei zu machen. Die hervorragendsten philosophischen Systeme waren immer monistisch, das heißt für sie waren der Geist und die Materie nur zwei Klassen von Phänomenen, deren Ursache eine und untrennbar dieselbe war. Wir haben gesehen, dass für die französischen Materialisten die „Fähigkeit zu empfinden“ eine der Eigenschaften der Materie war. Für Hegel war die Natur nur „das Anderssein“ der absoluten Idee. Dies Anderssein ist gewissermaßen ein Sündenfall der Idee; die Natur wird durch den Geist geschaffen, sie existiert nur durch seine Güte. Aber dieser angebliche Sündenfall schließt keineswegs die substantielle Identität der Natur und des Geistes aus; ganz im Gegenteil, sie setzt diese Identität voraus. Der absolute Geist Hegels ist nicht der beschränkte Geist der Philosophie beschränkter Geister. Hegel verspottete diejenigen sehr gut, welche aus der Materie und dem Geist zwei verschiedene Substanzen machen, die „einander ebenso undurchdringlich, als jede Materie gegen eine andere undurchdringlich und nur in ihrem gegenseitigen Nichtsein, ihren Poren angenommen wird; wie Epikur den Göttern ihren Aufenthalt in den Poren angewiesen, aber konsequent ihnen keine Gemeinschaft mit der Welt aufgebürdet hat“. Trotz seiner Feindschaft gegen den Materialismus würdigte Hegel in ihm seine monistische Tendenz. [21] Nun fällt aber, sobald wir uns auf den monistischen Standpunkt stellen, der Erfahrung die Entscheidung darüber zu, welche der beiden Theorien, der Idealismus oder der Materialismus, besser die Phänomene erklärt, mit denen wir es beim Studium der Natur und der menschlichen Gesellschaften zu tun haben. Und man kann sich leicht davon überzeugen, dass wir selbst auf dem Gebiet der Psychologie, einer Wissenschaft, welche sich mit jenen Tatsachen beschäftigt, die als Phänomene des Geistes par excellence bezeichnet werden können, mit größerem Erfolg arbeiten, wenn wir die Natur zum Prius nehmen und die Operationen des Geistes als die notwendigen Folgen der Bewegung der Materie behandeln. „Heutzutage“, sagt der Agnostiker Huxley, „kann keiner, der in der Frage auf dem Laufenden ist und die Tatsachen kennt, daran zweifeln, dass die Prinzipien der Psychologie in der Physiologie des Nervensystems enthalten sind. Was man geistige Operationen nennt, ist eine Summe zerebraler Funktionen, und die Materialien des Bewusstseins sind Produkte der Tätigkeit des Gehirns. Cabanis mag sich ungeschickt und falsch ausgedrückt haben, als er sagte, dass das Gehirn den Gedanken ausscheide wie die Leber die Galle; aber die Auffassung, welche diese vielgeschmähte Formel ausdrückt, ist nichtsdestoweniger den Tatsachen viel entsprechender als die populäre Auffassung, die sich den Geist als eine metaphysische Einheit vorstellt, die allerdings ihren Sitz im Kopfe hat, aber ebenso unabhängig von dem Gehirn ist wie der Telegraphenbeamte verschieden von dem Apparat, den er bedient.“ [22] Auf dem Gebiet der sozialen Wissenschaft, dieses Wort im weitesten Sinne genommen, ist, wie wir bereits hervorgehoben haben, der Idealismus mehr als einmal dahin gebracht worden, seine Unfähigkeit zu fühlen und zu rein materialistischen Erklärungen der historischen Tatsachen seine Zuflucht zu nehmen.
Um es noch einmal zu betonen, die große philosophische Revolution, welche in Deutschland in dem fünften Jahrzehnt unseres Jahrhunderts stattfand, wurde durch den wesentlich monistischen Charakter des deutschen Idealismus erleichtert. Robert Flint sagte: „Der Hegelianismus bietet, obschon das ausgearbeitetste aller idealistischen Systeme, selbst für den Materialismus nur ein sehr schwaches Hindernis.“ Das ist sehr richtig; nur hätte Flint statt „obschon“ „weil“ schreiben müssen.
Derselbe Flint hat sehr recht, wenn er fortfährt: „Wohl wird von demselben“ (dem System Hegels. G. P.) „der Geist vor die Materie gestellt und die Materie als das Stadium eines Geistesprozesses aufgefasst; da aber der vor die Materie gestellte Geist unbewusster Geist ist – Geist, welcher weder Subjekt noch Objekt, daher kein wirklicher Geist, nicht einmal das Gespenst oder das Phantasma von Geist ist –, ist die Materie doch die erste Realität, die erste wirkliche Existenz, und die Kraft in der Materie, die Tendenz in ihr, sich über sich selbst zu erheben, die Wurzel und Basis des subjektiven, objektiven und absoluten Geistes.“ [23] Man kann leicht begreifen, wie sehr diese für den Idealismus unvermeidliche Inkonsequenz die philosophische Revolution erleichterte, von der wir hier sprechen. Besonders in der Philosophie der Geschichte machte sich diese Inkonsequenz fühlbar. „Hegel macht sich einer doppelten Halbheit schuldig, einmal, indem er die Philosophie für das Dasein des absoluten Geistes erklärt und sich zugleich dagegen verwahrt, das wirkliche philosophische Individuum für den absoluten Geist zu erklären; dann aber, indem er den absoluten Geist als absoluten Geist nur zum Schein die Geschichte machen lässt. Da der absolute Geist nämlich erst post festum im Philosophen als schöpferischer Weltgeist zum Bewusstsein kommt, so existiert seine Fabrikation der Geschichte nur im Bewusstsein, in der Meinung und Vorstellung des Philosophen, nur in der spekulativen Einbildung.“ Diese Zeilen stammen von dem Vater des modernen dialektischen Materialismus, Karl Marx. [24]
Die Tragweite der von diesem genialen Mann bewirkten philosophischen Revolution hat er selbst in wenigen Worten so ausgedrückt: „Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil. Für Hegel ist der Denkprozess, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet. Bei mir ist umgekehrt das Ideelle nichts andres als das im Menschenkopf umgesetzte und übersetzte Materielle.“ [25]
Bevor wir die Resultate darlegen, zu denen Marx mit Hilfe dieser Methode gelangte, wollen wir einen kurzen Blick auf die Tendenzen werfen, welche in der historischen Wissenschaft Frankreichs zur Zeit der Restauration sich bemerkbar machten.
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Die französischen „Philosophen“ waren davon überzeugt, dass die öffentliche Meinung die Welt regiert. Wenn sie sich daran erinnerten, dass nach ihrer eigenen sensualistischen Theorie der Mensch mit all seinen Meinungen ein Produkt des sozialen Milieus ist, versicherten sie, dass die „Gesetzgebung alles fertigbringt“, und glaubten, dass durch diese kurze aber instruktive Antwort die Frage weggeschafft, sei. Nun war die „Gesetzgebung“ für sie vor allem das öffentliche Recht, „die Regierung“ eines jeden gegebenen Landes. In den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts wird dieser Standpunkt mehr und mehr aufgegeben. Man fragt sich, ob man nicht vielmehr im bürgerlichen Recht die Wurzel der politischen Institutionen suchen muss. [26] Und man antwortet bejahend.
„Durch das Studium der politischen Einrichtungen“, sagt Guizot, „hat die Mehrzahl der Schriftsteller, Gelehrten, Historiker und Publizisten den Zustand der Gesellschaft, die Höhe oder die Art der Zivilisation kennenzulernen gesucht. Es wäre klüger gewesen, zunächst die Gesellschaft selbst zu studieren, um ihre politischen Einrichtungen kennenzulernen und zu begreifen. Bevor sie Ursachen werden, sind diese Einrichtungen Wirkungen; die Gesellschaft erzeugt sie, bevor sie davon modifiziert wird: und anstatt in dem System oder den Formen der Regierung zu suchen, welches der Zustand des Volkes gewesen ist, hätte man vor allem den Zustand des Volkes prüfen sollen, um zu wissen, wie die Regierung hat beschaffen sein müssen, hat beschaffen sein können ... Die Gesellschaft, ihre Zusammensetzung, die Art und Weise des Seins der Individuen nach ihrer sozialen Lage, die Verhältnisse der verschiedenen Klassen von Individuen, kurz, der Zustand der Personen, das ist sicherlich die erste Frage, welche die Aufmerksamkeit des Historikers auf sich zieht, der das Leben der Völker mitleben, des Publizisten, der wissen will, wie sie regiert wurden.“ [27]
Hier haben wir bereits eine totale Umwälzung der historischen Begriffe der „Philosophen“. Aber Guizot geht in der Analyse der „Zusammensetzung der Gesellschaft“ noch weiter. Nach ihm ist bei allen modernen Völkern der Zustand der Personen eng mit dem Zustand des Grundbesitzes verbunden, und infolgedessen muss das Studium des Zustandes des Grundbesitzes dem des Zustandes der Personen vorausgehen. „Um die politischen Institutionen zu begreifen, muss man die verschiedenen sozialen Zustände und ihre Beziehungen kennen. Um die verschiedenen sozialen Zustände zu begreifen, muss man die Natur und die Verhältnisse des Grundeigentums kennen.“ [28] Von diesem Standpunkt aus studiert Guizot die Geschichte Frankreichs unter den Merowingern und Karolingern. In seiner Geschichte der englischen Revolution geht er noch einen Schritt weiter, indem er dies Ereignis als eine Episode des Kampfes der Klassen in der modernen Gesellschaft betrachtet. Nicht mehr der „Zustand des Grundbesitzes“, sondern die Eigentumsverhältnisse im Allgemeinen sind jetzt für ihn die Grundlage der politischen Bewegung.
Augustin Thierry kam zu denselben Ansichten. In seinen Studien über die Geschichte Englands und Frankreichs betrachtet er die Bewegung der Gesellschaft als die verborgene Triebfeder der politischen Ereignisse. Er ist weit davon entfernt, zu glauben, dass die öffentliche Meinung die Welt regiert. Für ihn ist dieselbe nur der mehr oder weniger adäquate Ausdruck sozialer Interessen. Hier ein Beispiel, wie er den Kampf des englischen Parlaments gegen Karl I. Auffasst.
„Ein jeder, dessen Ahnen in dem Heere des Eroberers gestanden hatten, verließ sein Schloss, um im königlichen Lager jenes Kommando zu übernehmen, welches ihm sein Rang anwies. Die Bewohner der Städte und Häfen begaben sich in Masse ins entgegen gesetzte Lager ... Die Faulenzer, die Leute, welche im Leben keine andere Beschäftigung wünschten, als ohne Mühe zu genießen, traten, zu welcher Kaste sie auch gehören mochten, in die Reihen der königlichen Truppen, um dort die ihren eigenen konformen Interessen zu verteidigen; während diejenigen Familien aus der Klasse der alten Sieger, welche die Industrie gewonnen hatte, sich der Partei der Gemeinen anschlossen. Für diese positiven Interessen wurde der Krieg von der einen wie von der anderen Seite geführt. Der Rest war nur Schein oder Vorwand. Diejenigen, welche für die Sache der Untertanen eintraten, waren meistens Presbyterianer, d. h. sie wollten auch in der Religion kein Joch. Die, welche die Gegensache unterstützten, waren Episkopale oder Papisten, weil sie auch in den Formen des Kultus die Möglichkeit, Gewalt auszuüben und Steuern von den Menschen zu erheben, zu finden wünschten.“ [29]
Das ist ziemlich klar, scheint aber klarer, als es in Wirklichkeit ist. Tatsächlich sind die politischen Revolutionen eine Wirkung des Kampfes der Klassen, die für ihre positiven Interessen, ihre ökonomischen Interessen kämpfen. Welches ist aber die Ursache, die den ökonomischen Interessen einer gegebenen Klasse diese oder jene Form gibt? Welches ist die Ursache, die die Klassen in einer Gesellschaft entstehen lässt? Augustin Thierry spricht wohl von „der Industrie“; aber dieser Begriff bleibt bei ihm konfus, und um sich aus der Bedrängnis zu helfen, erinnert er sich an die Invasion, die Eroberung Englands durch die Normannen. Der Eroberung verdanken also die Klassen ihren Ursprung, deren Kampf die englische Revolution verursachte. „Alles dies datiert von einer Eroberung“, sagt er, „eine Eroberung liegt ihm zugrunde.“ Aber was ist eine Eroberung? Bringt sie uns nicht zu der Tätigkeit der „Regierung“ zurück, für die wir eine Erklärung zu geben versuchen? Und, selbst dies beiseite gelassen, kann die Tatsache einer Eroberung niemals über die sozialen Resultate dieser Eroberung Aufschluss geben. Bevor Gallien von den Barbaren erobert wurde, war es von den Römern erobert worden. Die sozialen Resultate der beiden Eroberungen sind durchaus verschiedene gewesen. Woran liegt das? Ohne Zweifel waren die Gallier zu Zeiten Casars in einer anderen Lage als die Gallier des fünften Jahrhunderts; und ebenso wenig ist es zweifelhaft, dass die römischen Eroberer in keiner Weise den „barbarischen“ Eroberern, den Franken und Burgundern, glichen. Erklären sich aber alle diese Unterschiede wieder durch andere Eroberungen? Wir können alle bekannten Eroberungen und alle wahrscheinlichen Eroberungen aufzählen und werden uns doch nur in einem Zirkel bewegen, wir kommen immer zu dem unvermeidlichen Schluss, dass es im Leben der Völker ein Etwas, ein X, eine Unbekannte gibt, der die „Kraft“ der Völker selbst, wie die der verschiedenen Klassen, die in ihrem Schoss existieren, ihren Ursprung, ihre Richtung und ihre Veränderungen verdankt. Um es kurz zu sagen: es ist klar, dass der „Kraft“ selbst ein Etwas zugrunde liegt, und um die Bestimmung der Natur dieser Unbekannten handelt es sich hier. [30]
Guizot bewegt sich in denselben Widersprüchen. Wem verdanken die „Besitzverhältnisse“ bei den Völkern, um die es sich in den Essais Guizots handelt, ihren Ursprung? Dem Handeln der Eroberer: „Nach der Eroberung wurden die Franken Grundbesitzer ... Die absolute Unabhängigkeit ihres Grundbesitzes war ihr Recht so gut wie die ihrer Person; diese Unabhängigkeit hatte damals keine ändere Garantie als die Macht des Besitzers, indem er aber seine Macht zur Verteidigung verwandte, glaubte er sein Recht auszuüben“ usw. [31]
Es ist nicht minder bemerkenswert, dass für Guizot der Zustand der Personen nur „bei den modernen Völkern eng mit dem Zustand des Grundbesitzes“ verbunden war.
Weder Mignet noch sonst ein anderer französischer Historiker derselben Epoche (und die französischen Historiker dieser Epoche sind in mehr als einer Hinsicht bemerkenswert) wusste die Schwierigkeit aus dem Wege zu räumen, vor der Guizot und Augustin Thierry sich gezwungen sahen, haltzumachen. Man erkannte bereits sehr wohl, dass in den ökonomischen Verhältnissen einer Gesellschaft die Ursachen ihrer Entwicklung zu suchen waren. Man begriff bereits sehr wohl, dass den politischen Bewegungen ökonomische Interessen zugrunde liegen, welche sich in ihnen durchsetzen. Und nach der großen Französischen Revolution, diesem epischen Kampfe der Bourgeoisie gegen Adel und Geistlichkeit [32], wäre es schwer gewesen, das nicht zu begreifen. Sie waren aber nicht imstande, den Ursprung der ökonomischen Struktur einer Gesellschaft zu erklären. Und wenn sie davon sprachen, so wandten sie sich an die Eroberung und kehrten zum Standpunkt des achtzehnten Jahrhunderts zurück, da ein Eroberer auch ein „Gesetzgeber“ ist, nur einer, der von außen kommt.
Also: Hegel war sozusagen gegen seinen Willen dahin gebracht worden, in dem sozialen Zustand der Völker (in dem „Besitz“) das lösende Wort des Rätsels ihrer historischen Schicksale zu suchen. Die französischen Historiker der Zeit der Restauration ihrerseits wenden sich mit gutem Vorbedacht an die „positiven Interessen, an den ökonomischen Zustand, um Ursprung und Entwicklung der verschiedenen Formen der „Regierung“ zu erklären. Aber weder dem einen noch den anderen, weder dem idealistischen Philosophen noch der positiven Geschichtsforschung gelang es, das große Problem, welches sich vor ihnen unvermeidlich aufrichtete, zu lösen: wovon „hängt ihrerseits die Struktur der Gesellschaft, hängen die Besitzverhältnisse ab? Und solange dies große Problem ungelöst blieb, solange blieben die Untersuchungen auf dem Gebiet der in Frankreich sciences morales et politiques genannten Wissenschaften ohne eine wahrhaft wissenschaftliche Grundlage, und solange konnte man mit Recht diesen angeblichen Wissenschaften, die speziell sciences genannten, allein als „exakt“ geltenden Wissenschaften, die mathematische und die Naturwissenschaft, entgegenstellen.
Die Aufgabe des dialektischen Materialismus war also im Voraus bezeichnet. Die Philosophie, welche in den vorhergehenden Jahrhunderten der Naturwissenschaft so viele Dienste geleistet hatte, musste die soziale Wissenschaft aus dem Labyrinth ihrer Widersprüche befreien. War diese Aufgabe vollendet, so konnte die Philosophie sagen: „Ich habe meine Schuldigkeit getan, ich kann gehen“, da in Zukunft die exakte Wissenschaft die Hypothesen der Philosophen unnütz machen musste. [33]
Die Artikel von Marx und Engels in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern, Paris 1844; Die heilige Familie von denselben Autoren; Die Lage der arbeitenden Klasse in England, von Engels; Das Elend der Philosophie, von Marx; Das Manifest der Kommunistischen Partei, von Marx und Engels; Lohnarbeit und Kapital von Marx, enthalten bereits gut formulierte und klar dargelegte Züge der neuen Geschichtsauffassung. Aber ihre systematische, wenn auch kurze Darlegung finden wir in dem Buche von Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1859.
„In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet, die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und “welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“ [34]
Was sind diese Produktionsverhältnisse? Sie sind, was man juristisch die Eigentumsverhältnisse nennt, der Besitz, von dem Guizot und Hegel sprachen. Marx’ Theorie beantwortet also mit der Erklärung des Ursprungs dieser Verhältnisse gerade die Frage, welche die Männer der Wissenschaft und Philosophie vor ihm nicht beantworten konnten.
Der Mensch mit seiner „Meinung“ und seiner „Bildung“ ist ein Produkt des sozialen Milieus, wie es die französischen Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts sehr wohl wussten, obschon sie es oft vergaßen. Die historische Entwicklung der „öffentlichen Meinung“ wie die ganze menschliche Geschichte ist ein gesetzmäßiger Prozess, wie ihn die deutschen Idealisten des neunzehnten Jahrhunderts verkündeten. Aber dieser Prozess ist nicht durch die Eigenschaften des „Weltgeistes“ bestimmt, wie diese Idealisten glaubten, sondern durch die reellen Bedingungen der menschlichen Existenz. Die Formen der „Regierung“, von denen die Philosophen so viel redeten, haben ihre Wurzel in dem, was Guizot kurz die Gesellschaft und was Hegel die bürgerliche Gesellschaft nannte. Die bürgerliche Gesellschaft wird aber in ihrer Entwicklung durch die Entwicklung der Produktivkräfte bestimmt, welche den Menschen zur Verfügung stehen. Die Marxsche Geschichtsauffassung, die die Ignoranten für eng und einseitig halten, ist tatsächlich das legitime Produkt einer langen Entwicklung der historischen Ideen. Sie enthält sie alle, insofern sie wirklichen Wert haben, und gibt ihnen eine viel festere Grundlage, als sie zur Zeit ihrer jeweiligen Blüte besaßen. Deshalb ist sie, um uns des bereits zitierten Ausdrucks Hegels zu bedienen, die entfaltetste, reichste und konkreteste.
Die Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts sprachen ohne Aufhören von der „menschlichen Natur“, die die Geschichte der Menschheit erklären und die Eigenschaften anzeigen sollte, die eine „vollendete Gesetzgebung“ besitzen müsse. Dieser Gedanke liegt allen Utopien zugrunde: bei ihrer idealen Konstruktion einer vollendeten Gesellschaft gingen die Utopisten stets von Betrachtungen über die menschliche Natur aus. Die „Eroberung“ Augustin Thierrys und Guizots bringt uns gleichfalls zur menschlichen Natur, das heißt zu der mit mehr oder weniger Erfolg vorgestellten, mehr oder weniger willkürlichen „Natur“ der Eroberer zurück. [35] Wenn aber die menschliche Natur etwas Konstantes ist, so ist es durchaus absurd, mit ihrer Hilfe die wesentlich variablen historischen Schicksale der Menschheit erklären zu wollen; ist sie variabel, so muss man sich fragen, woher kommen ihre Veränderungen? Die deutschen Idealisten, diese Meister der Logik, erkannten bereits, dass die menschliche Natur eine sehr wenig glückliche Fiktion ist. Sie setzten die verborgene Triebfeder der historischen Bewegung außerhalb des Menschen, der nach ihrer Ansicht nur den unwiderstehlichen Antrieben dieser Triebfeder gehorcht. Diese bewegende Kraft war aber der Weltgeist, das heißt eine durch den Filter der Abstraktion gegangene S eite der menschlichen Natur. Marx’ Theorie macht all diesen Fiktionen, all diesen Irrgängen, all diesen Widersprüchen ein Ende. Indem der Mensch durch seine Arbeit auf die Natur außer ihm wirkt, bewirkt er die Veränderung seiner eigenen Natur. Die menschliche Natur hat also ihrerseits eine Geschichte, und um sich von dieser Geschichte Rechenschaft zu geben, muss man begreifen, wie die Einwirkung des Menschen auf die Natur außer ihm vor sich geht.
Helvétius hat einen Versuch gemacht, die Entwicklung der menschlichen Gesellschaften zu erklären, indem er sie auf die physischen Bedürfnisse der Menschen basierte. Sein Versuch musste missglücken, da genau genommen nicht die Bedürfnisse des Menschen, sondern die Mittel und Wege, sie zu befriedigen, zu betrachten waren.
Das Tier hat seine physischen Bedürfnisse so gut wie der Mensch. Aber die Tiere produzieren nicht; sie bemächtigen sich nur der Gegenstände, deren Produktion die Natur sich sozusagen vorbehält. Um sich dieser Gegenstände zu bemächtigen, bedienen sie sich ihrer Organe: Ihrer Zähne, ihrer Zunge, ihrer Gliedmaßen usw. Die Anpassung eines Tieres an das es umgebende, natürliche Milieu vollzieht sich also mittels der Umwandlung seiner Organe, mittels Änderungen in seiner anatomischen Struktur. Die Sache liegt nicht ebenso einfach für das Tier, welches sich stolz homo sapiens nennt. Der Mensch „tritt dem Naturstoff selbst als eine Naturmacht gegenüber. Die seiner Leiblichkeit angehörigen Naturkräfte, Arme und Beine, Kopf und Hand, setzt er in Bewegung, um sich den Naturstoff in einer für sein eigenes Leben brauchbaren Form anzueignen.“ Er ist Produzent und verwendet in dem Prozess der Produktion Werkzeuge. „Der Gegenstand, dessen sich der Arbeiter unmittelbar bemächtigt – abgesehen von der Ergreifung fertiger Lebensmittel, der Früchte z. B., wobei seine eignen Leibesorgane allein als Arbeitsmittel dienen –, ist nicht der Arbeitsgegenstand, sondern das Arbeitsmittel. So wird das Natürliche selbst zum Organ seiner Tätigkeit, ein Organ, das er seinen eignen Leibesorganen hinzufügt, seine natürliche Gestalt verlängernd, trotz der Bibel.“ [36] Hierin unterscheidet sich sein Kampf um das Dasein wesentlich von dem der anderen Tiere: das Werkzeuge fabrizierende Tier (the toolmaking animal) passt sich dem es umgebenden natürlichen Milieu an, indem es seine künstlichen Organe modifiziert. Gegenüber diesen Modifikationen verschwinden die Veränderungen seiner anatomischen Struktur als gänzlich bedeutungslos. So sagt Darwin, dass die in Amerika ansässigen Europäer außerordentlich schnell physische Veränderungen erleiden. Aber nach Darwin selbst sind diese Veränderungen „sehr geringfügig“; sie sind gänzlich null im Vergleich zu den zahllosen Veränderungen, welche die künstlichen Organe der Amerikaner erleiden. Sobald also der Mensch ein Werkzeuge fabrizierendes Tier wird, tritt er in eine neue Phase seiner Entwicklung: seine zoologische Entwicklung endigt, seine historische Laufbahn beginnt. Darwin bekämpft die Ansicht, dass kein Tier sich eines Werkzeugs bediene. Er führt mehrere Beispiele an, welche das Gegenteil beweisen: im Naturzustand bedient sich der Schimpanse eines Steines, um eine wilde hartschalige Frucht aufzubrechen; in Indien brechen gezähmte Elefanten Baumzweige ab und bedienen sich derselben als Fliegenwedel usw. Alles dies kann durchaus wahr sein. Aber man darf hier vor allen Dingen nicht vergessen, dass quantitative Veränderungen qualitative Unterschiede werden. Der Verwendung von Werkzeugen begegnet man bei den Tieren nur in ihren Anfängen. Ihr Einfluss auf die Lebensweise derselben ist unendlich klein; auf die des Menschen hat dagegen die Verwendung von Werkzeugen einen entscheidenden Einfluss. In diesem Sinne sagt Marx: „Der Gebrauch und die Schöpfung von Arbeitsmitteln, obgleich im Keim schon gewissen Tierarten eigen, charakterisieren den spezifisch menschlichen Arbeitsprozess...“ [37]
Selbstverständlich sind die mechanischen Arbeitsmittel nicht die einzigen, deren sich der Mensch bedient. Aber Marx hält sie für die charakteristischsten. Sie bilden, was er das Knochen- und Muskelsystem der Produktion nennt. Ihre Überbleibsel haben für die Beurteilung untergegangener ökonomischer Gesellschaftsformationen denselben Wert wie die Knochenüberreste für das Studium verschwundener Tiergattungen. „Nicht was gemacht wird, sondern wie, mit welchen Arbeitsmitteln gemacht wird, unterscheidet die ökonomischen Epochen.“ [38] Voll von idealistischen Vorurteilen, ahnten die Historiker und „Soziologen“ vor Marx nicht einmal, was für ein kostbares Mittel, die wichtigsten Entdeckungen zu machen, diese fossile Technologie für sie sein würde. „Darwin hat das Interesse auf die Geschichte der natürlichen Technologie gelenkt, d. h. auf die Bildung der Pflanzen- und Tierorgane als Produktionsinstrumente für das Leben der Pflanzen und Tiere. Verdient die Bildungsgeschichte der produktiven Organe des Gesellschaftsmenschen, der materiellen Basis jeder besonderen Gesellschaftsorganisation, nicht gleiche Aufmerksamkeit? Und wäre sie nicht leichter zu liefern, da, wie Vico sagt, die Menschengeschichte sich dadurch von der Naturgeschichte unterscheidet, dass wir die eine gemacht und die andre nicht gemacht haben?“ [39]
Die modernen Kulturhistoriker sprechen wohl von einer Stein-, Bronze- und Eisenzeit. Diese Einteilung der prähistorischen Zeit geht von dem Hauptmaterial aus, das zur Produktion von Waffen und Geräten diente. Man teilt diese Zeitalter in verschiedene Perioden: zum Beispiel die des behauenen Steins und die des polierten. Die Kulturhistoriker schließen also ihre Augen der fossilen Technologie gegenüber nicht gänzlich. Unglücklicherweise begnügen sie sich gewöhnlich auf diesem Gebiet mit Allgemeinheiten, die nur Gemeinplätze erzeugen können. Und man begibt sich nur dank dem Mangel anderer Daten, in Ermangelung von etwas Besserem auf dies Gebiet. Man verlässt es, sobald man in der eigentlichen Geschichte sich anderen Daten gegenüber sieht, die als des Menschen und seiner Vernunft Würdiger gelten. In dieser Hinsicht folgt man meist dem Beispiel des achtzehnten Jahrhunderts. Man macht es, wie es Condorcet vor hundert Jahren gemacht hat.
In seinem berühmten Werke: Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain beginnt Condorcet mit der Beschreibung der Entwicklung der Produktivkräfte der primitiven Menschen, von den rohesten „Künsten“ bis zum Beginn des Ackerbaus. Er geht selbst so weit, zu erklären, „dass die Kunst, Waffen zu fertigen, Speisen zu bereiten, sich die für diese Bereitung notwendigen Werkzeuge zu verschaffen, die Nahrungsmittel für einige Zeit aufzubewahren, Vorräte davon anzulegen, der erste Charakterzug war, der die menschliche Gesellschaft von denen anderer Tiergattungen unterschied“. Er begreift zugleich sehr wohl, dass eine so wichtige „Kunst“ wie der Ackerbau einen ungeheuren Einfluss auf die Struktur der Gesellschaft haben musste. Aber schon die „dritte Epoche“ der menschlichen Geschichte umfasst bei ihm „die Fortschritte der ackerbauenden Völker bis zur Erfindung der alphabetischen Schrift“; die vierte ist die der Fortschritte des menschlichen Geistes in Griechenland bis zur Zeit der Teilung der Wissenschaften im Jahrhundert Alexanders; die fünfte wird durch die Fortschritte der Wissenschaften charakterisiert usw. Ohne es zu merken, ändert Condorcet vollständig sein Einteilungsprinzip, und man sieht sofort, dass er im Anfang nur deshalb von der Entwicklung der produktiven Kräfte sprach, weil er nicht anders konnte. In gleicher Weise sieht man, dass die auf dem Gebiet der Produktion und des materiellen Lebens der Menschen im allgemeinen gemachten „Fortschritte“ für ihn nur ein Gradmesser der Fortschritte des Geistes sind, denen sie alles verdanken, ohne ihnen jemals etwas Ähnliches erweisen zu können.
Für Condorcet waren die Produktionsmittel die Wirkung, die geistigen Fähigkeiten des Menschen, sein Geist, die Ursache. Und da er als Metaphysiker blind war für jene Dialektik, die einem jeden Prozess in der Natur wie in der Gesellschaft immanent ist, kraft deren jede Ursache nur Ursache ist, nachdem sie Wirkung gewesen, und jede Wirkung ihrerseits Ursache wird; da er die Existenz dieser Dialektik nur in den Fällen bemerkte, wo sie in der speziellen Form des Verhältnisses der Wechselwirkung erschien, so zog er es natürlich vor, den Stier bei den Hörnern zu fassen und sich direkt an die Ursache zu wenden, so oft er es konnte, so oft er nicht gezwungen war, anders zu handeln. Der menschliche Geist war für ihn der große Motor der historischen Bewegung, und diesem Geist legte Condorcet, wie alle „Philosophen“, eine „natürliche“ Tendenz zum Fortschritt bei. Das ist sehr oberflächlich; aber seien wir gerecht: sind die modernen Kulturhistoriker weit von dem Standpunkt Condorcets entfernt? [40]
Es ist sonnenklar, dass die Anwendung von Werkzeugen, so unvollkommen sie auch sein mögen, eine relativ ungeheure Entwicklung der geistigen Fähigkeiten voraussetzt. Es ist viel Wasser den Berg hinabgelaufen, bevor unsere affen-menschlichen Vorfahren so viel „Geist“ erwarben. Wie erwarben sie ihn? Hierüber muss man nicht die Geschichte, sondern die Zoologie befragen. Darwin hat für die Zoologie geantwortet. Wenigstens hat er gezeigt, wie die zoologische Evolution des Menschen bis zu dem fraglichen Punkt gelangen konnte. Allerdings spielt der affen-menschliche „Geist“ in der Hypothese Darwins eine ziemlich passive Rolle, da es sich bei dieser Hypothese nicht mehr um seine angebliche natürliche Tendenz zum Fortschritt handelt, indem er nur durch ein Zusammentreffen von Umständen vorwärtsgetrieben wird, deren Natur sehr wenig erhaben ist. So hätte nach Darwin „der Mensch seine jetzige hervorragende Stellung in der Welt nicht ohne den Gebrauch seiner Hände erreichen können, die so wunderbar geeignet sind, seinem Willen folgend tätig zu sein“. [41] Das behauptete schon Helvétius: die Fortschritte der Extremitäten gelten – horribile dictu [42] – als die Ursache derer des Gehirns, und, was noch schlimmer, die Fortschritte der Extremitäten waren nicht dem affen-menschlichen Geist, sondern dem Einfluss des umgebenden natürlichen Milieus geschuldet.
Wie dem auch sei, die Zoologie übergibt der Geschichte ihren homo schon im Besitz der zur Erfindung und zum Gebrauch der primitivsten Werkzeuge notwendigen Fähigkeiten. Die Geschichte hat also nur die Entwicklung der künstlichen Organe zu verfolgen und ihren Einfluss auf die Entwicklung des Geistes zu enthüllen, wie die Zoologie es für die natürlichen Organe getan hat. Wenn nun die Entwicklung der letzteren durch das natürliche umgebende Milieu beeinflusst worden war, so kann man leicht begreifen, dass dasselbe auch für die künstlichen Organe der Fall war.
Die Einwohner eines Landes ohne Metalle können keine Werkzeuge erfinden, welche den Steinwerkzeugen überlegen sind. Damit der Mensch das Pferd, das Rind, das Schaf usw., die eine so große Rolle in der Entwicklung seiner Produktivkräfte gespielt haben, zähmen konnte, musste er die Länder bewohnen, in denen sie, das heißt ihre zoologischen Vorfahren, in wildem Zustand lebten. Die Kunst der Schifffahrt entstand sicher nicht in Steppen usw. Das natürliche umgebende Milieu, das geographische Milieu, seine Armut oder sein Reichtum haben also einen unbestreitbaren Einfluss auf die Entwicklung der Industrie gehabt. Außerdem hat aber der Charakter des geographischen Milieus in der Geschichte der Kultur noch eine andere, viel bemerkenswertere Rolle gespielt.
„Es ist nicht die absolute Fruchtbarkeit des Bodens“, sagt Marx, „sondern seine Differenzierung, die Mannigfaltigkeit seiner natürlichen Produkte, welche die Naturgrundlage der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit bildet und den Menschen durch den Wechsel der Naturumstände, innerhalb deren er haust, zur Vermannigfachung seiner eignen Bedürfnisse, Fähigkeiten, Arbeitsmittel und Arbeitsweisen spornt. Die Notwendigkeit, eine Naturkraft gesellschaftlich zu kontrollieren, damit hauszuhalten, sie durch Werke von Menschenhand auf großem Maßstab erst anzueignen oder zu zähmen, spielt die entscheidendste Rolle in der Geschichte der Industrie. So z. B. die Wasserreglung in Ägypten, Lombardei, Holland usw. Oder in Indien, Persien usw., wo die Überrieslung durch künstliche Kanäle dem Boden nicht nur das unentbehrliche Wasser, sondern mit dessen Geschlämme zugleich den Mineraldünger von den Bergen zuführt.“ [43]
So gewinnt also der Mensch aus dem natürlichen umgebenden Milieu das Material, um sich künstliche Organe zu schaffen, mit denen er die Natur bekämpft. Der Charakter des natürlichen umgebenden Milieus bestimmt den Charakter seiner produktiven Tätigkeit, seiner Produktionsmittel. Die Produktionsmittel bestimmen aber die wechselseitigen Beziehungen der Menschen in dem Produktionsprozess ebenso unvermeidlich, wie die Bewaffnung einer Armee ihre ganze Organisation, alle wechselseitigen Beziehungen der Individuen bestimmt, aus denen sie sich zusammensetzt. Nun bestimmen aber die wechselseitigen Beziehungen der Menschen in dem gesellschaftlichen Produktionsprozess die ganze Struktur der Gesellschaft. Der Einfluss des natürlichen Milieus auf diese Struktur ist also unbestreitbar. Der Charakter des natürlichen Milieus bestimmt den des sozialen Milieus. [44]
Ein Beispiel:
„Die Notwendigkeit, die Perioden der Nilbewegung zu berechnen, schuf die ägyptische Astronomie und mit ihr die Herrschaft der Priesterkaste als Leiterin der Agrikultur.“ [45]
Aber das ist nur die eine Seite der Sache. Noch eine andere muss gleichfalls berücksichtigt werden, will man nicht zu ganz falschen Schlüssen kommen.
Die Produktionsverhältnisse sind die Wirkung, die Produktivkräfte die Ursache. Aber die Wirkung wird ihrerseits zur Ursache; die Produktionsverhältnisse werden eine neue Quelle der Entwicklung der Produktivkräfte. Dies führt zu einem doppelten Resultat.
Die wechselseitige Beziehung des Gesellschaftsmenschen und des geographischen Milieus ist außerordentlich variabel. Sie ändert sich mit jedem neuen Schritt, den die Produktivkräfte des Menschen in ihrer Entwicklung machen. Infolgedessen erzeugt die Einwirkung des geographischen Milieus auf den Gesellschaftsmenschen verschiedene Resultate in den verschiedenen Phasen der Entwicklung dieser Kräfte. Aber die Veränderungen in dem Verhältnis zwischen dem Menschen und seinem Wohnort haben nichts Zufälliges. Sie konstituieren in ihrer. Folge einen gesetzmäßigen Prozess. Um sich Rechenschaft von diesem Prozess zu geben, muss man vor allem bedenken, dass das natürliche Milieu nicht durch seine Einwirkung auf die menschliche Natur, sondern durch seine Einwirkung auf die Entwicklung der Produktivkräfte ein wichtiger Faktor in der historischen Bewegung der Menschheit wird.
„Die Temperatur dieses Landes“ (es handelt sich um die gemäßigte Zone Asiens. G. P.) „muss mit Rücksicht auf die Natur der Jahreszeiten, welche keine unmäßigen Veränderungen durchzumachen haben, der Temperatur des Frühlings sehr nahe kommen. Unmöglich können aber die Menschen in einem solchen Land mutig und lebhaft sein, Arbeit und Mühen aushalten ... Wenn die Asiaten verzagt, ohne Mut, weniger kriegerisch und von sanfterem Charakter sind als die Europäer, so muss man die Hauptursache davon in der Natur der Jahreszeiten suchen. Ohne große Veränderungen zu erleiden, sind sie bei den ersteren fast gleich und gehen von der Wärme zur Kälte in fast unmerklicher Weise über. In einer solchen Temperatur empfindet nun weder die Seele jene lebhaften Erschütterungen noch der Körper jene plötzlichen Wechsel, die natürlich dem Menschen einen wilderen, unlenksameren, heftigeren Charakter geben, als wenn er in einer stets gleichen Temperatur lebte; denn diese rapiden Übergänge von einem Extrem zum anderen erwecken den Geist des Menschen und entreißen ihn dem Zustand der Trägheit und Sorglosigkeit.“
Diese Zeilen sind vor langer Zeit geschrieben, da sie von Hippokrates stammen. [47] Es gibt aber selbst heute noch viele Schriftsteller, die in ihrer Schätzung des Einflusses des geographischen Milieus auf die Menschheit nicht weitergegangen sind. Wie der Wohnort, so die Rasse, die Moral, die Wissenschaft, die Philosophie, die Religion und als unvermeidliche Folge die sozialen und politischen Einrichtungen. [48]
Dies erscheint sehr plausibel, ist in Wirklichkeit aber ebenso oberflächlich wie alle anderen Versuche, die Phänomene der sozialen Evolution mit Hilfe dieses oder jenes Begriffs von der menschlichen Natur zu erklären.
Buckle hat sehr gut gesagt: der Einfluss des Klimas und des Bodens auf den Menschen ist kein direkter, sondern ein indirekter.
„Sie sind von den bedeutendsten Folgen für die allgemeine Organisation der Gesellschaft gewesen, und aus ihnen sind viele der großen und bemerkenswerten Unterschiede zwischen den Nationen entstanden, die häufig einer fundamentalen Verschiedenheit der verschiedenen Rassen zugeschrieben werden, in welche die Menschheit zerfällt.“ [49] Buckle unterschreibt gern die Bemerkung J. St. Mills, dass „von allen gewöhnlichen Methoden, sich der Betrachtung der Wirkung sozialer und moralischer Einflüsse auf den menschlichen Geist zu entziehen, keine gewöhnlicher ist als die, die Verschiedenheiten im Betragen und Charakter inhärenten natürlichen Verschiedenheiten zuzuschreiben“. Aber derselbe Buckle verfällt, wenn er über den Einfluss der Natur auf die historische Entwicklung der Menschheit spricht, in dieselben Irrtümer, die er mit so viel Wärme und so viel Recht anderen vorhält.
„Erdbeben und vulkanische Ausbrüche sind häufiger und von zerstörender Wirkung in Italien und der spanisch-portugiesischen Halbinsel als in den anderen großen Ländern“ (Europas. G. P.), „und gerade dort ist der Aberglaube am stärksten und sind die abergläubischen Klassen am mächtigsten. In diesen Ländern richtete die Geistlichkeit zuerst ihre Herrschaft auf; in ihnen trat die schlimmste Verderbnis des Christentums ein und hat der Aberglaube am festesten und dauerndsten Fuß gefasst.“ [50]
So beeinflusst also der allgemeine Anblick des Wohnorts nach Buckle nicht nur die Intensität des religiösen Gefühls der Bewohner, sondern auch die soziale Stellung der Geistlichkeit, das heißt die gesamte soziale Struktur der Gesellschaft. Und das ist noch nicht alles.
„Es ist bemerkenswert, dass die größten Maler und fast alle der größten Bildhauer, die das moderne Europa besessen hat, aus Italien oder Spanien stammten. Auf dem Gebiet der Naturwissenschaft hat Italien ohne Zweifel verschiedene Männer von hervorragender Tüchtigkeit hervorgebracht; aber ihre Zahl ist unverhältnismäßig klein, wenn mit der der Künstler und Dichter verglichen.“ [51]
Hier haben also die physischen Eigentümlichkeiten eines Landes entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der Wissenschaften und Künste in demselben. Haben die wärmsten Anhänger der „vulgären“ Theorie der Rassen jemals etwas Gewagteres und weniger Begründetes vorgebracht?
Die wissenschaftliche Geschichte der geistigen Entwicklung der Menschheit ist noch ganz und gar zu schreiben. Auf diesem Gebiet müssen wir uns vorläufig mit mehr oder weniger geistreichen Hypothesen begnügen. Aber es gibt Hypothesen und Hypothesen. Die Buckles von dem Einfluss der Natur hält nicht stand.
In der Tat hat das alte Griechenland ebenso sehr durch seine Denker wie seine Künstler geglänzt. Und doch ist die Natur in Griechenland kaum weniger majestätisch als in Italien oder Spanien. Selbst wenn man annimmt, dass ihr Einfluss auf die menschliche Einbildung stärker in Italien als in dem Vaterland des Perikles ist, so genügt es, daran zu erinnern, dass „Großgriechenland“ gerade das südliche Italien und die benachbarten Inseln umfasste, ohne dass dies es gehindert hätte, viele Denker „hervorzubringen“.
Die schönen Künste haben im modernen Italien und Spanien, wie überall, ihre Geschichte. Die Blüte der italienischen Malerei fällt in eine sehr kurze Periode, die fünfzig bis sechzig Jahre nicht überschreitet. [52] Die Malerei hatte auch in Spanien nur eine kurze Periode der Blüte. Wir sind durchaus nicht imstande, die Ursachen anzuführen, welche die italienische Malerei gerade in dieser Zeit (letztes Viertel des fünfzehnten Jahrhunderts bis erstes Drittel des sechzehnten) und nicht in einer anderen Epoche, zum Beispiel ein halbes Jahrhundert früher oder später haben blühen lassen; aber wir wissen sehr wohl, dass die Natur der italienischen Halbinsel nichts damit zu tun hatte. Diese Natur war im fünfzehnten Jahrhundert dieselbe wie im dreizehnten oder siebzehnten. Aber wenn sich die variable Größe verändert, so geschieht dies doch nicht deswegen, weil die konstante dieselbe bleibt.
Gegenüber dem, was Buckle von dem Einfluss und der Macht der Geistlichkeit in Italien sagt, wenden wir ein, dass kaum ein Beispiel gefunden werden kann, das mehr von Grund aus der These, die es stützen soll, widerspricht. Zunächst gleicht die Rolle des Klerus im katholischen Italien in keiner Weise der des Klerus im alten Rom, obschon die physischen Eigenschaften des Landes keine fühlbare Veränderung erlitten haben. Da zweitens die katholische Kirche eine internationale Organisation war, so verdankte offenbar der Papst, der Führer der „abergläubischen Klasse“, den größten Teil seiner Macht in Italien Ursachen, die nicht nur den physischen Eigenschaften des Landes, sondern auch seiner eigenen sozialen Struktur fremd waren. [53] Mehr als einmal von der römischen Bevölkerung verjagt, konnte sich der „heilige Vater“ in der ewigen Stadt nur dank der Hilfe aus den transalpinen Staaten wieder einrichten. Die gänzlich exzeptionelle Lage Roms, als Sitz des Hauptes der Kirche, musste die Rolle des Klerus in ganz Italien gewaltig beeinflussen. Nur muss man nicht glauben, dass der Klerus in Italien stets mächtiger gewesen sei als in anderen europäischen Ländern, zum Beispiel Deutschland. Das wäre ein großer Irrtum. [54]
Die Gelehrten, die sich mit der Geschichte der Religionen beschäftigten, sind bis heutigen Tages sehr geneigt, jedes Mal auf die Rassenanlagen zurückzugreifen, wenn ihnen in den Glaubenslehren eines Volkes eine Besonderheit aufstößt, deren Ursprung nicht leicht zu enthüllen ist. Trotzdem sind sie durch den Augenschein gezwungen worden, die ursprüngliche Gleichheit der Religionen von Wilden und Barbaren zu konstatieren, die Gegenden des verschiedensten Charakters bewohnen. [55] Sie sehen sich in gleicher Weise gezwungen, den ungeheuren Einfluss der Lebensweise und der Produktionsmittel einer jeden Völkerschaft auf den Charakter ihrer Glaubenslehren anzuerkennen. [56] Die Wissenschaft wird also nur gewinnen, wenn sie alle vagen und „hypothetischen“ Betrachtungen über den direkten Einfluss des geographischen Milieus auf die eine oder andere Eigenschaft des „menschlichen Geistes“ beiseite lässt und vor allem sich bestrebt, den Anteil zu bestimmen, den dies Milieu an der Entwicklung der Produktivkräfte und – durch das Mittel dieser Kräfte – an der ganzen sozialen und geistigen, mit einem Wort historischen Entwicklung der Völker hat. Gehen wir jetzt weiter.
„Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. In der Betrachtung solcher Umwälzungen muss man stets unterscheiden zwischen der materiellen, naturwissenschaftlich treu zu konstatierenden Umwälzung in den ökonomischen Produktionsbedingungen und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen, kurz ideologischen Formen, worin sich die Menschen dieses Konflikts bewusst werden und ihn ausfechten. So wenig man das, was ein Individuum ist, nach dem beurteilt, was es sich selbst dünkt, ebenso wenig kann man eine solche Umwälzungsepoche aus ihrem Bewusstsein beurteilen, sondern muss vielmehr dies Bewusstsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen erklären.“ [57]
Alles Endliche ist dies, sich selbst aufzuheben, in sein Gegenteil überzugehen. Der Leser sieht, dass nach Marx dies gleichfalls für die sozialen und politischen Einrichtungen gilt. Jede gesellschaftliche Einrichtung ist zunächst eine „Entwicklungsform“ der Produktivkräfte. Das ist sozusagen die schöne Zeit ihres Lebens. Sie befestigt sich, entwickelt sich, erreicht ihre Blüte. Instinktiv hängen die Menschen an ihr, proklamieren sie als „göttlich“ oder „natürlich“. Aber allmählich naht das Alter; der Verfall beginnt. Man bemerkt, dass nicht alles in dieser Einrichtung so schön ist, wie man vorher glaubte, man tritt in den Kampf mit ihr; man erklärt sie für „diabolisch“ oder „unnatürlich“, und man beseitigt sie schließlich. Das geschieht, weil die Produktivkräfte der Gesellschaft nicht mehr dieselben sind wie früher, weil sie neue Fortschritte gemacht haben, durch die Veränderungen in den wechselseitigen Beziehungen der Menschen, in dem sozialen Prozess der Produktion herbeigeführt wurden. Die allmählichen quantitativen Veränderungen schlagen in qualitative Unterschiede um. Die Momente dieser Umschläge sind Momente der Sprünge, des Abbrechens des Allmählichen. Das ist dieselbe Dialektik, die wir von Hegel her kennen; und doch ist es nicht dieselbe. In der Philosophie Marx’ ist sie das volle Gegenteil von dem geworden, was sie bei Hegel war. Für Hegel hatte die Dialektik des sozialen Lebens, wie jede Dialektik des Endlichen überhaupt, im letzten Grunde eine mystische Ursache, die Natur des Unendlichen, des absoluten Geistes. Bei Marx hängt sie von ganz reellen Ursachen ab: von der Entwicklung der Produktionsmittel, über welche die Gesellschaft verfügt. Mutatis mutandis [58] nahm Darwin denselben Standpunkt ein, um den Ursprung der Arten zu erklären. Und wie man seit Darwin nicht mehr nötig hat, auf die „angeborene Tendenz“ der Organismen zum „Fortschritt“ (eine Tendenz, deren Existenz Lamarck und Erasmus Darwin zuließen) zurückzugreifen, um die Entwicklung der Arten zu erklären, so brauchen wir uns jetzt in der Sozialwissenschaft nicht mehr an mystische „Tendenzen“ des „menschlichen Geistes“ zu wenden, um uns von seinen „Fortschritten“ Rechenschaft zu geben. Die Art der Menschen, zu leben, genügt uns, um ihre Art, zu fühlen und zu denken, zu erklären.
Fichte beklagte sich bitter darüber, dass „die meisten Menschen leichter dahin zu bringen sein würden, sich für ein Stück Lava im Monde als für ein Ich zu halten“. Jeder gute Philister unserer Zeit würde ebenso sehr zugeben, dass er „ein Stück Lava im Monde“ ist; als die Theorie annehmen, nach der alle seine Ideen, Ansichten und Gebräuche ihren Ursprung den ökonomischen Verhältnissen seiner Zeit verdanken. Er würde an die menschliche Freiheit, an die Vernunft und eine Unzahl anderer, nicht weniger vortrefflicher und respektabler Dinge appellieren. Die guten Philister ahnen nicht einmal, während sie sich gegen Marx entrüsten, dass dieser „beschränkte“ Mensch nur die Widersprüche gelöst hat, in denen sich seit wenigstens einem Jahrhundert die Wissenschaft abquälte.
Nehmen wir ein Beispiel. Was ist die Literatur? – Die Literatur, antworten im Chor die guten Philister, ist der Ausdruck der Gesellschaft. Das ist eine vortreffliche Definition, die nur den einen Fehler hat: sie ist so vage, dass sie nichts besagt. Inwiefern drückt die Literatur die Gesellschaft aus? Und wie spiegelt sich, da sich ja die Gesellschaft entwickelt, die soziale Entwicklung in der Literatur wider? Welche literarischen Formen entsprechen, einer jeden Phase der historischen Entwicklung der Menschheit? Das sind unvermeidliche und durchaus berechtigte Fragen, die indes die erwähnte Definition ohne Antwort lässt. Da außerdem die Literatur ein Ausdruck der Gesellschaft ist, so müssen wir offenbar, bevor wir von der Entwicklung der Literatur sprechen, uns über die Gesetze der sozialen Entwicklung und die verborgenen Kräfte, deren Folge sie ist, klar werden. Der Leser sieht, dass die erwähnte Definition nur deshalb einigen Wert hat, weil sie uns das Problem stellt, welches schon an die „Philosophen“ zur Zeit Voltaires so gut wie an die Historiker und Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts herantrat: Wovon hängt im letzten Grunde die soziale Entwicklung ab?
Schon die Alten wussten sehr wohl, dass zum Beispiel die Beredsamkeit in weitgehendem Maße von den Sitten und der politischen Verfassung einer Gesellschaft abhängt (vergl. den Tacitus zugeschriebenen Dialogus de oratoribus). Die Schriftsteller des letzten Jahrhunderts wussten es ebenso gut. Wie wir in unserer vorausgehenden Studie gezeigt haben, griff Helvétius mehr als einmal zu den Gesellschaftszuständen, um den Ursprung der ästhetischen Geschmacksrichtungen der Menschen zu erklären. Im Jahre 1800 erschien das Buch der Madame de Staël-Holstein „De la Littérature considérée dans ses rapports avec les institutions sociales“. Unter der Restauration und Louis Philipp verkünden Villemain, Sainte-Beuve und viele andere laut, dass literarische Revolutionen nur infolge der sozialen Evolution entstehen. Auf der anderen Seite des Rheins hatten die großen Philosophen, welche die Literatur und die schönen Künste, wie alles, in dem Prozess des Werdens betrachteten, bei all ihrem Idealismus bereits lichtvolle Ansichten über die engen Bande, die jedes Kunstwerk an das soziale Milieu, das den Künstler hervorbringt, binden. [59] Endlich, um nicht diese Aufzählung übermäßig anschwellen zu lassen, hat ein hervorragender Kritiker und Literarhistoriker, H. Taine, als fundamentales Prinzip seiner wissenschaftlichen Ästhetik die allgemeine Regel aufgestellt, dass „eine große Veränderung, die sich in den menschlichen Verhältnissen vollzieht, schrittweise in den menschlichen Gedanken eine entsprechende Veränderung herbeiführt“. Die Frage scheint völlig gelöst der in einer wissenschaftlichen Geschichte der Literatur und schönen Künste zu befolgende Weg klar vorgezeichnet. Und doch sehen wunderbarerweise unsere zeitgenössischen Literarhistoriker in der geistigen Entwicklung der Menschheit nicht klarer, als man vor hundert Jahren sah. Woher kommt diese merkwürdige philosophische Unfruchtbarkeit von Männern, denen es weder an Eifer noch besonders an Gelehrsamkeit mangelt?
Die Ursache braucht man nicht weit zu suchen. Aber um sie zu erfassen, müssen wir vor allem klarstellen, worin die Vorteile und Fehler der modernen wissenschaftlichen Ästhetik bestehen.
Nach Taine „unterscheidet sie sich darin von der alten, dass sie historisch und nicht dogmatisch ist, das heißt, dass sie keine Vorschriften festlegt, sondern Gesetze konstatiert“. Das ist vortrefflich. Wie kann uns aber diese Ästhetik bei dem Studium der Literatur und der verschiedenen Künste leiten? Wie ist ihr Verfahren bei dem Aufsuchen der Gesetze? Wie betrachtet sie ein Kunstwerk?
Hier wenden wir uns an denselben Schriftsteller und lassen ihn, um jedes Missverständnis zu vermeiden, ausführlich selbst reden.
Nachdem er erklärt, dass ein Kunstwerk durch den allgemeinen Zustand des Geistes und der herrschenden Sitten bestimmt wird, und nachdem er diese These durch historische Beispiele belegt hat, fährt er fort:
„In den verschiedensten Fällen, die wir geprüft haben, konnten wir zuerst eine allgemeine Situation bemerken, das heißt das allgemeine Vorhandensein gewisser Güter und gewisser Übel, einen Zustand der Knechtschaft oder der Freiheit, einen Zustand der Armut oder des Reichtums, eine bestimmte Form der Gesellschaft, eine bestimmte Art der Religion; die freie, kriegerische und Sklaven besitzende Stadt in Griechenland; die Unterdrückung, die Invasion, die feudale Räuberei, das begeisterte Christentum im Mittelalter; den Hof im siebzehnten Jahrhundert; die industrielle und gelehrte Demokratie im neunzehnten Jahrhundert, kurz eine Gesamtheit von Zuständen, unter die sich die Menschen gebeugt und unterworfen finden. – Diese Situation entwickelt in ihnen entsprechende Bedürfnisse, bestimmte Fähigkeiten, eigentümliche Gefühle... Nun, diese Gruppe von Gefühlen, Bedürfnissen und Fähigkeiten konstituiert, wenn sie sich vollständig und mit Glanz in einer Seele offenbart, die herrschende Persönlichkeit, das heißt das Vorbild, dem die Zeitgenossen ihre Bewunderung und Sympathie schenken: in Griechenland den jungen nackten Mann von schöner Art, den Meister in allen Leibesübungen; im Mittelalter den ekstatischen Mönch und den verliebten Ritter; im siebzehnten Jahrhundert den vollendeten Höfling; in unseren Tagen Faust und Werther, unersättlich und traurig. Weil diese Persönlichkeit von allen die interessanteste, die wichtigste und sichtbarste, führen die Künstler sie dem Publikum vor, bald in einer lebenden Figur konzentriert, wenn ihre Kunst, wie die Malerei, die Skulptur, der Roman, das Epos und das Theater, nachahmender Art ist; bald in ihre Elemente aufgelöst, wenn ihre Kunst, wie die Architektur und die Musik, Gefühle erweckt, ohne Personen zu schaffen. Man kann also ihre ganze Arbeit dahin zusammenfassen, dass sie diese Persönlichkeit bald darstellen, bald sich an sie wenden: sie wenden sich an sie in den Symphonien Beethovens und in den Einsatzrosen der Kathedralen; sie stellen sie dar im Meleager und den Niobiden des Altertums, im Agamemnon und Achill Racines. So dass die ganze Kunst von ihr abhängt, da sich die ganze Kunst nur damit beschäftigt, ihr zu gefallen oder sie darzustellen. Eine allgemeine Situation, welche bestimmte Neigungen und Fähigkeiten hervorruft; eine herrschende durch die Vorherrschaft dieser Neigungen und Fähigkeiten konstituierte Persönlichkeit; Töne, Formen, Farben oder Worte, welche dieser Persönlichkeit Leben geben oder mit den Neigungen und Fähigkeiten, aus denen sie zusammengesetzt ist, übereinstimmen, das sind die vier Glieder der Reihe. Das erste zieht das zweite, dies das dritte, dies das vierte nach sich, so dass die kleinste Änderung eines der Glieder, insofern sie eine entsprechende Änderung in den folgenden veranlasst und eine entsprechende Änderung in den vorhergehenden Gliedern enthüllt, es ermöglicht, durch reines Schließen von einem zum anderen hinab- oder hinaufzusteigen. Soweit ich urteilen kann, lässt diese Formel nichts außerhalb ihres Bereichs.“ [60]
In Wirklichkeit lässt diese „Formel“ viele sehr wichtige Dinge außerhalb ihres Bereichs. Man könnte auch einige Bemerkungen über die sie begleitenden Betrachtungen machen. So könnte man mit gutem Grund behaupten, dass es im Mittelalter nicht nur den ekstatischen Mönch und den verliebten Ritter als „herrschende Persönlichkeiten“ gab. [61] Ebenso könnte man vielleicht behaupten, dass in „unseren Tagen“ nicht nur die Faust und Werther unsere Künstler begeistern. Wie dem aber auch sei, offenbar bringt uns Taines „Formel“ ein gut Stück in dem Verständnis der Kunstgeschichte weiter und sagt uns unendlich mehr als die vage Definition: „Die Literatur ist der Ausdruck der Gesellschaft.“ Indem sich Taine dieser Formel bediente, hat er sich um die Geschichte der schönen Künste und Literatur wohl verdient gemacht. Aber man lese seine besten Bücher: seine „Philosophie der Kunst“, die wir soeben zitierten, seine Studie über Racine, seine „Geschichte der englischen Literatur“, und sage, ob man befriedigt ist? Sicherlich nicht! Trotz all seines Talents, trotz aller unbestrittenen Vorteile seiner Methode gibt uns der Autor nur Entwürfe, die, selbst als solche betrachtet, viel zu wünschen übriglassen. Die „Geschichte der englischen Literatur“ ist viel mehr eine Reihe brillanter Charakteristiken als eine Geschichte. Was Taine uns von dem alten Griechenland, von Italien zur Zeit der Renaissance, den Niederlanden erzählt, macht uns mit den Hauptzügen der Kunst eines jeden dieser Länder vertraut, aber erklärt uns ihren historischen Ursprung gar nicht oder doch nur in sehr geringem Grade. Und man bemerke wohl, der Fehler ist nicht der des Autors; es ist der seines Standpunktes, seiner Geschichtsauffassung.
Sobald man behauptet, dass die Geschichte der Kunst eng mit der Geschichte des sozialen Milieus verbunden ist, sobald man ausspricht, dass jede große Veränderung in den menschlichen Verhältnissen eine entsprechende Veränderung in den menschlichen Ideen bewirkt, erkennt man die Feststellung der Gesetze der Evolution des sozialen Milieus als notwendig an und gibt zu, dass man sich genaue Rechenschaft von den Ursachen geben muss, die große Veränderungen in den menschlichen Verhältnissen erzeugen, bevor man die Gesetze der Evolution der Kunst richtig aufzustellen vermag. Man muss mit einem Wort die „historische Ästhetik“ auf eine wissenschaftliche Auffassung der Geschichte der Gesellschaften begründen. Hat Taine dies in befriedigender Weise getan? Nein. Materialist in seiner Philosophie der Kunst, ist er Idealist in seiner Geschichtsauffassung. „Wie die Astronomie im Grunde ein Problem der Mechanik und die Physiologie ein Problem der Chemie ist, ebenso ist die Geschichte ein Problem der Psychologie.“ [62] Das soziale Milieu, an das er sich unaufhörlich wendet, betrachtet er als ein Produkt des menschlichen Geistes. Wir finden also bei ihm denselben Widerspruch, dem wir bei den französischen Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts begegnet sind: Die menschlichen Ideen verdanken ihren Ursprung der Lage des Menschen; die Lage des Menschen verdankt den ihren im letzten Grund den menschlichen Gedanken. Und nun fragen wir den Leser: Ist es leicht, die historische Methode in der Ästhetik zu handhaben, wenn man eine so konfuse, sich widersprechende Auffassung von der Geschichte im Allgemeinen hat? Gewiss nicht; man kann außerordentliche Fähigkeiten besitzen und wird doch fern von der Erfüllung der Aufgabe bleiben, die man sich gestellt hat, man wird sich mit einer Ästhetik begnügen müssen, die nur zur Hälfte historisch ist.
Die französischen Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts glaubten die Geschichte der Künste und Literatur erklären zu können, indem sie auf die Eigenschaften der menschlichen Natur zurückgriffen. Die Menschheit durchläuft dieselben Phasen des Lebens wie das Individuum: Kindheit, Jugend, reifes Alter usw.: das Epos entspricht der Kindheit, die Beredsamkeit und das Drama der Jugend, die Philosophie dem reifen Alter usw. [63] Wir haben bereits in einer unserer vorausgehenden Studien gesagt, dass ein solcher Vergleich durchaus unbegründet ist. Hier müssen wir noch bemerken, dass seine „historische“ Ästhetik Taine nicht gehindert hat, sich der „menschlichen Natur“ als eines Schlüssels zur Öffnung aller Türen zu bedienen, die sich der Analyse nicht beim ersten Anlauf öffnen. Nur hat bei Taine der Appell an die menschliche Natur eine andere Form angenommen. Er spricht nicht von den Phasen der Evolution des menschlichen Individuums; stattdessen spricht er oft, unglücklicherweise zu oft, von der Rasse. „Was man Rasse nennt“, sagt er, „sind angeborene und ererbte Dispositionen, welche der Mensen mit sich zur Welt bringt.“ [64] Nichts leichter, jede Schwierigkeit loszuwerden, als wenn man die etwas komplizierteren Phänomene der Tätigkeit diesen angeborenen und ererbten Dispositionen zuschreibt. Aber die historische Ästhetik leidet darunter sehr.
Henry Sumner Maine war fest davon überzeugt, dass in allem, was die soziale Evolution betrifft, ein tiefer Unterschied zwischen der Rasse der Arier und den Rassen „anderen Ursprungs“ bestände. Er hat trotzdem einen bemerkenswerten Wunsch ausgesprochen. „Man kann hoffen“, sagt er, „dass das Denken unserer Zeit binnen kurzem seine Anstrengungen darauf richten wird, sich von der anscheinend zur Gewohnheit gewordenen Leichtfertigkeit zu befreien, mit der Rassentheorien angenommen werden. Viele dieser Theorien scheinen wenig Wert zu haben, es sei denn wegen der Leichtigkeit, mit der man auf ihnen Schlüsse aufbauen kann, die in ungeheuerlichem Missverhältnis zu der geistigen Arbeit stehen, welche sie ihrem Baumeister kosten.“ [65] Man kann nur wünschen, dass sich dieser Wunsch möglichst schnell verwirklichen möge. Unglücklicherweise ist das nicht so leicht, als es auf den ersten Blick scheinen könnte. Maine sagt, dass „viele, vielleicht die meisten Unterschiede in der Art, die zwischen den arischen Unterrassen existieren sollen, tatsächlich Unterschiede im Grade der Entwicklung sind“. Das ist unbestreitbar. Offenbar muss man aber, um den Hauptschlüssel der Rassentheorie nicht mehr nötig zu haben, die Züge, welche die verschiedenen Grade der Entwicklung charakterisieren, richtig zu erfassen wissen. Das ist aber ohne eine widerspruchsfreie Geschichtsauffassung unmöglich. Taine hatte keine solche. Gibt es aber viele Historiker und Kritiker; die eine solche haben?
Wir haben in diesem Augenblick die „Geschichte der deutschen Nationalliteratur“ von Dr. Hermann Kluge vor uns. Diese Geschichte, die, wie uns scheint, in Deutschland ziemlich verbreitet ist, hat als Gebrauchswert absolut nichts Bemerkenswertes. Die Perioden aber, in welche der Autor die deutsche Literaturgeschichte einteilt, verdienen unsere Aufmerksamkeit. Wir haben die folgenden sieben Perioden (S. 7/8 der 14. Auflage):
Der deutsche Leser, kompetenter als wir, kann die Details dieser Einteilung beurteilen. Uns scheint sie gänzlich eklektisch, das heißt nicht nach einem Prinzip, wie es die notwendige Bedingung jeder wissenschaftlichen Klassifikation und Division ist, sondern nach mehreren untereinander inkommensurabeln Prinzipien gemacht zu sein. In den ersten Perioden scheint sich die Literatur unter dem ausschließlichen Einfluss religiöser Ideen zu entwickeln. Dann kommt die dritte und vierte Periode, in der ihre Entwicklung durch die soziale Struktur bestimmt wird, durch die Stellung der Klasse, von der sie „gepflegt“ wird. Vom Jahre 1500 an werden die religiösen Ideen wiederum der Haupthebel der literarischen Evolution: das Zeitalter der Reformation beginnt. Aber diese Hegemonie der religiösen Ideen dauert nur 1½ Jahrhunderte: im Jahre 1624 bemächtigen sich die Gelehrten der Rolle des Demiurgen in der deutschen Literatur usw. Die in Rede stehende Einteilung ist zum mindesten ebenso mangelhaft wie die, welcher sich Condorcet in seiner „Esquisse d'un tableau des progrès de l’esprit humain“ bediente. Und die Ursache dafür ist dieselbe. Kluge weiß so wenig wie Condorcet, wovon die soziale Evolution und ihre Folge, die geistige Evolution der Menschheit, abhängt. Wir haben also mit unserer Behauptung recht, dass auf diesem Gebiet die Fortschritte unseres Jahrhunderts sehr bescheiden gewesen sind.
Kommen wir noch einmal auf H. Taine zurück. Die „allgemeine Situation“, unter deren Einfluss diese oder jene Kunstwerke entstehen, ist für ihn das allgemeine Vorhandensein bestimmter Güter und bestimmter Übel, ein Zustand der Freiheit oder der Knechtschaft, ein Zustand der Armut oder des Reichtums, eine bestimmte Form der Gesellschaft, eine bestimmte Art Religion. Aber der Zustand der Freiheit oder der Knechtschaft, des Reichtums und der Armut, die Form der Gesellschaft endlich sind Züge, die die wirkliche Situation der Menschen „in der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens“ charakterisieren. Die Religion ist die phantastische Form, in der sich die wirkliche Situation der Menschen in ihren Köpfen widerspiegelt. Die eine ist die Ursache, die andere die Wirkung. Wenn man dem Idealismus anhängt, kann man zwar das Gegenteil vorbringen; man kann behaupten, dass die Menschen den religiösen Ideen ihre wirkliche Situation verdanken, und man wird dann als Ursache betrachten, was für uns nur Wirkung ist. Auf jeden Fall aber wird man hoffentlich zugeben, dass man Ursache und Wirkung nicht auf dieselbe Linie stellen darf, wenn es sich darum handelt, die „allgemeine Situation“ einer gegebenen Epoche zu charakterisieren, weil das eine ungeheure Konfusion verursachen würde: man würde ohne Aufhören die wirkliche Situation der Menschen mit dem allgemeinen Zustand ihrer Sitten und ihres Geistes vermengen oder, mit anderen Worten, man würde nicht mehr wissen, was man unter den Worten: die allgemeine Situation, zu verstehen hätte. Und gerade dies ist Taine und außer ihm einer ganzen Reihe von Kunsthistorikern zugestoßen. [66]
Die materialistische Geschichtsauffassung befreit uns endlich von all diesen Widersprüchen. Wenn sie uns auch keine magische Formel – es wäre töricht, eine solche zu beanspruchen – gibt, die uns gestattete, in einem Augenblick alle Probleme der geistigen Geschichte der Menschheit zu lösen, so bringt sie uns doch aus dem Zirkel heraus und zeigt uns einen sicheren Weg wissenschaftlicher Untersuchung.
Wir sind sicher, dass mehr als einer unserer Leser aufrichtig erstaunt sein wird, wenn wir sagen, dass für Marx das Problem der Geschichte in gewissem Sinne auch ein psychologisches Problem war. Indes ist das unbestreitbar. Bereits 1845 schrieb Marx:
„Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus – den Feuerbachschen mit eingerechnet – ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als menschliche sinnliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv. Daher geschah es, dass die tätige Seite, im Gegensatz zum Materialismus, vom Idealismus entwickelt wurde – aber nur abstrakt, da der Idealismus natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt.“ [67]
Was bedeuten diese Worte, welche gewissermaßen das Programm des modernen Materialismus enthalten? Sie bedeuten, dass der Materialismus, will er nicht einseitig bleiben wie bisher; will er nicht sein eigenes Prinzip durch fortwährende Rückkehr zu idealistischen Auffassungen verraten; will er nicht damit den Idealismus auf einem bestimmten Gebiet als den Stärkeren anerkennen, allen Seiten des menschlichen Lebens eine materialistische Erklärung geben muss. Die subjektive Seite dieses Lebens ist gerade die psychologische, der „menschliche Geist“, die Gefühle und Ideen der Menschen. Diese Seite vom materialistischen Standpunkt aus betrachten, heißt, insoweit es sich um die Gattung handelt, die Geschichte der Ideen durch die materiellen Bedingungen der Existenz der Menschen, durch die ökonomische Geschichte erklären. Marx musste umso mehr auf die Lösung des „psychologischen Problems“ hinweisen, als er klar sah, in welchem traurigen Zirkel sich der Idealismus, der sich desselben bemächtigt hatte, abmühte.
So sagt also Marx fast dieselbe Sache, aber mit ein bisschen anderen Worten wie Taine. Sehen wir, wie man die „Formel“ Taines nach diesen anderen Worten abzuändern haben wird.
Ein gegebener Grad der Entwicklung der Produktivkräfte; die gegenseitigen Beziehungen der Menschen zueinander in dem gesellschaftlichen Produktionsprozess, bestimmt durch diesen Grad; eine Form der Gesellschaft, die diese Beziehungen der Menschen ausdrückt; ein bestimmter Zustand des Geistes und der Sitten, der dieser Form der Gesellschaft entspricht; die Religion, die Philosophie, die Literatur, die Kunst in Übereinstimmung mit den Fähigkeiten, den Geschmacksrichtungen und Neigungen, die dieser Zustand erzeugt – wir wollen nicht sagen, dass diese „Formel“ nichts außerhalb ihres Bereichs lässt – weit entfernt! –, aber sie hat, wie uns scheint, den unbestreitbaren Vorteil, besser den Kausalzusammenhang auszudrücken, welcher zwischen den verschiedenen „Gliedern der Reihe“ besteht. Und was die „Beschränktheit“ und „Einseitigkeit“ betrifft, welche man gewöhnlich der materialistischen Geschichtsauffassung vorzuwerfen pflegt, so wird der Leser davon auch nicht die Spur finden.
Bereits die großen deutschen Idealisten, unversöhnliche Feinde jedes Eklektizismus, betrachteten alle Seiten des Lebens eines Volkes als durch ein einziges Prinzip bestimmt. Für Hegel war dies Prinzip die Bestimmtheit des Volksgeistes, „das gemeinschaftliche Gepräge der Religion, der politischen Verfassung, der Sittlichkeit, des Rechtssystems, der Sitten, der Wissenschaft, der Kunst, ja auch der technischen Geschicklichkeit“. Die modernen Materialisten betrachten diesen Volksgeist als eine Abstraktion, ein Gedankending, das ganz und gar nichts erklärt. Marx hat die idealistische Geschichtsauffassung umgestürzt. Aber er ist deshalb nicht zu dem Standpunkt der einfachen Wechselwirkung zurückgekehrt, die noch weniger erklärt als der Volksgeist. Seine Geschichtsphilosophie ist auch monistisch, aber in einem der Hegelschen diametral entgegengesetzten Sinne. Und gerade wegen ihres monistischen Charakters sehen die eklektischen Geister in ihr nur Beschränktheit und Einseitigkeit.
Der Leser hat vielleicht bemerkt, dass bei der Modifizierung der Taineschen Formel nach der marxistischen Geschichtsauffassung wir das, was der französische Autor „die herrschende Persönlichkeit“ nennt, eliminiert haben. Wir haben es mit Absicht getan. Die Struktur der zivilisierten Gesellschaften ist so kompliziert, dass wir streng genommen nicht einmal von einem Zustand des Geistes und der Sitten sprechen sollten, der einer gegebenen Form der Gesellschaft entspricht. Der Zustand des Geistes und der Sitten der Städter ist oft wesentlich von dem der Landleute verschieden, der Geist und die Sitten des Adels gleichen nur sehr wenig denen des Proletariats. Die in der Vorstellung einer Klasse „herrschende Persönlichkeit“ ist daher weit entfernt, in der einer anderen zu herrschen: konnte der Höfling der Zeit des „Sonnenkönigs“ dem französischen Bauern derselben Epoche als Ideal dienen? Taine würde ohne Zweifel einwerfen, dass nicht der Bauer, sondern vielmehr die aristokratische Gesellschaft der Literatur und den Künsten Frankreichs im siebzehnten Jahrhundert ihr Gepräge gegeben habe. Er würde vollständig recht haben. Der Geschichtsschreiber der französischen Literatur jenes Jahrhunderts kann den Zustand des Geistes und der Sitten der Bauern als eine quantité négligeable [68] betrachten. Gehen wir aber zu einer anderen Epoche und nehmen wir die Zeit der Restauration. War die „Persönlichkeit“, die in den Köpfen der Aristokratie dieser Zeit „herrschte“, dieselbe wie die, die in den Köpfen der Bourgeoisie „herrschte“? Sicherlich nicht. Aus Widerspruch gegen die Partisane des Ancien régime [69] wies die Bourgeoisie nicht nur die Ideale der Aristokratie von sich, sondern idealisierte den Geist und die Sitten der Zeit des Kaiserreichs, der Zeit desselben Napoleon, den sie einige Jahre vorher so vollständig aufgegeben hatte. [70] Schon vor 1789 machte sich die Opposition der Bourgeoisie gegen den Geist und die Sitten der Aristokratie in den schönen Künsten durch die Schöpfung des bürgerlichen Schauspiels Luft. „Was gehen mich, den friedlichen Untertan eines monarchistischen Staates des achtzehnten Jahrhunderts, die Revolutionen Athens oder Roms an? Welches wahrhafte Interesse kann ich an dem Tode eines Tyrannen des Peloponnes, an dem Opfer einer jungen Prinzessin in Aulis nehmen? Es gibt in alledem nichts für mich zu sehen, keine Moral, die mir passt“, sagte Beaumarchais in seinem Essai sur le genre dramatique sérieux. Und was er sagt, ist so richtig, dass man sich mit Staunen fragt: Wie konnten es nur die Anhänger der pseudo-klassischen Tragödie nicht begreifen? Was konnten sie „in alledem sehen“? Welche Moral fanden sie darin? Indes lag die Sache einfach. In der pseudo-klassischen Tragödie handelte es sich nur scheinbar um Tyrannen des Peloponnes und Prinzessinnen in Aulis. In Wahrheit war sie, um einen Ausdruck Taines zu gebrauchen, ein fein ausgeführtes Bild der vornehmen Welt und wurde von dieser selben Welt bewundert. Die neue, kommende Welt, die Welt der Bourgeoisie, respektierte jene Tragödie nur aus Tradition oder empörte sich offen gegen sie: weil sie sich auch gegen „die vornehme Welt“ empörte. Die Wortführer der Bourgeoisie sahen etwas Beleidigendes für die Würde des „Bürgers“ in den Regeln der alten Ästhetik. „Menschen von niederem Stand in Not und Unglück vorführen! Pfui doch!“ ruft Beaumarchais ironisch in seinem Lettre sur la critique du Barbier de Séville aus. „Man darf sie nur gehunzt vorführen! Die Bürger lächerlich und die Könige unglücklich: das ist das einzig mögliche Schauspiel, und ich lasse es mir gesagt sein.“
Die zeitgenössischen Bürger (citoyens) Beaumarchais’ waren wenigstens in der Mehrzahl der Fälle Abkömmlinge der französischen Bourgeois, welche die Edelleute mit einem einer besseren Sache würdigen Eifer nachäfften und deshalb von Molière, Dancourt, Regnard und so vielen anderen verspottet wurden. Wir haben also in der Geschichte des Geistes und der Sitten der französischen Bourgeoisie wenigstens zwei wesentlich verschiedene Epochen: die der Nachahmung des Adels, die des Widerspruchs gegen ihn. Eine jede dieser Epochen entspricht einer bestimmten Phase der Entwicklung der Bourgeoisie. Die Neigungen und Geschmacksrichtungen einer Klasse hängen also von dem Grad ihrer Entwicklung und noch mehr von ihrer Stellung gegenüber der höheren Klasse ab, eine Stellung, welche durch die genannte Entwicklung bestimmt wird.
Das besagt, dass der Klassenkampf eine große Rolle in der Geschichte der Ideologie spielt. Und in der Tat ist diese Rolle so wichtig, dass man, mit Ausnahme der primitiven Gesellschaften, in denen es keine Klassen gibt, die Geschichte der Geschmacksrichtungen und Ideen einer Gesellschaft unmöglich begreifen kann, ohne den Klassenkampf, der sich in ihrem Inneren abspielt, einer Betrachtung zu unterziehen.
„Die innerste Seele des gesamten Entwicklungsprozesses der Philosophie der Neuzeit“, sagt Überweg, „ist nicht bloß eine immanente Dialektik spekulativer Prinzipien, sondern vielmehr der Kampf und das Versöhnungsbestreben zwischen der überlieferten und in Geist und Gemüt tief eingewurzelten religiösen Überzeugung und andererseits den durch die Forschung der Neuzeit errungenen Erkenntnissen auf dem Gebiet der Natur- und Geisteswissenschaften.“ [71]
Bei ein wenig mehr Aufmerksamkeit würde Überweg gesehen haben, dass die spekulativen Prinzipien selbst in jedem gegebenen Augenblick nur das Resultat des Kampfes und des Versöhnungsbestrebens waren, wovon er spricht. Er hätte weitergehen und sich fragen müssen: 1. ob die traditionellen religiösen Überzeugungen nicht das natürliche Produkt gewisser Phasen der sozialen Entwicklung waren, 2. ob die Entdeckungen auf dem Gebiet der Natur- und Geisteswissenschaften nicht ihre Quelle in früheren Phasen dieser Evolution hatten, 3. ob es endlich nicht dieselbe Evolution sei, welche – hier oder zu dieser Zeit ein schnelleres Tempo, dort oder zu anderer Zeit ein langsameres einschlagend, nach tausend lokalen Umständen sich modifizierend – sowohl den Kampf zwischen den Glaubenslehren und den neuen, von dem modernen Gedanken erworbenen Ansichten als auch die Waffenstillstände zwischen den beiden kriegführenden Mächten veranlasst hat, deren spekulative Prinzipien die Bedingungen dieser Waffenstillstände in die „göttliche Sprache“ der Philosophie übersetzten?
Die Geschichte der Philosophie von diesem Standpunkt aus betrachten, heißt sie vom materialistischen Standpunkt aus betrachten. Überweg war zwar ein Materialist, aber trotz seiner Gelehrsamkeit scheint er keine Kenntnis von dem dialektischen Materialismus gehabt zu haben. Er hat uns nur das gegeben, was die Geschichtsschreiber der Philosophie gewöhnlich geben, eine einfache Aufeinanderfolge philosophischer Systeme: dies System hat jenes erzeugt, das seinerseits ein drittes erzeugte usw. Aber die Aufeinanderfolge der philosophischen Systeme ist nur ein Faktum, etwas Gegebenes, wie man heute sagt, das seine Erklärung verlangt und das die „immanente Dialektik spekulativer Prinzipien“ nicht zu erklären vermag. Für die Menschen des achtzehnten Jahrhunderts erklärte sich alles durch die Tätigkeit der „Gesetzgeber“. [72] Wir aber wissen bereits, dass diese ihre Ursache in der gesellschaftlichen Entwicklung hat. Werden wir niemals die Geschichte der Ideen mit der der Gesellschaften, die ideelle Welt mit der reellen in Verbindung zu bringen wissen?
„Was man für eine Philosophie wählt“, sagt Fichte, „hängt davon ab, was man für ein Mensch ist.“ Gilt dasselbe nicht auch von jeder Gesellschaft, oder genauer, von jeder gegebenen Klasse einer Gesellschaft? Haben wir nicht das Recht, mit ebenso fester Überzeugung zu sagen: Was für eine Philosophie eine Gesellschaft oder eine Klasse einer Gesellschaft hat, hängt davon ab, was diese Gesellschaft oder diese Klasse ist?
Sicherlich darf man dabei nie vergessen, dass, wenn die in einer Klasse zu einer gegebenen Zeit herrschenden Ideen ihrem Inhalt nach durch die soziale Stellung dieser Klasse bestimmt werden, sie ihrer Form nach eng mit den Ideen zusammenhängen, welche in der vorausgehenden Epoche in derselben oder in der höheren Klasse herrschten. „Auf allen ideologischen Gebieten ist die Tradition eine große konservative Macht.“ (F. Engels)
Man betrachte den Sozialismus. „Der moderne Sozialismus ist seinem Inhalte nach zunächst das Erzeugnis der Anschauung, einerseits der in der modernen Gesellschaft herrschenden Klassengegensätze von Besitzenden und Besitzlosen, Lohnarbeitern und Bourgeois, andrerseits der in der Produktion herrschenden Anarchie. Aber seiner theoretischen Form nach erscheint er anfänglich als eine weitergetriebene, angeblich konsequentere Fortführung der von den großen französischen Aufklärern des achtzehnten Jahrhunderts aufgestellten Grundsätze. Wie jede neue Theorie, musste er zunächst anknüpfen an das vorgefundene Gedankenmaterial, so sehr auch seine Wurzel in den [materiellen] ökonomischen Tatsachen lag.“ [73]
Der formelle, aber entscheidende Einfluss des vorgefundenen Gedankenmaterials macht sich nicht nur im positiven Sinne fühlbar, das heißt nicht nur in dem Sinne, dass zum Beispiel die französischen Sozialisten der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts an dieselben Prinzipien appellieren wie die Aufklärer des vorhergehenden Jahrhunderts. Dieser Einfluss nimmt auch einen negativen Charakter an. Wenn Fourier fortwährend das, was er ironisch die der Vervollkommnung fähige Fähigkeit der Vervollkommnung nannte, bekämpft, so tat er das, weil die Theorie der menschlichen Vervollkommnungsfähigkeit eine große Rolle in den Theorien der Aufklärer gespielt hat. Wenn die französischen utopistischen Sozialisten meistens mit dem lieben Gott auf bestem Fuße stehen, so geschieht das aus Opposition gegen die Bourgeoisie, welche in ihrer Jugend in dieser Hinsicht sehr skeptisch war. Wenn dieselben utopistischen Sozialisten den politischen Indifferentismus verherrlichen, so geschieht das aus Opposition gegen die Doktrin, nach der der „Gesetzgeber alles fertigbringt“. Kurz, im negativen wie im positiven Sinne ist die formelle Seite des französischen Sozialismus in gleicher Weise durch die Lehren der Aufklärer bestimmt und wir müssen diese letzteren sehr wohl im Gedächtnis behalten, wollen wir die Utopisten richtig verstehen.
Welche Verbindung bestand zwischen der ökonomischen Lage der französischen Bourgeoisie zur Zeit der Restauration und dem martialischen Aussehen, welches sich die Kleinbürger, die Ritter von der Elle dieser Zeit, zu geben liebten? Keine direkte Verbindung; der Bart und die Sporen änderten diese Lage weder zum Guten noch zum Schlechten. Aber wir wissen bereits, dass diese groteske Mode in indirekter Weise durch die Lage der Bourgeoisie gegenüber der Aristokratie geschaffen wurde. Auf dem Gebiet der Ideologien lassen sich viele Phänomene nur auf indirekte Weise durch den Einfluss der ökonomischen Bewegung erklären. Das wird sehr häufig nicht nur von den Gegnern, sondern auch von den Anhängern der historischen Theorie Marx’ vergessen.
Da die Evolution der Ideologien im Grunde durch die ökonomische Entwicklung bestimmt wird, so entsprechen die beiden Prozesse stets einander: die „öffentliche Meinung“ passt sich der Ökonomie an. Das besagt aber nicht, dass wir bei unserem Studium der Geschichte der Menschheit mit gleichem Grund die eine oder die andere Seite, die öffentliche Meinung oder die Ökonomie, als Ausgangspunkt nehmen können. Während die ökonomische Entwicklung in großen Zügen hinreichend durch ihre eigene Logik erklärt werden kann, findet der Weg der geistigen Evolution eine Erklärung nur in der Ökonomie. Ein Beispiel wird unseren Gedanken klarmachen.
Zur Zeit Bacons und Descartes’ hatte die Philosophie großes Interesse für die Entwicklung der Produktivkräfte. „An Stelle der spekulativen Philosophie, die man in den Schulen lehrt“, sagt Descartes, „kann man eine praktische setzen, durch die wir die Kraft und Wirkungen des Feuers, des Wassers, der Luft, der Gestirne, des Himmels und aller anderen Körper, die uns umgeben, so genau, wie jetzt die verschiedenen Handwerke unserer Handwerker, kennenlernen würden. Dann könnten wir jene Kräfte und Wirkungen in gleicher Weise zu allem, wozu sie tauglich, verwenden und so uns zu Herren und Besitzern der Natur machen.“ [74] Die ganze Philosophie Descartes’ trägt die Spuren dieses großen Interesses. Das Ziel der Untersuchungen der modernen Philosophen scheint also klar bestimmt zu sein. Ein Jahrhundert vergeht. Der Materialismus – der übrigens, beiläufig gesagt, eine logische Konsequenz der Lehre Descartes’ ist – gewinnt eine große Verbreitung in Frankreich; unter seiner Fahne marschiert der fortgeschrittenste Teil der Bourgeoisie, eine hitzige Polemik entspinnt sich, aber ... die Produktivkräfte sind vergessen: die materialistischen Philosophen sprechen fast niemals davon, sie haben andere Neigungen, die Philosophie scheint eine gänzlich verschiedene Aufgabe gefunden zu haben. Woran liegt das? Waren die Produktivkräfte Frankreichs damals schon zur Genüge entwickelt? Verschmähten die französischen Materialisten jene Beherrschung der Natur durch den Menschen, von der Bacon und Descartes träumten? Keines von beiden! Aber zur Zeit Descartes’ waren, um hier bei Frankreich zu bleiben, die Produktionsverhältnisse des Landes der Entwicklung der Produktivkräfte noch günstig, während sie ein Jahrhundert später ein Hindernis für dieselben wurden. Man musste sie zerstören, und um sie zu zerstören, musste man die Ideen, welche sie heiligten, angreifen. Die ganze Energie der Materialisten, dieser Avantgarde der Theoretiker der Bourgeoisie, vereinigte sich auf diesen Punkt; und ihre ganze Lehre nahm einen kriegerischen Charakter an. Der Kampf gegen den „Aberglauben“ im Namen der „Wissenschaft“ und gegen die „Tyrannei“ im Namen des „Naturrechts“ wurde die wichtigste, praktischste (im Sinne Descartes’) Aufgabe der Philosophie; das unmittelbare Studium der Natur zwecks rapidester Vermehrung der Produktivkräfte trat in die zweite Linie zurück. Als das Ziel erreicht war, als die veralteten Produktionsverhältnisse zerstört waren, nahm der philosophische Gedanke eine andere Richtung, der Materialismus verlor auf lange Zeit seine Bedeutung. Die Bewegung der Philosophie Frankreichs folgt den Veränderungen seiner Ökonomie.
„Im Unterschied von andern Baumeistern zeichnet die Wissenschaft nicht nur Luftschlösser, sondern führt einzelne wohnliche Stockwerke des Gebäudes auf, bevor sie seinen Grundstein legt.“ [75] Ein solches Verfahren erscheint unlogisch, es hat seine Rechtfertigung in der Logik des sozialen Lebens.
Wenn die „Philosophen“ des achtzehnten Jahrhunderts sich erinnerten, dass der Mensch ein Produkt des ihn umgebenden sozialen Milieus ist, so leugneten sie jeden Einfluss, den auf dies Milieu dieselbe „öffentliche Meinung“ üben konnte, die nach ihrer Erklärung in anderen Fällen die Welt regierte. Ihre Logik zerbrach bei jedem Schritt an der einen oder anderen Seite dieser Antinomie. Der dialektische Materialismus löst sie leicht. Für die dialektischen Materialisten regiert allerdings die Meinung der Menschen die Welt, da beim Menschen, wie Engels sagt, „alle Triebkräfte seiner Handlungen durch seinen Kopf hindurchgehen, sich in Beweggründe seines Willens verwandeln müssen“. [76] Das hindert aber nicht, dass die „öffentliche Meinung“ ihre Wurzel in dem sozialen Milieu und im letzten Grunde in den ökonomischen Beziehungen hat; das hindert ebenso wenig, dass jede gegebene „öffentliche Meinung“ altert, sobald die Produktionsweise, welche sie hervorbringt, zu altern beginnt. Die Ökonomie formt die „öffentliche Meinung“, welche die Welt regiert.
Helvétius, der einen Versuch machte, den „Geist“ vom materialistischen Standpunkt aus zu analysieren, scheiterte, dank dem fundamentalen Fehler seiner Methode. Um seinem Prinzip: „der Mensch ist nur Empfinden“, treu zu bleiben, sah sich Helvétius zu der Annahme gezwungen, dass die berühmtesten Geistesriesen und die glorreichen Heroen der Aufopferung für das öffentliche Wohl, wie die elendesten Sykophanten und die unwürdigsten Egoisten nur für sinnliche Vergnügungen gearbeitet hätten. Diderot protestierte gegen dies Paradoxon, entkam aber dem von Helvétius gezogenen Schluss nur durch die Flucht auf das idealistische Gebiet. Wie interessant auch immer Helvétius’ Versuch gewesen war, auf jeden Fall hat er die materialistische Auffassung vom „Geist“ in den Augen des großen Publikums und selbst in denen vieler „Gelehrten“ kompromittiert. Man bildet sich immer ein, dass die Materialisten über diesen Gegenstand nur wiederholen können, was schon Helvétius gesagt hat. Man braucht aber nur den „Geist“ des dialektischen Materialismus zu begreifen, um gewiss zu sein, dass er vor den von seinem metaphysischen Vorgänger begangenen Fehlern sicher ist.
Der dialektische Materialismus betrachtet die Phänomene in ihrer Entwicklung. Nun ist es aber vom evolutionistischen Standpunkt aus eine ebenso große Absurdität, zu sagen, dass die Menschen in bewusster Weise ihre Ideen und ihre moralischen Gefühle ihren ökonomischen Beziehungen anpassen, wie zu behaupten, dass die Tiere und Pflanzen bewusst ihre Organe ihren Existenzbedingungen anpassen. In beiden Fällen haben wir einen unbewussten Prozess, dem man eine materialistische Erklärung geben muss.
Der Mann, dem es gelungen ist, die genannte Erklärung für den Ursprung der Arten zu finden, sagt über den „moralischen Sinn“ folgendes:
„Ich möchte vorausschicken, dass ich durchaus nicht behaupten will, dass ein in des Wortes eigenster Bedeutung geselliges Tier genau denselben moralischen Sinn, wie der menschliche es ist, erlangen würde, wenn nur seine intellektuellen Fähigkeiten sich zu gleicher Tätigkeit und gleicher Höhe entwickeln würden wie bei uns. In derselben Weise wie verschiedene Tiere Schönheitssinn haben, obgleich sie gänzlich abweichende Gegenstände bewundern, so können sie auch sehr wohl einen Sinn für Recht und Unrecht haben, obgleich sie dadurch zu gänzlich verschiedenen Handlungsweisen veranlasst werden. Wenn, um einen ganz extremen Fall zu nehmen, Menschen zum Beispiel unter genau denselben Bedingungen wie Honigbienen auferzogen würden, so kann schwerlich bezweifelt werden, dass unsere unverheirateten Mitmenschen weiblichen Geschlechts es für ihre heilige Pflicht halten würden, ebenso wie die Arbeitsbienen, ihre Brüder zu töten, und Mütter würden suchen, ihre fruchtbaren Töchter zu vertilgen, und niemand würde auch nur daran denken, Einspruch zu erheben. Nichtsdestoweniger würde in unserem Falle die Biene oder irgendein anderes in Gesellschaften lebendes Tier ein Gefühl für Recht oder Unrecht oder ein Gewissen erhalten. Denn jedes Individuum würde ein inneres Empfinden von dem Besitz gewisser Instinkte haben, die stärker und ausdauernder, sowie anderer, die weniger stark und andauernd, so dass oft ein Kampf darüber entstände, welchem Impuls das Individuum gehorchen soll; und Befriedigung oder Unbefriedigung, ja selbst Schmerz würde empfunden werden, sooft vergangene Eindrücke während ihres unaufhörlichen Durchzugs durch das Gehirn miteinander verglichen würden. In diesem Falle würde ein innerlicher Ankläger dem Tiere sagen, dass es besser getan hätte, lieber dem einen als dem anderen Impuls gefolgt zu sein. Der eine Weg hätte eingeschlagen werden sollen, der andere nicht; der eine wäre der rechte gewesen, der andere der unrechte.“ [77]
Diese Zeilen zogen ihrem Verfasser mehr als eine Rüge seitens der „respektabeln“ Leute zu. Ein gewisser Sidgwick schrieb in der „Academy“ von London, dass „eine höher entwickelte Biene“ danach streben würde, eine mildere Lösung der Bevölkerungsfrage zu finden. Wir wollen das von der Biene annehmen; aber dass die englische Bourgeoisie, und nicht allein die englische, keine „mildere“ gefunden hat, dafür kann der Beweis in gewissen ökonomischen, von den „respektabeln“ Leuten sehr respektierten Büchern gefunden werden. Im Juni 1848 und im Mai 1871 waren die französischen Bourgeois durchaus nicht so milde wie „eine höher entwickelte Biene“. Die Bourgeois töteten (und ließen töten) „ihre Brüder“ Arbeiter mit einer unerhörten Grausamkeit, und was hier noch bemerkenswerter für uns ist, mit durchaus ruhigem Gewissen. Sie sagten sich ohne Zweifel, dass sie gerade diesen „Weg“ und „keinen anderen“ „einschlagen“ müssten. Weshalb? Weil die Moral der Bourgeois ihnen durch ihre soziale Stellung, durch ihren Kampf mit den Proletariern auferlegt ist, so gut wie die „Handlungsweise“ der Tiere ihnen durch die Bedingungen ihrer Existenz diktiert wird.
Dieselben französischen Bourgeois betrachten die antike Sklaverei als unmoralisch und verurteilen wahrscheinlich die Abschlachtungen der aufständischen Sklaven, welche im alten Rom stattfanden, als zivilisierter Menschen und selbst intelligenter Bienen unwürdig. Ein Bourgeois comme il faut [78] hat gut „moralisch“ und dem Gemeinwohl ergeben sein; er wird in seiner Auffassung der Moral und des Gemeinwohls nicht die Schranken überschreiten, die ihm unabhängig von seinem Willen und Bewusstsein durch die materiellen Bedingungen seiner Existenz gezogen sind. Und darin unterscheidet sich der Bourgeois in nichts von den Mitgliedern anderer Klassen. Indem er in seinen Ideen und Gefühlen die materiellen Bedingungen seiner Existenz reflektiert, erleidet er nur das gemeine Schicksal der „Sterblichen“.
„Auf den verschiedenen Formen des Eigentums, auf den sozialen Existenzbedingungen, erhebt sich ein ganzer Überbau verschiedener und eigentümlich gestalteter Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen. Die ganze Klasse schafft und gestaltet sie aus ihren materiellen Grundlagen heraus und aus den entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnissen. Das einzelne Individuum, dem sie durch Tradition und Erziehung zufließen, kann sich einbilden, dass sie die eigentlichen Bestimmungsgründe und den Ausgangspunkt seines Handelns bilden.“ [79]
In jüngster Zeit hat Jean Jaurès eine „fundamentale Versöhnung des ökonomischen Materialismus und des Idealismus in ihrer Anwendung auf die Entwicklung der Geschichte“ versucht. [80] Der glänzende Redner kommt ein wenig spät, da die marxistische Geschichtsauffassung nichts auf diesem Gebiete zu „versöhnen“ übriglässt. Marx hat den moralischen Gefühlen gegenüber, welche in der Geschichte eine Rolle spielen, niemals die Augen geschlossen. Er hat nur den Ursprung dieser Gefühle erklärt. Damit Jaurès den Sinn dessen besser zu fassen vermag, was er die „Formel von Marx“ (der sich immer über Menschen mit einer Formel lustig machte) zu nennen beliebt, wollen wir für ihn noch eine Stelle aus dem eben zitierten Buche anführen.
Es handelt sich um die „demokratisch-sozialistische“ Partei, welche in Frankreich 1849 entstand.
„Der eigentümliche Charakter der Sozialdemokratie fasst sich dahin zusammen, dass demokratisch-republikanische Institutionen als Mittel verlangt werden, nicht um zwei Extreme, Kapital und Lohnarbeit, beide aufzuheben, sondern um ihren Gegensatz abzuschwächen und in Harmonie zu verwandeln. Wie verschiedene Maßregeln zur Erreichung dieses Zweckes vorgeschlagen werden mögen, wie sehr er mit mehr oder minder revolutionären Vorstellungen sich verbrämen mag, der Inhalt bleibt derselbe. Dieser Inhalt ist die Umänderung der Gesellschaft auf demokratischem Wege, aber eine Umänderung innerhalb der Grenzen des Kleinbürgertums. Man muss sich nur nicht die bornierte Vorstellung machen, als wenn das Kleinbürgertum prinzipiell ein egoistisches Klasseninteresse durchsetzen wolle. Es glaubt vielmehr, dass die besonderen Bedingungen seiner Befreiung die allgemeinen Bedingungen sind, innerhalb deren allein die moderne Gesellschaft gerettet und der Klassenkampf vermieden werden kann. Man muss sich ebenso wenig vorstellen, dass die demokratischen Repräsentanten nun alle shopkeepers sind oder für dieselben schwärmen. Sie können ihrer Bildung und ihrer individuellen Lage nach himmelweit von ihnen getrennt sein. Was sie zu Vertretern des Kleinbürgers macht, ist, dass sie im Kopfe nicht über die Schranken hinauskommen, worüber jener nicht im Leben hinauskommt, dass sie daher zu denselben Aufgaben und Lösungen theoretisch getrieben werden, wohin jenen das materielle Interesse und die gesellschaftliche Lage praktisch treiben. Dies ist überhaupt das Verhältnis der politischen und literarischen Vertreter einer Klasse zu der Klasse, die sie vertreten.“ (S. 29.)
Die Vortrefflichkeit der dialektischen Methode des Marxschen Materialismus zeigt sich am deutlichsten da, wo es sich darum handelt, Probleme „moralischer“ Art zu lösen, vor denen der Materialismus des achtzehnten Jahrhunderts ohnmächtig stehenblieb. Um aber die Lösungen auch richtig zu begreifen, muss man sich zunächst von metaphysischen Vorurteilen frei machen.
Jaurès sagt umsonst: „Ich will nicht die materialistische Auffassung auf die eine Seite dieser Scheidewand und die idealistische auf die andere stellen“; er kommt gerade zum System der „Scheidewände“ zurück, er stellt auf die eine Seite den Geist, auf die andere die Materie, hier die ökonomische Notwendigkeit, dort die moralischen Gefühle, und hält ihnen dann eine Predigt, indem er ihnen zu beweisen versucht, dass sie sich gegenseitig durchdringen sollten, wie „im organischen Leben des Menschen der Mechanismus des Gehirns und das bewusste Wollen einander durchdringen“. [81]
Aber Jaurès ist nicht der erste beste. Er besitzt viel Wissen, guten Willen und bemerkenswerte Fähigkeiten. Man liest ihn gern (wir haben niemals das Vergnügen gehabt, ihn sprechen zu hören), selbst wenn er sich irrt. Unglücklicherweise gilt das nicht für eine Anzahl Gegner von Marx, die diesen um die Wette angreifen.
Herr Dr. Paul Barth, Autor eines Buches: Die Geschichtsphilosophie Hegels und der Hegelianer bis auf Marx und Hartmann (Leipzig 1890), hat Marx so wenig begriffen, dass es ihm gelungen ist, ihn zu widerlegen. Er hat bewiesen, dass der Autor des Kapital sich auf Schritt und Tritt widerspricht. Sehen wir seine Beweisführung etwas näher an:
„Für den Ausgang des Mittelalters hat Marx selbst Material zu seiner Widerlegung geliefert, indem er (1. Kapitel, S. 737 bis 750 [82]) die Vertreibung der englischen bäuerlichen Hintersassen durch die Feudalherren, welche der steigenden Wollpreise wegen das Land in Schafweide mit wenigen Hirten verwandelten, die sogenannten ‚inclosures‘, und die Verwandlung jener Bauern in vogelfreie Proletarier, die sich nun der aufkommenden Manufaktur zu Gebote stellten, für eine der ersten Ursachen der ursprünglichen ‚Akkumulation‘ des Kapitals erklärt. Diese Agrikulturrevolution geht zwar nach Marx zuletzt auf das Entstehen der Wollmanufaktur zurück, aber nach seiner eigenen Darstellung werden die feudalen Gewalten, die gewinnsüchtigen Ländlords doch zu ihren gewaltsamen Hebeln (1. Kapitel, S. 747), das heißt eine politische Macht wird ein Glied in der Kette der wirtschaftlichen Umwälzungen.“ [83]
Wie wir schon öfter gezeigt haben, waren die Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts davon überzeugt, dass der „Gesetzgeber alles fertigbringt“. Als man aber im Beginn unseres Jahrhunderts sich daran erinnerte, dass der Gesetzgeber, von dem man glaubte, dass er „alles“ fertigbringe, seinerseits durch das soziale Milieu erzeugt werde, als man begriffen hatte, dass die „Gesetzgebung“ eines jeden Landes ihre Wurzel in der sozialen Struktur habe, zeigte man sich oft geneigt, in das entgegen gesetzte Extrem zu fallen: man unterschätzte oft die Rolle des Gesetzgebers, die man zuvor überschätzt hatte. So sagt J. B. Say in der Vorrede zu seinem Traité d’:economie politique: „Lange Zeit hat man die eigentliche Politik, die Wissenschaft der Organisation der Gesellschaft, mit der politischen Ökonomie verwechselt, welche lehrt, wie die Reichtümer entstehen, verteilt und konsumiert werden. Indes sind die Reichtümer von der politischen Organisation wesentlich unabhängig. Unter allen Regierungsformen kann ein Staat blühen, wenn er gut verwaltet wird. Man hat Nationen unter absoluten Monarchen sich bereichern, unter Volksräten zugrunde gehen sehen. Wenn die politische Freiheit der Entwicklung der Reichtümer günstiger ist, so ist sie dies nur indirekt, in der gleichen Weise, wie sie dem Unterricht günstiger ist.“ – Die utopistischen Sozialisten gingen noch weiter. Sie erklärten laut, dass der Reformator der sozialen Organisation nichts mit der Politik zu tun habe. [84] Diese beiden Extreme hatten das Gemeinsame, dass sie beide in dem Mangel einer angemessenen Einsicht in den Zusammenhang wurzelten, der zwischen der sozialen und der politischen Organisation eines Landes besteht. Marx hat diesen Zusammenhang entdeckt, und es war ihm leicht, zu zeigen, wie und warum jeder Klassenkampf ein politischer Kampf ist.
In all diesem hat der scharfsinnige Dr. Barth nur das eine gesehen: dass nach Marx eine politische Handlung, ein „gesetzgeberischer“ Akt keinen Einfluss auf die ökonomischen Beziehungen haben kann; dass nach demselben Marx ein jeder derartige Akt ein bloßer Schein ist, und dass demnach der erste englische Bauer, der im „Ausgang des Mittelalters“ seines Grundbesitzes, das heißt seiner bisherigen ökonomischen Stellung, durch seinen Landlord beraubt wurde, die ganze historische Theorie des berühmten Sozialisten wie ein Kartenhaus umwirft. Voltaires’ Bakkalaureus von Salamanka hat nie eine Probe so großen Scharfsinns gegeben!
Marx widerspricht sich also bei der Beschreibung des englischen „Clearing of Estates“. Herr Barth, ein vortrefflicher Logiker, bedient sich dieses selben Clearing, um zu beweisen, dass das Recht „eine selbständige Existenz führt“. Da aber der Zweck der juristischen Aktion der englischen Landlords ein klein wenig mit ihren ökonomischen Interessen zu tun hatte, so bringt der ehrenwerte Herr Doktor die von jeder Einseitigkeit wahrhaft freie Behauptung vor: „Das Recht führt also eine selbständige, eigene, wenn auch nicht unabhängige Existenz.“ Selbständig, wenn auch nicht unabhängig! Das ist vielseitig und schützt, was noch besser, unseren Herrn Doktor vor jedem „Widerspruch“. Wenn man ihm beweist, dass das Recht durch die Ökonomie bedingt wird, antwortet er: weil es nicht unabhängig ist. Würde man ihm dagegen erklären, dass die Ökonomie durch das Recht bestimmt wird, so riefe er aus, dass er gerade dies mit seiner Theorie der selbständigen Existenz des Rechts sagen wolle.
Der scharfsinnige Herr Doktor behauptet dasselbe von der Moral, der Religion, allen anderen Ideologien. Alle, ohne Ausnahme, sind selbständig, wenn auch nicht unabhängig. Man sieht, es ist die alte, immer neue Geschichte von dem Kampf des Eklektizismus gegen den Monismus, die Geschichte der „Scheidewände“; hier die Materie, dort der Geist, zwei Substanzen, die eine selbständige, eigene, wenn auch nicht unabhängige Existenz führen.
Aber lassen wir die Eklektiker, um zu Marx’ Theorie zurückzukehren. Wir haben noch einige Bemerkungen darüber zu machen.
Schon die wilden Stämme haben Beziehungen – friedliche oder nichtfriedliche – miteinander und, wenn dazu die Gelegenheit, mit barbarischen Völkerschaften und zivilisierten Staaten. Diese Beziehungen beeinflussen natürlich die ökonomische Struktur einer jeden Gesellschaft. „Verschiedne Gemeinwesen finden verschiedne Produktionsmittel und verschiedne Lebensmittel in ihrer Naturumgebung vor. Ihre Produktionsweise, Lebensweise und Produkte sind daher verschieden. Es ist diese naturwüchsige Verschiedenheit, die bei dem Kontakt der Gemeinwesen den Austausch der wechselseitigen Produkte und daher die allmähliche Verwandlung dieser Produkte in Waren hervorruft.“ [85] Die Entwicklung der Warenproduktion führt zur Auflösung der primitiven Gemeinschaft. Im Schoß der Gens entstehen neue Interessen, die endlich eine neue politische Organisation erzeugen; der Klassenkampf beginnt mit all seinen unvermeidlichen Konsequenzen auf dem Gebiet der politischen, moralischen und intellektuellen Evolution der Menschheit. Ihre internationalen Beziehungen werden immer komplizierter und erzeugen Erscheinungen, die auf den ersten Blick der historischen Theorie Marx’ zu widersprechen scheinen.
Peter der Große machte in Russland eine Revolution, die einen ungeheuren Einfluss auf die ökonomische Entwicklung dieses Landes gehabt hat. Nun haben aber nicht Bedürfnisse ökonomischer, sondern politischer Art, die Bedürfnisse des Staates, diesen genialen Menschen zu seinem revolutionären Vorgehen veranlasst. In gleicher Weise zwang die Krimniederlage die Regierung Alexander II., alles, was von ihr abhing, für die Entwicklung des russischen Kapitalismus zu tun. Die Geschichte wimmelt von solchen Beispielen, welche zugunsten der selbständigen Existenz des internationalen, öffentlichen und sonstigen Rechts zu zeugen scheinen. Betrachten wir aber die Sache etwas näher.
Wovon hing die Kraft der Staaten Westeuropas ab, die das Genie des großen Moskowiters erweckte? Von der Entwicklung ihrer Produktivkräfte. Peter begriff dies sehr gut, da er alles aufbot, die Entwicklung dieser Kräfte in seinem Vaterland zu beschleunigen. Woher kamen die Mittel, über die er verfügte? Wie war jene Macht eines asiatischen Despoten entstanden, die er mit einer so furchtbaren Energie handhabte? Diese Macht verdankte der Ökonomie Russlands ihren Ursprung; diese Mittel wurden durch die damaligen russischen Produktionsverhältnisse beschränkt. Trotz seiner furchtbaren Macht und seines eisernen Willens gelang es Peter nicht, konnte es ihm nicht gelingen, aus St. Petersburg ein Amsterdam zu machen oder Russland in eine Seemacht zu verwandeln, wie es der stete Gegenstand seiner Träume war. Die Reform Peters des Großen erzeugte in Russland eine eigentümliche Erscheinung. Peter bemühte sich, die europäischen Manufakturen nach Russland zu verpflanzen. Die Arbeiter fehlten. Er ließ die Staatsleibeigenen in den Manufakturen arbeiten. Die industrielle Leibeigenschaft, eine in Westeuropa unbekannte Form, existierte in Russland bis 1861, das heißt bis zur Emanzipation der Leibeigenen.
Ein nicht weniger bemerkenswertes Beispiel ist die Leibeigenschaft der Landleute in Ostpreußen, Brandenburg, Pommern und Schlesien seit der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts. Die Entwicklung des Kapitalismus in den westlichen Ländern untergrub regelmäßig die feudalen Formen der Ausbeutung des Produzenten. In dem eben bezeichneten Winkel Europas befestigte dieselbe Entwicklung sie für eine ziemlich lange Zeit.
Die Sklaverei in den europäischen Kolonien ist gleichfalls ein auf den ersten Blick paradoxes Beispiel der kapitalistischen Entwicklung. Diese Erscheinung, wie die vorhergehenden, wird nicht durch die Logik des ökonomischen Lebens der Länder, wo sie auftrat, erklärt. Man muss, um sie zu erklären, die internationalen ökonomischen Beziehungen betrachten.
Hier sind wir also unsererseits zu dem Gesichtspunkt der Wechselwirkung zurückgekommen. Es wäre töricht, zu vergessen, dass dies nicht nur ein legitimer, sondern auch ein gänzlich unvermeidbarer Gesichtspunkt ist. Nur wäre es in gleicher Weise absurd, zu vergessen, dass dieser Gesichtspunkt an und für sich nichts erklärt, dass wir, um uns seiner zu bedienen, stets das „Dritte“, „Höhere“ suchen müssen, das für Hegel der Begriff und für uns die ökonomische Situation der Völker und der Länder ist, deren gegenseitiger Einfluss konstatiert und begriffen werden soll.
Die Literatur und schönen Künste eines jeden zivilisierten Landes haben einen mehr oder weniger großen Einfluss auf die Literatur und schönen Künste anderer zivilisierter Länder. Dieser gegenseitige Einfluss ist eine Wirkung der Ähnlichkeit der sozialen Struktur dieser Länder.
Eine im Kampfe mit ihren Gegnern befindliche Klasse erobert sich in der Literatur eines Landes eine Stellung. Wenn dieselbe Klasse in einem anderen Lande sich zu rühren beginnt, bemächtigt sie sich der von ihrer vorgeschritteneren Schwester geschaffenen Ideen und Formen. Aber sie modifiziert dieselben und geht über sie hinaus oder bleibt hinter ihnen zurück, je nach dem Unterschied, der zwischen ihrer Lage und der Lage der Klasse besteht, welche ihre Vorbilder schuf.
Wir haben gesehen, dass das geographische Milieu einen großen Einfluss auf die historische Entwicklung der Völker hatte. Wir sehen jetzt, dass die internationalen Beziehungen vielleicht einen noch größeren Einfluss auf diese Entwicklung haben. Die vereinigte Einwirkung des geographischen Milieus und der internationalen Beziehungen erklärt die ungeheuren Unterschiede, die wir, trotzdem die fundamentalen Gesetze der sozialen Evolution überall dieselben sind, in den historischen Schicksalen der Völker vorfinden.
Man sieht, dass die Marxsche Geschichtsauffassung, anstatt „beschränkt“ und „einseitig“ zu sein, uns ein ungeheures Feld der Forschung öffnet. Es bedarf vieler Arbeit, vieler Geduld und großer Wahrheitsliebe, um nur einen sehr kleinen Teil dieses Feldes gut zu bestellen. Aber es gehört uns; der Erwerb ist gemacht; die Arbeit ist von den Händen unvergleichlicher Meister begonnen, wir haben sie nur fortzusetzen. Und wir haben dies zu tun, wollen wir nicht die geniale Idee von Marx in unseren Köpfen in etwas „Graues“, „Cimmerisches“, „Totenhaftes“ verwandeln.
„Wenn das Denken bei der Allgemeinheit der Ideen stehenbleibt“, sagte Hegel sehr gut, „wie notwendig in den ersten Philosophien (z. B. dem Sein der eleatischen Schule, dem Werden Heraklits und dergl.) der Fall ist, wird ihm mit Recht Formalismus vorgeworfen; auch bei einer entwickelten Philosophie kann es geschehen, dass nur die abstrakten Sätze oder Bestimmungen, z. B. dass im Absoluten alles Eins, die Identität des Subjektiven und Objektiven, aufgefasst und beim Besondern nur dieselben wiederholt werden.“ [86] Man würde uns mit gutem Grund denselben Formalismus vorwerfen können, wenn wir einer gegebenen Gesellschaft gegenüber nur wiederholen könnten: die Anatomie dieser Gesellschaft liegt in ihrer Ökonomie. Das ist unbestreitbar, aber es genügt nicht; man muss einen wissenschaftlichen Gebrauch von einer wissenschaftlichen Idee zu machen wissen; man muss sich Rechenschaft von allen Lebensfunktionen dieses Organismus zu geben wissen, dessen anatomische Struktur durch die Ökonomie bestimmt wird; man muss begreifen, wie er sich bewegt, wie er sich nährt, wie die Empfindungen und Begriffe, die In ihm entstehen, dank dieser anatomischen Struktur das werden, was sie sind; wie sie sich mit den in der Struktur eingetretenen Veränderungen verändern usw. Nur unter dieser Bedingung werden wir weiterkommen; unter dieser Bedingung sind wir aber auch dessen sicher.
Man sieht häufig in der materialistischen Geschichtsauffassung eine Lehre, welche die Unterwerfung der Menschen unter das Joch einer unversöhnlichen, blinden Notwendigkeit verkündet. Nichts ist verkehrter! Gerade die materialistische Geschichtsauffassung zeigt den Menschen den Weg, der sie aus dem Gebiet der Notwendigkeit in das der Freiheit führen wird.
Auf dem Gebiet der Moral ist ein Philister, Eklektiker par excellence, stets ein „Idealist“. Er hängt an dem „Ideal“ mit um so größerer Beharrlichkeit, je ohnmächtiger sich seine Vernunft der traurigen Prosa des sozialen Lebens gegenüber fühlt. Diese Vernunft wird niemals über die ökonomische Notwendigkeit triumphieren: ein Ideal wird immer ein Ideal bleiben; es wird sich niemals realisieren, da es „eine selbständige, eigene, wenn auch nicht unabhängige Existenz führt“, da es ihm unmöglich ist, hinter seiner „Scheidewand“ hervorzukommen. Hier – Geist, Ideal, menschliche Würde, Brüderlichkeit usw.; dort – Materie, ökonomische Notwendigkeit, Ausbeutung, Konkurrenz, Krisen, Bankrotte, gegenseitiger universeller Betrug. Zwischen diesen beiden Reichen ist keine Versöhnung möglich. Die modernen Materialisten haben für einen derartigen „moralischen Idealismus“ nur Verachtung. Sie haben eine viel höhere Auffassung von der Kraft der menschlichen Vernunft. Wohl wird sie in ihrer Entwicklung durch die ökonomische Notwendigkeit vorwärtsgetrieben, aber gerade deshalb ist das wahrhaft Vernünftige keineswegs gezwungen, ewig im Zustand eines „Ideals“ zu bleiben. Was vernünftig ist, das wird auch wirklich, und die ganze unwiderstehliche Kraft der ökonomischen Notwendigkeit nimmt ihre Verwirklichung auf sich.
Die „Philosophen“ des achtzehnten Jahrhunderts wiederholten bis zum Überdruss, dass die öffentliche Meinung die Welt regiert, und dass daher nichts der Vernunft widerstehen kann, die „schließlich stets recht hat“. Indes hatten diese selben Philosophen häufig bedeutende Zweifel an der Kraft der Vernunft, und ihre Zweifel entstanden logischerweise aus der anderen Seite der den „Philosophen“ eigentümlichen Theorie. Da der „Gesetzgeber“ alles fertigbringt, so lässt der Gesetzgeber die Vernunft triumphieren oder löscht ihre Fackeln aus. Man muss daher alles vom „Gesetzgeber“ erwarten. In der Mehrzahl der Fälle kümmern sich aber die Gesetzgeber, die Monarchen, die über das Schicksal ihrer Völker verfügen, sehr wenig um den Triumph der Vernunft. So sind also die Aussichten der Vernunft außerordentlich gering geworden! Es bleibt dem Philosophen nur übrig, auf den Zufall zu rechnen, der früher oder später die Macht einem der Vernunft freundlichen „Fürsten“ geben wird. Wir wissen bereits, dass Helvétius tatsächlich nur auf einen glücklichen Zufall rechnete. Hören wir noch einen anderen Philosophen derselben Epoche.
„Den sonnenklarsten Prinzipien wird häufig am meisten widersprochen; sie haben die Unwissenheit, die Leichtgläubigkeit, die Gewohnheit, die Hartnäckigkeit, die Eitelkeit der Menschen, mit einem Worte die Interessen der Großen und die Stupidität des Volkes zu bekämpfen, die sie immer ihren alten Systemen anhängen lassen. Der Irrtum verteidigt sein Gebiet Schritt für Schritt; nur mit Kämpfen und Ausdauer kann man ihm die geringste seiner Eroberungen entreißen. Man glaube deshalb nicht, dass die Wahrheit unnütz sei; ihr Keim, einmal gesät, bleibt bestehen, trägt mit der Zeit Frucht und erwartet, ähnlich den Saaten, die vor ihrem Aufgehen lange Zeit in der Erde vergraben bleiben, die Umstände, welche ihn entwickeln können... Wenn erleuchtete Souveräne die Nationen regieren, trägt die Wahrheit die Früchte, die man von ihr mit Recht erwartet. Schließlich zwingt die Notwendigkeit die Völker, wenn sie von dem Elend und den zahllosen Unglücksfällen, die ihre Irrtümer erzeugten, ermüdet sind, zur Wahrheit ihre Zuflucht zu nehmen, die allein sie gegen das Unglück schützt, unter dem die Lüge und das Vorurteil sie lange haben leiden lassen.“ [87]
Immer derselbe Glaube an „erleuchtete Fürsten“; immer derselbe Zweifel an der Kraft der „Vernunft“! Man vergleiche mit diesen leeren und furchtsamen Hoffnungen die kraftvolle Überzeugung von Marx, der uns sagt, dass es keinen Fürsten gibt noch jemals geben wird, der der Entwicklung der Produktivkräfte seines Volkes und daher seiner Befreiung von dem Joch veralteter Einrichtungen siegreichen Widerstand zu leisten vermag, und man sage: Wer glaubt fester an die Kraft der Vernunft und ihren endlichen Triumph? Auf der einen Seite ein reserviertes „Vielleicht“, auf der anderen eine Gewissheit, so unerschütterlich wie die, die uns ein mathematischer Beweis gibt.
Die Materialisten konnten nur halb an ihre Gottheit, die „Vernunft“, glauben, da in ihrer Theorie sich diese Gottheit immer an den ehernen Gesetzen der materiellen Welt, an der blinden Notwendigkeit stieß. „Der Mensch erreicht sein Ende“, sagt Holbach, „ohne dass er von dem Moment seiner Geburt an bis zu dem seines Todes einen einzigen Augenblick frei gewesen ist.“ [88] Ein Materialist muss das behaupten, da, wie Priestley sagte, „die Lehre von der Notwendigkeit die unmittelbare Folge der Lehre von der Stofflichkeit des Menschen ist; denn Mechanismus ist die zweifellose Konsequenz des Materialismus“. [89] Solange man aber nicht wusste, wie diese Notwendigkeit die Freiheit des Menschen erzeugen kann, musste man unvermeidlicherweise Fatalist sein. „Alle Ereignisse sind miteinander verbunden“, sagt Helvétius. „Ein im Norden niedergehauener Wald verändert die Winde die Saaten, die Künste des Landes, die Sitten und die Regierung.“ Holbach sprach von den unberechenbaren Folgen, die die Bewegung eines einzigen Atoms in dem Gehirn eines Despoten für die Geschicke eines Reiches haben könne. Der Determinismus der „Philosophen“ ging nicht weiter in der Auffassung der Rolle der Notwendigkeit in der Geschichte; deshalb war auch nach ihnen die historische Bewegung dem Zufall, dieser Scheidemünze der Notwendigkeit, unterworfen. Die Freiheit blieb im Gegensatz zur Notwendigkeit, und der Materialismus verstand nicht, wie Marx sagte, die menschliche Tätigkeit zu erfassen. Die deutschen Idealisten bemerkten diese schwache Seite des metaphysischen Materialismus sehr wohl; es gelang ihnen aber nur mit Hilfe des absoluten Geistes, das heißt mit Hilfe einer Fiktion, die Freiheit mit der Notwendigkeit zu vereinen. Die modernen Materialisten à la Moleschott bewegen sich in den Widersprüchen der Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts. Nur Marx wusste, ohne einen Augenblick die Lehre von der „Stofflichkeit des Menschen“ aufzugeben, die „Vernunft“ und die „Notwendigkeit“ zu versöhnen, indem er die „menschliche Praxis“ betrachtete. Die Menschheit stellt sich „immer nur Aufgäben, die sie lösen kann, denn genauer betrachtet, wird sich stets finden, dass die Aufgabe selbst nur entspringt, wo die materiellen Bedingungen ihrer Lösung schon vorhanden oder wenigstens im Prozess ihres Werdens begriffen sind“. [90]
Die metaphysischen Materialisten sahen, wie die Notwendigkeit die Menschen unterjocht („ein abgehauener Wald“ usw.); der dialektische Materialismus zeigt, wie sie sie befreien wird.
„Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinne von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.“ [91]
Die angeblich fatalistische Theorie Marx’ ist gerade diejenige, die zum ersten Male in der Geschichte der ökonomischen Wissenschaft jenem Fetischismus der Ökonomen ein Ende gemacht hat, der sie die ökonomischen Kategorien – den Tauschwert, das Geld, das Kapital – durch die Natur der materiellen Objekte und nicht durch die der Beziehungen der Menschen in dem Produktionsprozess erklären ließ. [92]
Wir haben hier nicht auseinanderzusetzen, was Marx für die politische Ökonomie geleistet hat. Wir wollen nur bemerken, dass er sich in dieser Wissenschaft derselben Methode bedient, bei ihrer Behandlung denselben Standpunkt einnimmt wie bei der Interpretation der Geschichte: den Standpunkt der Verhältnisse der Menschen im Produktionsprozess. Man kann danach den intellektuellen Wert der besonders im heutigen Russland noch zahlreichen Menschen bemessen, die die ökonomischen Theorien von Marx „anerkennen“ und seine historischen Ansichten „ablehnen“.
Wer begriffen hat, was die dialektische Methode des Marxschen Materialismus ist, kann auch den wissenschaftlichen Wert der Diskussionen beurteilen, die sich von Zeit zu Zeit darüber erhoben, ob sich Marx in seinem „Kapital“ der induktiven oder deduktiven Methode bedient habe. Die Marxsche Methode ist zugleich induktiv und deduktiv. Sie ist obendrein noch die revolutionärste aller Methoden, die man je angewandt hat.
„In ihrer mystifizierten Form“, sagt Marx, „ward die Dialektik deutsche Mode, weil sie das Bestehende zu verklären schien. In ihrer rationellen Gestalt ist sie dem Bürgertum und seinen doktrinären Wortführern ein Ärgernis und ein Gräuel, weil sie in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs einschließt, jede gewordene Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite auffasst, sich durch nichts imponieren lässt, ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist.“ [93]
Holbach, einer der revolutionärsten Vertreter der französischen Philosophie des letzten Jahrhunderts, erschrak vor der Jagd nach Märkten, ohne die die moderne Bourgeoisie nicht bestehen kann. Er hätte gern der historischen Bewegung nach dieser Seite hin Einhalt getan. Marx begrüßt diese selbe Jagd nach Märkten, diesen Profithunger als eine destruktive Kraft der bestehenden Ordnung der Dinge, als eine Vorbedingung der Emanzipation der Menschheit mit Beifall.
„Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. Unveränderte Beibehaltung der alten Produktionsweise war dagegen die erste Existenzbedingung aller früheren industriellen Klassen. Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen, eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen ...
Die Bourgeoisie hat durch ihre Exploitation des Weltmarkts die Produktion und Konsumtion aller Länder kosmopolitisch gestaltet ... An die Stelle der alten lokalen und nationalen Selbstgenügsamkeit und Abgeschlossenheit tritt ein allseitiger Verkehr, eine allseitige Abhängigkeit der Nationen voneinander. Und wie in der materiellen, so auch in der geistigen Produktion. Die geistigen Erzeugnisse der einzelnen Nationen werden Gemeingut. Die nationale Einseitigkeit und Beschränktheit wird mehr und mehr unmöglich, und aus den vielen nationalen und lokalen Literaturen bildet sich eine Weltliteratur.“ [94]
Während die französischen Materialisten das feudale Eigentum bekämpften, sangen sie das Lob des bürgerlichen Eigentums, das für sie die innerste Seele jeder menschlichen Gesellschaft war. Sie sahen nur die eine Seite der Sache. Sie betrachteten das bürgerliche Eigentum als die Frucht der Arbeit des Eigentümers selbst. Marx zeigt, wo die immanente Dialektik des bürgerlichen Eigentums endigt:
„Der Durchschnittspreis der Lohnarbeit ist das Minimum des Arbeitslohnes, d. h. die Summe der Lebensmittel, die notwendig sind, um den Arbeiter als Arbeiter am Leben zu erhalten. Was also der Lohnarbeiter durch seine Tätigkeit sich aneignet, reicht bloß dazu hin, um sein nacktes Leben wieder zu erzeugen... In eurer bestehenden Gesellschaft ist das Privateigentum für neun Zehntel ihrer Mitglieder aufgehoben; es existiert gerade dadurch, dass es für neun Zehntel nicht existiert.“ [95]
So revolutionär sie auch waren, so wandten sich die französischen Materialisten doch nur an die aufgeklärte Bourgeoisie und die „philosophierenden“ Adligen, die in das Lager der Bourgeoisie übergegangen waren. Sie zeigten eine unüberwindliche Furcht vor dem „Pöbel“, dem „Volk“, der „unwissenden Menge“. Die Bourgeoisie war aber und konnte nur zur Hälfte revolutionär sein. Marx wendet sich an das Proletariat, die im vollen Sinne des Wortes revolutionäre Klasse.
„Alle früheren Klassen, die sich die Herrschaft eroberten, suchten ihre schon erworbene Lebensstellung zu sichern, indem sie die ganze Gesellschaft den Bedingungen ihres Erwerbes unterwarfen. Die Proletarier können sich die gesellschaftlichen Produktivkräfte nur erobern, indem sie ihre eigene bisherige Aneignungsweise ... abschaffen. Die Proletarier haben nichts von dem Ihrigen zu sichern, sie haben alle bisherigen Privatsicherheiten und Privatversicherungen zu zerstören.“ [96]
In ihrem Kampfe gegen die damals existierende soziale Ordnung appellierten die Materialisten ohne Aufhören an die „Mächtigen“, an die „aufgeklärten Souveräne“. Sie suchten ihnen zu zeigen, dass ihre Theorien im Grunde sehr harmlos seien. Marx und die Marxisten nehmen den „Mächtigen“gegenüber eine andere Stellung ein.
„Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen. Sie erklären es offen, dass ihre Zwecke nur erreicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung. Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.“ [97]
Es ist nur natürlich, dass eine solche Lehre bei den „Mächtigen“ keine günstige Aufnahme findet. Die Bourgeoisie ist heutzutage eine reaktionäre Klasse geworden: sie bemüht sich, „das Rad der Geschichte zurückzudrehen“ Ihre Ideologen sind nicht einmal imstande, den ungeheuren wissenschaftlichen Wert der Entdeckungen von Marx zu begreifen. Seiner historischen Theorie bedient sich demgegenüber das Proletariat als des sichersten Führers in seinem Emanzipationskampf.
Diese Theorie, die die Bourgeoisie durch ihren angeblichen Fatalismus erschreckt, flößt den Proletariern eine beispiellose Energie ein. Bei seiner Verteidigung der „Lehre von der Notwendigkeit“ gegen die Angriffe Prices sagte Priestley unter anderem: „Um nicht von mir selbst zu sprechen, der ich indes sicherlich nicht das trägste und lebloseste Tier bin, wo könnte er größere Begeisterung, stärkere und unablässigere Anstrengungen oder eifrigere und standhaftere Verfolgung der wichtigsten Aufgaben finden als unter denen, die er als Anhänger der Notwendigkeitslehre (Necessarians) kennt?“ [98]
Priestley spricht von den englischen „christlichen Necessarians“ seiner Zeit. Er mag ihnen mit Recht oder Unrecht eine solche Begeisterung zuschreiben. Man unterhalte sich aber nur ein wenig mit den Herren Bismarck, Caprivi, Crispi oder Casimir-Perier, sie werden Wunder von der Tätigkeit und Energie der „Necessarians“, der „Fatalisten“ unserer Zeit: den sozialdemokratischen Arbeitern, zu erzählen wissen.
1. Siehe elftes Buch der Dichtung und Wahrheit, wo Goethe den Eindruck beschreibt, den Holbachs System der Natur auf ihn machte.
2. Enzyklopädie, herausgegeben von L. v. Henning, § 31.
3. Enzyklopädie, § 81 und Zusatz.
4. Wissenschaft der Logik, 1. Bd., 1. Buch, Nürnberg 1812, S. 42.
5. Die Natur macht keine Sprünge. Die Red.
6. Die Geschichte macht keine Sprünge. Die Red.
7. Logik, 1. Band, 1. Buch, S. 313.
8. Vergl. Pensées et réflexions d’Helvétius im 3. Band der Œuvre complètes, Paris 1818, S. 307.
9. System des transzendentalen Idealismus, Tübingen 1800, S. 426 ff.
10. Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (9. Band der Hegelschen Werke), herausgegeben von E. Gans, S. 22, 80. Vergl. Schelling, a. a. O., S. 424.
11. Vergl. unsere Studie über Holbach.
12. Enzyklopädie, 1. Teil, § 156, Zusatz.
13. Übrigens kann der deutsche Leser statt in dem Buche Holbachs in dem Leben Jesu von H. E. G. Paulus (Heidelberg 1828) blättern. Auch hier haben wir denselben Gesichtspunkt. Nur bemüht sich der deutsche Aufklärer, das zu verherrlichen, was der französische Philosoph mit Leidenschaft bekämpft. Paulus sieht ein Wunder von Güte und Weisheit in derselben Persönlichkeit, welche auf Holbach den Eindruck eines unwissenden und ausschweifenden Lumpenkerls machte.
14. Enzyklopädie, § 13.
15. Philosophie der Geschichte, S. 50/51
16. So vergeht die Herrlichkeit ... der Idee. Die Red.
17. Die heilige Familie, oder: Kritik der kritischen Kritik. Gegen Bruno Bauer und Konsorten. Von Friedrich Engels und Karl Marx. Frankfurt a. M. 1845, S. 79. (Siehe Marx-Engels-Gesamtausgabe, Erste Abtlg., Bd. 3, S. 228. Die Red.)
18. Ebenda, S. 80–84. (Siehe Marx-Engels-Gesamtausgabe, Erste Abtlg., Bd. 3, S. 229–231. Die Red.)
19. Für andere Beispiele dieser Art verweisen wir den Leser auf unseren Artikel Zu Hegels sechzigstem Todestag, Neue Zeit, 1891/92, Nr. 7, 8, 9.
20. Übrigens folgte Lange hierin den Ansichten und Gewohnheiten aller gelehrten Schriftsteller „der guten Gesellschaft“. Hettner seinerseits vergleicht zu wiederholten Malen die Lehre Diderots mit der der modernen Materialisten. Wer ist aber für ihn der Repräsentant der modernen Materialisten? Moleschott. Hettner ist so wenig über den Stand des heutigen Materialismus unterrichtet, dass er etwas sehr Tiefes zu sagen glaubt, wenn er sagt: „Über diese dürftigen Versuche“ (das heißt über die Versuche der Materialisten des achtzehnten Jahrhunderts. G P.) „ist in der Sittenlehre auch heute noch nicht der Materialismus hinausgekommen. Will der Materialismus einen Beweis seiner Lebenskraft geben, so liegt hier seine nächste und bedeutendste Aufgabe.“ (Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, II, S. 402.) Wie spät Sie doch kommen, geehrter Herr!
21. „Dennoch muss man in dem Materialismus das begeisterungsvolle Streben anerkennen, über den zweierlei Welten als gleich substantiell und wahr annehmenden Dualismus hinauszugehen, diese Zerreißung des ursprünglich Einen aufzuheben.“ (Enzyklopädie, 3. Teil, § 389 und Zusatz.) Beiläufig gesagt, hat Hegel in seiner Geschichte der Philosophie in sehr wenig Worten eine bessere Wertschätzung des französischen Materialismus und von Männern wie Helvétius gegeben als die Historiker des Materialismus von Fach.
22. Hume, sa vie, sa Philosophie. Traduit de l’anglais par Gabriel Compayre, Paris 1880, S. 108. Man hat sehr gut gesagt: Der Agnostizismus ist trotz allem nur ein furchtsamer Materialismus, der sich bemüht, den Schein zu wahren.
23. Philosophy of History in France and Germany. Edinburgh and London 1874, S. 503.
24. Die heilige Familie, S. 127. (Siehe Marx-Engels-Gesamtausgabe, Erste Abtlg. Bd. 3, S. 258. Die Red.)
25. Das Kapital, 1. Band, 3. Auflage, Vorwort zur 2. Auflage, S. XIX (Siehe Volksausgabe, Wien–Berlin 1932, S. 17/18. Die Red.)
26. Nach den Ereignissen im Ausgang des letzten und im Beginn des jetzigen Jahrhunderts war es bereits nicht mehr so leicht, zu glauben, dass die „öffentliche Meinung die Welt regiert“: diese Ereignisse haben mehr als einmal die Machtlosigkeit derselben gezeigt. „So viele Ereignisse, die die Gewalt entschied, so viele Verbrechen, die der Erfolg freisprach, so viele Tugenden, die der Tadel brandmarkte, so viel Unglück, das die Macht beschimpfte, so viele edle Gefühle, die zum Gespött wurden, so viele schuftige Berechnungen, die philosophisch erläutert wurden, alles das erschöpft die Hoffnungen selbst jener Menschen, die dem Dienste der Vernunft am treuesten anhängen“, schrieb Madame de Staël im Jahre VIII der französischen Republik. (De la littérature considerée dans ses rapports avec les institutions sociales, 1. Band, S. IV, Einleitung. Allerdings waren alle Utopisten der Zeit der Restauration und Louis Philipps fest davon überzeugt, dass die öffentliche Meinung die Welt regiere. Dies war das Fundamentalprinzip ihrer Geschichtsphilosophie. Wir haben uns hier aber nicht mit der Psychologie der Utopisten zu beschäftigen.
27. Essais sur l’Histoire de France, 10. Ausgabe, Paris 1860, S. 73/74. Die erste Ausgabe dieser Essais erschien 1822.
28. Ebenda, S. 75/76.
29. Œuvres completes de M. Augustin Thierry, 6. Band, 10. Ausgabe, Paris 1866, S. 66. Der zitierte Artikel Vues des revolutions d’Angleterre wurde im Censeur Europeen 1817 veröffentlicht, also einige Jahre vor dem Erscheinen der Essais von Guizot.
30. Augustin Thierry verdankte Saint-Simon die klarsten seiner historischen Ansichten. Saint-Simon hat sehr viel für die Erklärung der historischen Bewegung der Menschheit getan. Aber es ist ihm nicht gelungen, das X zu bestimmen, von dem wir im Texte sprechen. Für ihn ist im Grunde die menschliche Natur die zureichende Ursache der menschlichen Entwicklung. Er scheitert an derselben Klippe wie die materialistischen Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts. Beiläufig gesagt, hoffen wir, den Standpunkt Saint-Simons in einer speziellen Studie darstellen zu können.
31. Guizot, a. a. O., S. 81–83.
32. Die liberalen französischen Historiker der Zeit der Restauration sprechen oft von dem Klassenkampf und, was mehr, sprechen mit voller Sympathie davon. Sie entsetzen sich nicht einmal vor dem Blutvergießen. „Ich wiederhole es also, der Krieg war notwendig, das heißt die Revolution“, ruft Thiers in einer Note seiner Geschichte der Französischen Revolution aus (1. Band, S. 365 der Ausgabe von 1834). „Gott hat den Menschen die Gerechtigkeit nur um den Preis des Kampfes gegeben.“ Solange die Bourgeoisie ihren Kampf gegen die Aristokratie noch nicht vollendet hatte, hatten die Theoretiker der Bourgeoisie nichts gegen den Klassenkampf einzuwenden. Das Erscheinen des gegen die Bourgeoisie kämpfenden Proletariats auf der historischen Bühne hat die Ideen der genannten Theoretiker sehr geändert. Heute ist der „Klassenkampf ein zu „enger“ Gesichtspunkt für sie. Tempora mutantur et nos mutamur in illis! (Die Zeiten ändern sich, und wir verändern uns mit ihnen. Die Red.)
33. Diese Worte Plechanows könnten in dem Sinne verstanden werden, dass die Philosophie, hat sie einmal die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung entdeckt, als Wissenschaft zu bestehen aufhört. In Wirklichkeit ist die Philosophie des Marxismus-Leninismus – der dialektische und historische Materialismus –, als die einzig wissenschaftliche Weltanschauung und die einzige revolutionär-kritische Methode, die allumfassende Grundlage für die Entwicklung aller anderen Wissenschaften von der Natur und Gesellschaft. Die Red.
34. Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort, S. V.
35. Guizot beruft sich in seinen oben zitierten Essais oft ausdrücklich auf die „Bedürfnisse der menschlichen Natur“. Thiers bemüht sich im zweiten Kapitel seines Buches De la propriété zu beweisen, „dass die Beobachtung der menschlichen Natur die wahre Methode sei, die man bei der Darlegung der Rechte des Menschen in der Gesellschaft zu befolgen habe“. Gegen eine solche „Methode“ hätte kein „Philosoph“ des achtzehnten Jahrhunderts etwas einzuwenden gehabt. Noch mehr! Die kommunistischen und sozialistischen Utopisten, welche Thiers bekämpfte, hätten ebenso wenig etwas dagegen zu bemerken gehabt. Diese oder jene Auffassung von der menschlichen Natur diente stets ihren Betrachtungen über die soziale Organisation als Grundlage. Hierin unterschied sich der Standpunkt der Utopisten gar nicht von dem ihrer Gegner. Es versteht sich von selbst, dass dies sie nicht hinderte, andere Menschenrechte „abzuleiten“ als zum Beispiel die Thiersschen.
36. Das Kapital, 3. Auflage, S. 157. (Siehe Volksausgabe, Wien–Berlin 1932, S. 185–187. Die Red.)
37. Ebenda, S. 158. (Siehe Volksausgabe, S. 187/88. Die Red.)
38. Das Kapital, 3. Auflage, S. 158. (Siehe Volksausgabe, S. 188. Die Red.)
39. Ebenda, S. 374/75, Anmerkung 89. (Siehe Volksausgabe, S. 389. Die Red.)
40. Übrigens geben die Ökonomen darin den Kulturhistorikern nichts nach. Als Beispiel diene, was Michel Chevalier von den Fortschritten sagt, welche die Produktivkraft der Arbeit gemacht hat. „Die Produktivkraft des Menschen entwickelt sich unaufhörlich in der Reihenfolge der Epochen der Zivilisation. Diese Entwicklung ist eine der zahlreichen Formen, welche der Fortschritt der Gesellschaft selbst annimmt, und nicht die am wenigsten anziehende.“ (Weltausstellung von 1867. Berichte der internationalen Jury. Einleitung von Michel Chevalier, S. 21/22.) Das also, was die Menschheit vorwärtsbringt, ist der Fortschritt, ein metaphysisches Wesen, das unter seinen anderen zahlreichen Formen auch die der Entwicklung der Produktivkräfte annimmt. Es ist immer dieselbe alte Geschichte von der idealistischen Personifikation der Gedankendinge, der Produkte der Abstraktion; es ist immer der von den sich bewegenden Körpern geworfene Schatten, der uns die Geheimnisse ihrer Bewegungen erklären soll.
41. The decent of man etc., 1. Teil, 2. Kapitel
42. Schrecklich zu sagen. Die Red.
43. Das Kapital, S. 525, 526. (Siehe Volksausgabe, S. 539. Die Red.) „Während also die tropischen Kontinente für sich die Reichtümer der Natur haben, sind die gemäßigten Kontinente die für die Entwicklung des Menschen geeignetsten.“ Géographie physique comparée considérée dans ses rapports avec l’histoire de l’humanité par Arnold Guyot, neue Auflage, Paris 1888, S. 256.
44. Diese These Plechanows kann nicht als richtig betrachtet werden. Bekanntlich hat Plechanow in seinen späteren Schriften geradeheraus erklärt, dass die Entwicklung der gesellschaftlichen Verhältnisse in letzter Instanz durch die Eigenschaften des geographischen Milieus bestimmt wird.
45. Das Kapital, S. 525. (Siehe Volksausgabe, S. 539. Die Red.) In Asien wie in Ägypten „entwickeln sich die Zivilisationen in den leicht kultivierbaren Alluvialebenen ... und schließen sich in gleicher Weise den großen Flüssen an“. Guyot, a. a. O., S. 277. Vergl. Metschnikow, La civilisation et les grands fleuves historiques, Paris 1889.
46. Auch Voltaire leugnete in oberflächlicher Weise den Einfluss des geographischen Milieus auf die menschlichen Gesellschaften, den Montesquieu behauptete. Wir haben gesehen, dass Holbach, durch seine metaphysische Methode in Widersprüche verwickelt, ihn bald leugnete, bald zugab. Im Allgemeinen ist die Konfusion, welche die Metaphysiker aller Schattierungen in das Studium dieser Frage bringen, ohne Zweifel eine der bemerkenswertesten Illustrationen für die Schwäche ihrer Methode.
47. Des airs, des eaux et des lieux, trad. avec texte en regard, de Coray, Paris 1800, S. 76, 85.
48. „Wie das östliche Asien seine ihm eigentümliche physische Natur hat, so hat es auch seine ihm eigentümliche Rasse, die mongolische Rasse ... Bei ihr scheint das melancholische Temperament zu herrschen; die Intelligenz, von mittlerer Begabung, übt sich in Details, erhebt sich aber niemals zu allgemeinen Ideen noch zu tiefen Spekulationen in der Naturwissenschaft und Philosophie. Geschickt, erfinderisch, voll Scharfsinn in den nützlichen, den Komfort des Lebens schaffenden Künsten, weiß der Mongole doch nicht ihre Anwendung zu verallgemeinern. Ganz den Dingen der Erde zugewandt, bleibt ihm die Welt der Ideen, die geistige Welt verschlossen. Seine ganze Philosophie und Religion reduzieren sich darauf, die Prinzipien und Regeln des menschlichen Gewissens auszudrücken, ohne deren Beobachtung die Gesellschaft unmöglich sein würde. A. Guyot, a. a. O., S. 269.
49. History of Civilization in England, (Leipzig 1865, Brockhaus, 1. Band, S. 36, 37.) Übrigens hat hier, wie überall, Buckle nichts Neues gesagt. Geraume Zeit vor ihm, und besser als er, wusste der absolute Idealist Hegel den Einfluss zu schätzen, den die Natur durch das Mittel der Produktivkräfte und besonders der sozialen Organisation auf den Menschen ausübt (vergl. zum Beispiel seine Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, herausgegeben von Gans, S. 99, 100). Die Annahme einer unmittelbaren Einwirkung des geographischen Milieus auf die „menschliche Natur“, oder, was auf dasselbe hinauskommt, auf die Natur der Rasse, ist so wenig haltbar, dass die Schriftsteller, die diese Einwirkung annehmen, sich gezwungen sehen, sie jeden Augenblick aufzugeben. So fügt A. Guyot den in der vorhergehenden Note zitierten Zeilen hinzu: „Der Hauptsitz der mongolischen Rasse ist das zentrale Plateau Asiens. Das Nomadenleben und die patriarchalische Form dieser Gesellschaften“ (der von den Mongolen gegründeten. G. P.) „sind die notwendige Folge der sterilen und trockenen Natur der Gegenden, welche sie bewohnen.“ Ebenso gesteht Hippokrates zu, dass der Mangel an Mut bei den Asiaten zum Teil wenigstens „eine Wirkung der Gesetze ist, denen sie unterworfen sind“ (a. a. O., S. 86). Die Regierung der asiatischen Volker ist monarchisch, sagt er; nun „ist man aber notwendigerweise sehr feige, wo man Königen unterworfen ist“ (a. a. :O., S. 117); „ein starker Beweis für das, was ich vorbringe, ist es, dass in Asien selbst alle jene Griechen und Barbaren, die sich nach eigenen Gesetzen regieren, ohne Tyrannen unterworfen zu sein, und die deshalb für sich selbst arbeiten, die kriegerischsten Menschen sind“ (a. a.&nbso;O., S. 88). Das ist noch nicht die ganze Wahrheit, kommt aber der Wahrheit näher.
50. History of Civilization in England, S. 113.
51. History of Civilization in England, S. 114.
52. „In diesem kurzen Zeitraum blühten die vollendeten Künstler Leonardo da Vinci, Raffael, Michelangelo, Andrea del Sarto, Fra Bartolommeo, Giorgione, Tizian, Sebastian del Piombo, Correggio. Und dieser Zeitraum ist scharf begrenzt; wenn man ihn nach der einen oder anderen Seite überschreitet, begegnet man hier einer unvollendeten, dort einer verfallenden Kunst.“ H. Taine, Philosophie de l’art, 5. Ausgabe, I, S. 126.
53. Über die sozialen Ursachen, welche diese internationale Organisation des Klerus erzeugten, vergl. den ersten Teil des vortrefflichen Buches von K. Kautsky: Thomas More und seine Utopie.
54. Schon der heilige Bernhard riet dem Papst Eugen III., die Römer zu verlassen und Rom gegen die Welt auszutauschen (urbem pro orbe mutatam).
55. „Wir hätten unzählige Verschiedenheiten anfuhren können, die von den Wohnsitzen und den Anlagen einer Rasse abhängen. Wir hätten aber daraus keine prinzipielle Verschiedenheit ableiten können. Ob lächerlich roh oder schon poetisch entwickelt, die Religion des unzivilisierten Menschen ist überall dieselbe. Naturismus, Animismus, Hexenglaube, Fetischismus oder Götzendienst, Opfer, Vorahnung der Fortdauer der Existenz nach dem Tode“ (der Autor, den wir zitieren, ist ein Christ. G. P.), „Annahme der Fortdauer der Formen und Verhältnisse des wirklichen Lebens, Totenfeiern und Bestattung der Verstorbenen gemäß solchem Glauben, das haben wir überall gefunden.“ Les religions des peuples non civilises, par A. Reville, Paris 1883, II, S. 221, 222.
56. „Auf unterster Stufe steht die Religion der Wurzelesser Australiens, welche zwar die Jagd betreiben, aber sich wenig geschickt darin zeigen, und die der Buschmänner, welche zum guten Teil vom Raub leben. Sanft bei den Koikoin oder den Hottentotten und bei den Kaffern, die sich hauptsächlich mit Viehzucht beschäftigen, erscheint dagegen die Religion bei einigen kriegerischen Negerstämmen blutig und grausam, während bei denjenigen, die sich hauptsächlich mit Industrie und Handel beschäftigen, ohne dabei die Viehzucht und den Ackerbau zu vernachlässigen, der Kultus der Gottheit einen menschlicheren und zivilisierteren Charakter trägt, wobei der Handelsgeist gewöhnlich in gewissen Listen gegenüber den Geistern zum Ausdruck kommt. Die Mythen der Polynesier verraten sofort ein Volk von Ackerbauern und Fischern“ usw. (Tiele, Manuel de l’histoire des religions, traduit du hollandais par Maurice Vernes, Paris 1880, S. 18.) „Kurz, es ist unbestreitbar, dass der Festzyklus, wie ihn die jehovistische Gesetzgebung sowie die des Deuteronomiums anordnet, durch den Ackerbau, diese gemeinsame Grundlage des Lebens und der Religion, bestimmt wurde.“ (Revue de l’histoire des religions, II, S. 43.) Wir könnten nach Belieben solche Zitate, eines bezeichnender als das andere, häufen.
57. Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort. S. V, VI. (Siehe Volksausgabe, S. 5. Die Red.)
58. Mit den nötigen Veränderungen. Die Red.
59. Hier folge zum Beispiel, was Hegel über die Malerei bei den Holländern sagt: „Die Befriedigung an der Gegenwart des Lebens, auch im Gewöhnlichsten und Kleinsten, fließt bei ihnen daraus her, dass sie sich, was anderen Völkern die Natur unmittelbar bietet, durch schwere Kämpfe und sauren Fleiß erarbeiten müssen ... Andererseits sind sie ein Volk von Fischern, Schiffern, Bürgern, Bauern und dadurch schon auf den Wert des im Großen und Kleinsten Nötigen und Nützlichen, das sie sich mit emsigster Betriebsamkeit zu verschaffen wissen, von Hause aus angewiesen“ usw. (Vorlesungen über die Ästhetik, herausgegeben von H. G. Hotho, II, S. 222. Vergl. 1. Band, S. 217.)
60. Philosophie de l’art; 5. Ausgabe, Paris 1890, I, S. 116–119.
61. Ohne die volkstümliche Kunst, die Poesie der Landleute und Kleinbürger hier zu erwähnen, so waren selbst die Krieger des Mittelalters nicht immer „verliebte Ritter“ Der Held des berühmten Rolandsliedes ist nur in sein Schwert Durendal „verliebt“.
62. Histoire de la littérature anglaise, 8. Ausgabe, Einleitung. S. XLV.
63. Madame de Staël bedient sich häufig dieser Analogie. „Wenn man die drei verschiedenen Epochen der Literatur der Griechen prüft, bemerkt man darin sehr deutlich den natürlichen Fortschritt des menschlichen Geistes. Die Griechen waren in den ältesten Zeiten ihrer Geschichte berühmt durch ihre Dichter. Homer charakterisiert die erste Epoche der griechischen Literatur; im Jahrhundert des Perikles bemerkt man die rapiden Fortschritte der dramatischen Kunst, der Beredsamkeit, der Moral und die Anfänge der Philosophie; zur Zeit Alexanders wird ein vertieftes Studium der philosophischen Wissenschaften die Hauptbeschäftigung der in der Literatur hervorragenden Männer“ usw. (a. a. O., I, S. 7, 8.) Das ist alles richtig, aber der „natürliche Fortschritt des menschlichen Geistes“ zeigt uns durchaus nicht das Warum einer solchen Entwicklung.
64. Ebenda, S. XXIII.
65. Lectures on the early history of institutions, 6. Ausgabe, S. 96/97.
66. Hier ist zum Beispiel das Urteil Charles Blancs über die Malerei in Holland: „Zusammenfassend können wir sagen, dass drei große Ursachen: die nationale Unabhängigkeit, die Demokratie, der Protestantismus der holländischen Schule ihren Charakter aufgedrückt haben. Einmal frei vom spanischen Joch, haben die sieben Provinzen ihre Malerei entwickelt, die sich ihrerseits vom fremden Stil befreite ... Die republikanische Form hat sie, einmal anerkannt, von der rein dekorativen Kunst, welche die Höfe und Fürsten beherrscht, von dem, was man Dekorationsmalerei (peinture d’apparat) nennt, befreit ... Endlich hat das Familienleben, welches der Protestantismus entwickelt ..., unzählige reizende Genrebilder hervorgebracht, welche die batavische Malerei für immer berühmt machten, da es notwendig geworden war, die Wände dieser traulichen Wohnräume zu schmücken, welche Altarstätten für die Kunstliebhaberel geworden waren.“ (Histoire des peintres de toutes époques, Paris 1861, I, S. 19/20.) Hegel sagt etwas Analoges: „Ihrer Religion nach waren die Holländer, was eine wichtige Seite ausmacht, Protestanten, und dem Protestantismus allein kommt es zu, sich auch ganz in die Prosa des Lebens einzunisten, und sie für sich, unabhängig von religiösen Beziehungen, vollständig gelten und sich in unbeschränkter Freiheit ausbilden zu lassen.“ (Ästhetik, II, S. 222.) Es wäre leicht, durch Zitate aus Hegel selbst zu zeigen, dass es viel logischer ist, zu glauben, dass nicht der Protestantismus die „Prosa des Lebens“ erhoben hat, sondern ganz im Gegenteil die „Prosa des bürgerlichen Lebens“, nachdem sie einen bestimmten Grad von Entwicklung und Stärke erreicht hatte, in ihrem Kampfe gegen die „Prosa“, oder wenn man lieber will, gegen die Poesie des feudalen Regimes den Protestantismus erzeugt hat. Ist dem so, so darf man nicht beim Protestantismus als einer ausreichenden Ursache der Entwicklung der holländischen Malerei stehenbleiben. Man muss bis zu dem „Dritten“, „Höheren“, weitergehen, das sowohl den Protestantismus der Holländer und ihre Regierung (die „Demokratie“, von der C. Blanc spricht) wie ihre Kunst usw. erzeugt hat.
67. Siehe den Anhang zu Ludwig Feuerbach von F. Engels: Marx über Feuerbach. (Siehe: Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, Berlin 1946, S. 54. Die Red.)
68. Eine Größe, die man vernachlässigen kann. Die Red.
69. Parteigänger des alten, vorrevolutionären Regimes. Die Red.
70. „Beamte, Handwerker, Krämer glaubten sich, ohne Zweifel, um besser ihren Liberalismus zur Schau zu tragen, verpflichtet, ihr Gesicht zu verfinstern und einen Schnurrbart zu tragen. Durch ihre Haltung und bestimmte Details ihrer Kleidung hofften sie als die Trümmer unserer heroischen Armee zu erscheinen. Die Ladendiener der Modemagazine begnügten sich nicht mit dem Schnurrbart, sie befestigten, um ihre Metamorphose vollständig zu machen, klirrende Sporen an ihre Stiefel, die sie militärisch auf den Pflastersteinen und Steinplatten der Boulevards klirren ließen.“ (A. Perlet, De l’influence des mœurs sur la comédie, 2. Ausgabe, Paris 1848, S. 52.) Wir haben hier ein Beispiel des Einflusses des Klassenkampfes auf einem Gebiet, das nur von der Laune abzuhängen scheint. Es wäre sehr interessant, in einer Spezialstudie die Geschichte der Moden vom Standpunkt der Psychologie der Klassen zu betrachten.
71. Grundriss der Geschichte der Philosophie, herausgegeben von Dr. Max Heinze, Berlin 1880, 3. Teil, S. 174
72. „Weshalb haben aber die Wissenschaften Zeiten der Ruhe, in denen die Geister nicht mehr schaffen, in denen die Nationen durch eine zu große Fruchtbarkeit erschöpft scheinen? Weil die Entmutigung oft durch imaginäre Irrtümer, durch die Schwäche der regierenden Männer bewirkt wird.“ (Tableau des révolutions de la littérature ancienne et moderne; par l’Abbe de Cournand, Paris 1786, S. 25.)
73. F. Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, Leipzig 1877, S. 1. (Vgl. Friedrich Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, Berlin 1945, S. 27. Die Red.)
74. Discours de la methode, 6. Kapitel.
75. Marx, Zur Kritik der politischen Ökonomie, S. 35. (Siehe Volksausgabe, S. 45. Die Red.)
76. Ludwig Feuerbach, S. 57. (Siehe Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie, Berlin 1946, S. 46. Die Red.)
77. The descent of man, London 1883, S. 99/100.
78. Wie er sein soll. Die Red.
79. Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, S. 26.
80. Vergl. seinen Vortrag über die idealistische Geschichtsauffassung. Neue Zeit, 13. Jahrgang, 2. Band, S. 545 ff.
81. Der Leser, der neugierig genug ist, erfahren zu wollen, wie „die Idee der Gerechtigkeit und des Rechts“ sich mit der ökonomischen Notwendigkeit durchdringen, wird mit großem Vergnügen den Artikel P. Lafargues Recherches sur les origines de l’idee du bien et du juste in Nr. 9 der Revue philosophique von 1885 lesen. Wir begreifen nicht recht, was die Durchdringung der ökonomischen Notwendigkeit durch die genannte Idee eigentlich besagen will. Wenn Jaurès darunter versteht, dass wir die ökonomischen Beziehungen der bürgerlichen Gesellschaft nach unseren moralischen Gefühlen zu reorganisieren versuchen sollen, so antworten wir ihm: 1. Das versteht sich von selbst; aber es dürfte schwer sein, in der Geschichte eine einzige Partei zu finden, die sich den Triumph dessen zur Aufgabe gesetzt hätte, von dem sie selbst glaubt, dass es ihrer „Idee von Recht und Gut“ widerspricht. 2. Dass er sich keine genaue Rechenschaft von dem Sinn gibt, in dem er die Worte gebraucht: er spricht von der Moral, welche nach dem Ausdruck Taines Vorschriften gibt, während die Marxisten in dem, was man ihre Morallehre nennen könnte, Gesetze zu konstatieren versuchen. Ein Missverständnis ist unter diesen Umständen ganz unvermeidlich.
82. Siehe Volksausgabe, S. 751–764. Die Red.
83. a. a. O., S. 49/50.
84. „Wir haben alle möglichen Regierungsformen in unserer zivilisierten Welt. Sind aber die westlichen Länder, die sich mehr oder weniger der demokratischen Staatsform hinneigen, vom geistigen, sittlichen und materiellen Elend minder heimgesucht als die östlichen, mehr oder weniger unter autokratischer Staatsform stehenden Länder? Oder hat Preußens Monarch weniger Herz für das Elend der ärmeren Volksklassen gezeigt als Frankreichs Deputiertenkammer und der König der Franzosen? – Wir sind durch Tatsachen so sehr vom Gegenteil überwiesen, durch Nachdenken so sehr vom Gegenteil überzeugt, dass uns alle politisch-liberalen Bestrebungen mehr als gleichgültig, förmlich zum Ekel geworden sind.“ (M. Hess im Gesellschaftsspiegel von 1846.)
85. Das Kapital, I, S. 353. (Siehe Volksausgabe, S. 369. Die Red.)
86. Enzyklopädie, 1. Teil, § 12, Einleitung.
87. Essai sur les préjugés, de l’influence des opinions sur les mœurs et sur le bonheur des hommes usw., Liege 1797, S. 37. Man schreibt dies Buch Holbach oder dem Materialisten Dumarsais zu, dessen Namen der Titel trägt
88. Le bon sens puisé dans la nature, I, S. 120.
89. A free discussion of the principles of materialism usw., S. 241.
90. Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort, S. VI. (Siehe Volksausgabe, S. 6. Die Red.)
91. Zur Kritik der politischen Ökonomie. (Siehe Volksausgabe, S. 6. Die Red.)
92. „Wie sehr ein Teil der Ökonomen von dem der Warenwelt anklebenden Fetischismus oder dem gegenständlichen Schein der gesellschaftlichen Arbeitsbestimmungen getäuscht wird, beweist u. a. der langweilig abgeschmackte Zank über die Rolle der Natur in der Bildung des Tauschwerts. Da Tauschwert eine bestimmte gesellschaftliche Manier ist, die auf ein Ding verwandte Arbeit auszudrücken, kann er nicht mehr Naturstoff enthalten als etwa der Wechselkurs.
Da die Warenform die allgemeinste und unentwickelste Form der bürgerlichen Produktion ist, weswegen sie früh auftritt ..., scheint ihr Fetischcharakter noch relativ leicht zu durchschauen. Bei konkreteren Formen verschwindet selbst dieser Schein der Einfachheit. Woher die Illusionen des Monetarsystems? Es sah dem Gold und Silber nicht an, dass sie als Geld ein gesellschaftliches Produktionsverhältnis darstellen, aber in der Form von Naturdingen mit sonderbar gesellschaftlichen Eigenschaften. Und die moderne Ökonomie, die vornehm auf das Monetarsystem herabgrinst, wird ihr Fetischismus nicht handgreiflich, sobald sie das Kapital behandelt. Seit wie lange ist die physiokratische Illusion verschwunden, dass die Grundrente aus der Erde wächst, nicht aus der Gesellschaft?“ Das Kapital, S. 52/53. (Siehe Volksausgabe, S. 88/89. Die Red.)
93. Das Kapital, I, 3. Auflage, Nachwort zur 2. Auflage, S. XIX. (Siehe Volksausgabe, S. 18. Die Red.)
94. Manifest der Kommunistischen Partei, 1. Kapitel. (Siehe Neuausgabe, S. 7/8. Die Red.)
95. Ebenda, 2. Kapitel. (Siehe Neuausgabe, S. 18 u. 19. Die Red.) Das Lohngesetz, von dem Marx hier spricht, ist von ihm im Kapital genauer formuliert worden; er zeigt dort, dass es in Wirklichkeit für den Proletarier noch ungünstiger ist. Das in dem Manifest Gesagte genügt aber, um die Illusion zu zerstören, die das neunzehnte Jahrhundert von seinem Vorgänger oder, besser gesagt, seinen Vorgängern ererbt hat.
96. Manifest der Kommunistischen Partei, 1. Kapitel. (Siehe Neuausgabe, S. 14/15. Die Red.)
97. Ebenda, 4. Kapitel. (Siehe Neuausgabe, S. 36. Die Red.)
98. a. a. O., S. 391.
Zuletzt aktualiziert am 21. Mai 2025