Georgi Plechanow


Über die Rolle der Persönlichkeit
in der Geschichte


VI

Sind nun die Einwände Sainte-Beuves begründet? Es hat den Anschein, daß sie einen gewissen Teil Wahrheit enthalten. Aber welchen eigentlich? Um das festzustellen, wollen wir zuerst den (Jedanken betrachten, daß der Mensch durch „plötzliche Entschlüsse seines Willens“ in den Gang der Geschehnisse eine neue Kraft einzuführen vermag, die fähig ist, ihn wesentlich zu verändern. Wir haben einige Beispiele angeführt, die, wie uüs scheint, diesen Gedanken gut erläutern. Denken wir uns in diese Beispiele hinein.

Es ist allbekannt, daß das Kriegswesen während der Regierung Ludwigs XV. in Frankreich immer mehr verfiel. Henri Martin bemerkt, daß im Siebenjährigen Kriege die französischen Truppen, hinter denen stets eine Menge Dirnen, Händler und Diener herzogen, und die dreimal soviel Trainpferde als Reitpferde hatten, eher an die Horden des Darius und Xerxes erinnerten als an die Armeen von Purenne und Gustav Adolf. [17] Archenholz erzählt in seiner Geschichte dieses Krieges, daß die französischen Offiziere, die zur Wache eingeteilt waren, häufig die ihnen anvertrauten Posten verließen, um irgendwo in der Nachbarschaft tanzen zu gehen, und den Befehlen des Kommandos nur dann gehorchten, wenn sie es für nötig und bequem hielten. Dieser klägliche Stand des Militärwesens wurde durch den Niedergang des Adels bedingt, der jedoch nach wie vor alle hohen Aemter in der Armee einnahm, sowie durch die allgemeine Zerrüttung des ganzen „alten Regimes“, das schnell seinem Verfall entgegenging. Allein diese allgemeinen Ursachen hätten vollkommen genügt, um dem Siebenjährigen Krieg eine für Frankreich ungünstige Wendung zu geben. Aber unzweifelhaft ist auch, daß die Unfähigkeit solcher Generale wie Soubise für die französische Armee die durch die allgemeinen Ursachen bedingten Aussichten auf Mißerfolg noch erheblich steigerte. Da sich aber Soubise dank der Madame Pompadour hielt, so wird man zugeben müssen, daß die eitle Marquise einer der „Faktoren“ war, die im Siebenjährigen Krieg die füt Frankreich ungünstige Wirkung der allgemeinen Ursachen auf die Lage der Dinge bedeutend verstärkten.

Die Marquise de Pompadour war nicht durch ihre eigene Macht stark, sondern durch die Macht des Königs, der sich ihrem Willen unterwarf. Kann man etwa sagen, daß der Charakter Ludwigs XV. gerade derart war, wie er nach dem allgemeinen Entwicklungsgang der gesellschaftlichen Verhältnisse in Frankreich unbedingt hätte sein müssen? Nein, bei demselben Gang der Entwicklung hätte seinen Platz ein König innehaben können, der eine andere Einstellung zu den Frauen hatte. Sainte-Beuve würde sagen, daß dazu die Wirkung von dunklen und unfaßbaren physiologischen Ursachen genügt hätte. Und er hätte recht. Wenn dem aber so ist, so übten also diese dunklen physiologischen Ursachen, die den Gang und Ausgang des Siebenjährigen Krieges beeinflußt hatten, dadurch auch einen Einfluß auf die weitere Entwicklung Frankreichs aus, die eine andere gewesen wäre, wenn der Siebenjährige Krieg Frankreich nicht um den größten Teil seiner Kolonien gebracht hätte. Es fragt sich nun: widerspricht diese Schlußfolgerung nicht dem Begriff der Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung?

Nein, nicht im geringsten. So unzweifelhaft in den genannten Fällen die Wirkung der persönlichen Besonderheiten auch sein mag, nicht minder zweifelhaft ist auch, daß diese Wirkung nur unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen eintreten konnte. Nach der Schlacht bei Roßbach waren die Franzosen über Soubises Gönnerin schrecklich ungehalten. Sie bekam täglich eine Menge anonymer Briefe voller Drohungen und Beleidigungen. Das regte die Frau Pompadour sehr auf; sie begann, an Schlaflosigkeit zu leiden. [18] Aber sie fuhr dennoch fort, Soubise zu unterstützen. In einem ihrer Briefe an ihn aus dem Jahre 1762 macht sie die Bemerkung, daß er die auf ihn gesetzten Hoffnungen nicht gerechtfertigt habe, und fügt dann hinzu: „Doch seien Sie unbesorgt, ich werde Ihre Interessen wahrnehmen und werde versuchen, Sie mit dem König auszusöhnen.“ [19] Wie man sieht, machte sie der öffentlichen Meinung keine Zugeständnisse. Warum nicht? Wahrscheinlich, weil die damalige französische Gesellschaft nicht über die Möglichkeit verfügte, sie zu Zugeständnissen zu zwingen. Und warum war die damalige französische Gesellschaft dazu nicht imstande? Sie wurde daran durch ihre Organisation behindert, die ihrerseits von den Wechselbeziehungen der damaligen gesellschaftlichen Kräfte in Frankreich abhing. Aus den Wechselbeziehungen dieser Kräfte ist also in letzter Instanz der Umstand zu erklären, daß die Charaktereigenschaften Ludwigs XV. und die Launen seiner Favoritinnen einen so traurigen Einfluß auf die Geschicke Frankreichs ausüben konnten. Hätte nicht der König eine Schwäche für das weibliche Geschlecht gehabt, sondern irgendein königlicher Koch oder Stallmeister, so wäre ja dieser Schwäche keinerlei historische Bedeutung zugekommen. Es ist klar, daß hier nicht die Schwäche ausschlaggebend ist, sondern die gesellschaftliche Stellung der Person, die an ihr krankt. Der Leser wird einsehen, daß diese Betrachtungen auch auf alle anderen oben angeführten Beispiele angewandt werden können. Man braucht in diesen Betrachtungen nur das zu ändern, was veränderlich ist, zum Beispiel, anstatt Frankreich Rußland zu setzen, anstatt Soubise Buturlin usw. Wir wollen darum diese Betrachtungen nicht wiederholen.

Es ergibt sich, daß die Persönlichkeiten kraft der gegebenen Besonderheiten ihres Charakters die Geschicke der Gesellschaft beeinflussen können. Mitunter ist dieser Einfluß sogar recht beträchtlich, aber sowohl die Möglichkeit einer solchen Beeinflussung selbst als auch ihr Ausmaß werden durch die Organisation der Gesellschaft, durch das Wechselverhältnis ihrer Kräfte bestimmt. Die Charaktereigenschaften der Persönlichkeit sind nur dann, nur dort und nur insofern ein „Faktor“ der gesellschaftlichen Entwicklung, wann, wo und inwiefern die gesellschaftlichen Beziehungen ihnen erlauben, es zu sein.

Man könnte uns entgegnen, daß das Ausmaß des persönlichen Einflusses auch von den Talenten der Persönlichkeit abhängt. Wir werden dem zustimmen. Die Persönlichkeit kann aber nur dann ihre Talente offenbaren, wenn sie die dazu notwendige Stellung in der Gesellschaft einnimmt. Wie kam es, daß das Schicksal Frankreichs in den Händen eines Menschen liegen konnte, dem jede Fähigkeit und jede Lust zum Dienst an der Gesellschaft abging? Weil die gesellschaftliche Organisation Frankreichs so beschaffen war. Diese Organisation bestimmt zu jeder gegebenen Zeit die Rolle und folglich auch die gesellschaftliche Bedeutung, die talentierten oder talentlosen Persönlichkeiten zufallen können.

Wenn aber die Rolle der Persönlichkeit durch die Organisation gier Gesellschaft bestimmt wird, wie kann dann ihr durch diese Rolle bedingter gesellschaftlicher Einfluß dem Begriff der Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Entwicklung widersprechen? Der gesellschaftliche Einfluß widerspricht auch diesem Begriff nicht, sondern dient vielmehr klarer als viele andere zu seiner Illustration.

Hier muß aber folgendes bemerkt werden. Die durch die Organisation der Gesellschaft bedingte Möglichkeit des gesellschaftlichen Einflusses der Persönlichkeiten öffnet Tür und Tor dem Einfluß von sogenannten Zufälligkeiten auf die historischen Geschicke der Völker. Ludwigs XV. Sinnlichkeit war die notwendige Folge des Zustandes seines Organismus. In bezug auf den allgemeinen Entwicklungsgang Frankreichs war aber dieser Zustand etwas Zufälliges. Indes ist er, wie wir schon gesagt haben, nicht ohne Einfluß auf das weitere Schicksal Frankreichs geblieben und ist selber in die Zahl der Ursachen eingegangen, die dieses Schicksal bedingt haben. Mirabeaus Tod wurde natürlich durch ganz gesetzmäßige pathologische Prozesse verursacht. Die Notwendigkeit dieser Prozesse entsprang aber keineswegs dem allgemeinen Entwicklungsgang Frankreichs; sondern gewissen privaten Besonderheiten des Organismus des berühmten Redners und jenen physischen Bedingungen, unter denen er sich angesteckt hatte. In bezug auf den allgemeinen Entwicklungsgang Frankreichs sind diese Besonderheiten und diese Bedingungen zufällig. Indes hat Mirabeaus Tod den weiteren Verlauf der Revolution beeinflußt und gehört zu den Ursachen, die diesen Verlauf bedingten.

Noch auffallender ist die Wirkung zufälliger Ursachen in dem oben angeführten Beispiel Friedrichs II., der nur dank, der Unentschlossenheit Buturlins einer höchst schwierigen Situation entronnen war. Buturlins Amtseinsetzung konnte sogar im Verhältnis zum allgemeinen Entwicklungsgang Rußlands, in dem von uns festgelegten Sinne dieses Wortes, zufällig sein; zu der allgemeinen Entwicklung Preußens stand er allerdings in gar keinem Verhältnis. Indes ist die Vermutung nicht von der Hand zu weisen, daß Friedrich dank Buturlins Unentschlossenheit einer verzweifelten Lage entronnen ist; Hätte an der Stelle von Buturlin Suworow gestanden, so hätte sich die Geschichte Preußens vielleicht anders gestaltet. Demnach hängt mitunter das Schicksal der Staaten von Zufälligkeiten ab, die man als Zufälligkeften zweiten Grades bezeichnen kann. „In allem Endlichen ist ein Element des Zufälligen“, sagt Hegel. In der Wissenschaft haben wir es nur mit dem „Endlichen“ zu tun; deshalb kann man sagen, daß in allen Prozessen, die von der Wissenschaft erforscht werden, ein Element des Zufälligen ist. Schließt das etwa die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Erkenntnis der Erscheinungen aus? Mitnichten. Das Zufällige ist etwas Relatives. Es tritt nur im Schnittpunkt notwendiger Prozesse auf. Das Auftauchen der Europäer in Amerika war für die Bewohner Mexikos und Perus etwas Zufälliges in dem Sinne, daß es sie nicht aus der gesellschaftlichen Entwicklung dieser Länder ergab. Nicht zufällig war aber die Vorliebe für die Seeschiffahrt, von der die Westeuropäer am Ausgang des Mittelalters erfaßt wurden; nicht zufällig war der Umstand, daß die Kraft der Europäer den Widerstand der Eingeborenen leicht überwand. Nicht zufällig waren auch die Folgen der Eroberung Mexikos und Perus durch die Europäer; diese Folgen bildeten letzten Endes die Resultante zweier Kräfte: der ökonomischen Lage der eroberten Länder einerseits, und der ökonomischen Lage der Eroberer anderseits. Diese Kräfte können aber, ebenso wie ihre Resultante, durchaus Gegenstand einer streng wissenschaftlichen Untersuchung sein.

Die Zufälligkeiten des Siebenjährigen Krieges übten einen starken Einfluß auf die weitere Geschichte Preußens aus. Aber ihr Einfluß wäre ein ganz anderer gewesen, wenn sie Preußen auf einer anderen Entwicklungsstufe angetroffen hätten. Die Folgen der Zufälligkeiten waren auch hier durch die Resultante zweier Kräfte bestimmt: der sozialen und politischen Lage Preußens einerseits, und der sozialen und politischen Lage der europäischen Länder, von denen Preußen beeinflußt wurde, anderseits. Folglich hindert das Zufällige auch hier keineswegs, die Erscheinungen wissenschaftlich zu erforschen.

Wir wissen nun, daß Persönlichkeiten häufig einen starken Einfluß auf das Schicksal der Gesellschaft ausüben, daß aber dieser Einfluß durch ihre innere Verfassung und ihr Verhältnis zu anderen Gesellschaften bestimmt wird. Dadurch ist aber die Frage nach der Rolle der Persönlichkeit in der Geschichte nicht erschöpft. Wir müssen diese Frage noch von einer anderen Seite anfassen.

Sainte-Beuve war der Ansicht, daß beim Vorhandensein einer genügenden Anzahl geringfügiger und dunkler Ursachen der von ihm genannten Art die französische Revolution einen Ausgang hätte haben können, der dem uns bekannten Ausgang entgegengesetzt wäre. Das ist ein großer Irrtum. Welche wunderlichen Verflechtungen die geringen physiologischen und psychologischen Ursachen auch hätten eingehen mögen, sie hätten doch keinesfalls die großen gesellschaftlichen Nöte beseitigt, die die französische Revolution hervorgerufen haben; und solange diese Nöte unbefriedigt geblieben wären, wäre die revolutionäre Bewegung in Frankreich nicht zum Stillstand gekommen. Damit der Ausgang dieser Bewegung dem tatsächlich eingetretenen hätte entgegengesetzt sein können, hätte man diese Bedürfnisse durch andere, ihnen entgegengesetzte, ersetzen müssen; aber das hätten natürlich keinerlei Kombinationen von geringfügigen Ursachen zustande bringen können.

Die Ursachen der französischen Revolution lagen in den Besonderheiten der gesellschaftlichen Beziehungen, die von Sainte-Beuve vorausgesetzten geringfügigen Ursachen konnten aber nur in den individuellen Besonderheiten der einzelnen Personen wurzeln. Die Endursache der gesellschaftlichen Beziehungen liegt im Stand der Produktivkräfte. Dieser hängt von den individuellen Besonderheiten der einzelnen Personen höchstens in dem Sinne ab, daß die einzelnen Personen mehr oder minder begabt sind, technische Vervollkommnungen, Entdeckungen und Erfindungen zu machen. Sainte-Beuve hatte nicht diese Besonderheiten im Auge. Alle möglichen anderen Besonderheiten gewähren aber den Einzelpersonen keinen unmittelbaren Einfluß auf den Stand der Produktivkräfte und folglich auch nicht auf die gesellschaftlichen Beziehungen, durch die sie bedingt werden, d.h. auf die ökonomischen Beziehungen. Welches auch die Besonderheiten der gegebenen Persönlichkeit sein mögen, sie kann die gegebenen ökonomischen Beziehungen nicht beseitigen, sobald diese dem gegebenen Stand der Produktivkräfte entsprechen. Aber die individuellen Besonderheiten der Persönlichkeit machen sie mehr oder weniger tauglich, die gesellschaftlichen Bedürfnisse, die auf Grund der gegebenen ökonomischen Beziehungen entstehen, tu befriedigen oder dieser Befriedigung entgegenzuarbeiten. Am Ausgang des 18. Jahrhunderts war das dringendste gesellschaftliche Bedürfnis Frankreichs, die veralteten politischen Einrichtungen durch andere zu ersetzen, die seiner neuen ökonomischen Struktur mehr entsprachen. Die angesehensten und nutzbringendsten Politiker jener Zeit waren namentlich diejenigen, die mehr als alle anderen befähigt waren, in der Richtung der Befriedigung dieser dringenden Bedürfnisse zu wirken. Angenommen, solche Männer waren Mirabeau, Robespierre und Bonaparte. Was wäre geschehen, wenn ein vorzeitiger Tod Mirabeau nicht von der politischen Arena entfernt hätte? Die Partei der konstitutionellen Monarchie hätte ihre bedeutende Macht längere Zeit behalten; ihr Widerstand gegen die Republikaner wäre daher energischer gewesen. Aber nichts weiter. Kein Mirabeau konnte damals den Sieg der Republikaner verhindern. Mirabeaus Kraft beruhte ganz und gar auf der Sympathie und dem Vertrauen des Volkes zu ihm, das Volk aber strebte die Republik an, denn der Hof wirkte durch seine hartnäckige Verteidigung des alten Regimes auf das Volk aufreizend. Hätte sich das Volk nur davon überzeugt, daß seine republikanischen Bestrebungen bei Mirabeau keine Sympathie finden, so hätte es selber die Sympathien für Mirabeau verloren, und dann hätte der große Redner fast jeden Einfluß eingebüßt und wäre daraufhin wahrscheinlich als Opfer dieser selben Bewegung gefallen, die aufzuhalten er vergebens versucht hätte. Ungefähr dasselbe läßt sich auch von Robespierre sagen. Angenommen, daß er in seiner Partei eine absolut unersetzbare Kraft darstellte. Er war aber jedenfalls nicht ihre einzige Kraft. Wäre er von einem zufällig herabgefallenen Ziegelstein, sagen. wir, im Januar 1793 erschlagen worden, so hätte irgendein anderer seinen Platz eingenommen, und hätte dieser andere auch in jeder Hinsicht tiefer gestanden als er selbst, so hätten die Ereignisse doch dieselbe Richtung genommen, die sie unter Robespierre genommen haben. So wären zum Beispiel die Girondisten auch in diesem Fall sicherlich nicht um die Niederlage herumgekommen; es ist aber möglich, daß Robespierres Partei etwas früher die Macht verloren hätte, so daß wir jetzt nicht von der Reaktion des Thermidor sprechen würden, sondern von der des Floréal, Prairial oder Messidor. Andere werden vielleicht sagen, daß Robespierre durch seinen unbeugsamen Terrorismus den Sturz seiner Partei nicht aufgehalten, sondern beschleunigt hat. Wir wollen diese Annahme hier nicht näher untersuchen, sondern sie hinnehmen, als sei sie durchaus begründet. In diesem Fall wird es notwendig sein vorauszusetzen, daß der Sturz der Robespierre-Partei nicht im Thermidor erfolgt wäre, sondern im Laufe des Monats Fructidor, Vendémiaire oder Brumaire. Kurzum, er wäre vielleicht früher, vielleicht aber auch später erfolgt, aber er wäre dennoch unbedingt erfolgt, denn die Volksschicht, auf die sich diese Partei stützte, war für eine dauerhafte Herrschaft keineswegs vorbereitet. Von Resultaten, „entgegengesetzt“ denen, die unter der energischen Mitwirkung Robespierres eintraten, könnte jedenfalls nicht die Rede sein.

Sie hätten auch dann nicht eintreten können, wenn, sagen wir, eine Kugel Napoleon in der Schlacht bei Arcole niedergestreckt hätte. Das, was er im italienischen Feldzug und in den anderen Feldzfigen vollbracht hat, hätten andere Generale vollbracht. Sie hätten wahrscheinlich nicht solche Talente an den Tag gelegt wie er und hätten nicht solche glänzenden Siege errungen. Die französische Republik wäre aber dennoch aus ihren damaligen Kriegen als Siegerin hervorgegangen, denn ihre Soldaten waren unvergleichlich besser als alle anderen europäischen Soldaten. Was den 18. Brumaire und seinen Einfluß auf das innere Leben Frankreichs betrifft, so wären dem Wesen nach der allgemeine Gang und Ausgang der Ereignisse wahrscheinlich dieselben gewesen wie unter Napoleon. Die Republik siechte, durch die Niederlage vom 9. Thermidor tödlich getroffen, langsam dahin. Das Direktorium war nicht imstande, die Ordnung wiederherzustellen, die die Bourgeoisie nunmehr sehnlichst herbeiwünschte, nachdem sie sich von der Herrschaft der höheren Stände befreit hatte. Zur Wiederherstellung der Ordnung bedurfte es eines „guten Degens“, wie sich Sieyès ausdrückte. Anfangs glaubte man, die Rolle des wohltätigen Degens wurde General Jourdan spielen; als er aber bei Novi fiel, nannte man Moreau, Macdonald, Bernadotte. [20] Von Bonaparte begann man erst später zu reden, und wäre er ebenso wie Jourdan gefallen, so würde man sich seiner überhaupt nicht erinnern und hätte irgendeinell anderen Degen“ auf den Schild erhoben. Selbstverständlich mußte ein Mann, der durch die Ereignisse zum Rang eines Diktators erhöht wurde, seinerseits unermüdlich zur Macht drängen und alle anderen, die ihm im Wege standen, energisch beiseiteschieben und an die Wand drücken. Bonaparte besaß eine eiserne Energie und verschonte nichts, um seine Ziele zu erreichen. Aber außer ihm gab es damals recht viele energische, talentierte und ehrgeizige Egoisten. Der Platz, den es ihm einzunehmen gelang, wäre sicherlich nicht unbesetzt geblieben. Angenommen, irgendein anderer General, der diesen Platz erobert hätte, wäre friedfertiger gewesen als Napoleon; angenommen, er hätte sich nicht ganz Europa zum Feinde gemacht und wäre daher nicht auf der Insel St. Helena, sondern in den Tuilerien gestorben. Dann wären die Bourbonen überhaupt nicht nach Frankreich zurückgekehrt; für sie wäre ein solcher Ausgang natürlich „entgegengesetzt“ demjenigen, der in Wirklichkeit eingetreten ist. In bezug auf das innere Leben Frankreichs wäre er aber von dem wirklichen Ergebnis wenig verschieden. Wäre einmal die Ordnung durch den „guten Degen“ wiederhergestellt und die Herrschaft der Bourgeoisie durch ihn gesichert worden, so hätte die Bourgeoisie ihn mitsamt seinen Kasernengewohnheiten und seiner Despotie bald satt bekommen. Es hätte eine liberale Bewegung eingesetzt, ähnlich der, die unter der Restauration stattfand, der Kampf wäre nach und nach entbrannt, und da sich „gute Degen“ nicht durch Nachgiebigkeit auszeichnen, so hätte der tugendhafte Louis Philippe den Thron seiner zärtlich geliebten Verwandten vielleicht nicht im Jahre 1830, sondern im Jahre 1820 oder 1825 bestiegen. Alle derartigen Veränderungen Im Gang der Ereignisse hätten das weitere politische und dadurch auch das ökonomische Leben Europas teilweise beeinflussen können. Der endgültige Ausgang der revolutionären Bewegung wäre aber dennoch dem tatsächlich eingetretenen Ausgang nicht „entgegengesetzt“. Einflußreiche Persönlichkeiten können dank den Besonderheiten ihres Verstandes und Charakters das individuelle Gepräge der Geschehnisse und einige ihrer besonderen Folgen ändern, sie können aber ihre allgemeine Richtung nicht ändern, die durch andere Kräfte bestimmt wird.



 

VII

Außerdem ist noch folgendes zu bemerken. Wenn wir über die Rolle der großen Persönlichkeiten in der Geschichte reden, werden wir fast immer das Opfer einer gewissen optischen Täuschung. Es wäre von Nutzen, den Leser auf diese hinzuweisen.

Als Napoleon in der Rolle des „guten Degens“ auftrat, der die gesellschaftliche Ordnung rettete, hielt er dadurch von dieser Rolle alle anderen Generale fern, von denen manche diese 1tolle vielleicht ebensogut oder fast ebensogut wie er hätten spielen können. War einmal das gesellschaftliche Bedürfnis nach einem energischen militärischen Herrscher befriedigt, so versperrte die gesellschaftliche Organisation allen anderen militärischen Talenten den Weg zum Posten des militärischen Herrschers. Die Kraft der gesellschaftlichen Organisation war zu einer Kraft geworden, die das Hervortreten anderer Talente dieser Art nicht begünstigte. Dadurch entsteht auch die optische Täuschung, von der wir sprachen. Die persönliche Kraft Napoleons erscheint uns in äußerst vergrößerter Gestalt, da wir ihr die ganze gesellschaftliche Kraft zuschreiben, von der sie vorgeschoben und gestützt wurde. Sie erscheint uns als etwas ganz Exklusives, denn andere Kräfte, die ihr glichen, sind nicht aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit übergegangen. Und wenn man uns sagt: was wäre, wenn es keinen Napoleon gegeben hätte, so gerät unsere Phantasie in Verwirrung, und es scheint uns, daß ohne ihn die ganze gesellschaftliche Bewegung, auf der seine Kraft und sein Einfluß beruhen, überhaupt nicht hätte zustande kommen können.

In der Geschichte der geistigen Entwicklung der Menschheit kommt es unvergleichlich seltener vor, daß der Erfolg der einen Persönlichkeit dem einer anderen hinderlich wird. Aber auch da sind wir von der genannten optischen Täuschung nicht frei. Wenn die gegebene Lage der Gesellschaft ihre geistigen Wortführer vor bestimmte Aufgaben stellt, nehmen diese die Aufmerksamkeit hervorragender Köpfe so lange in Anspruch, bis es ihnen gelungen ist, sie zu lösen. Ist ihnen das einmal gelungen, so richtet sich ihre Aufmerksamkeit auf einen anderen Gegenstand. Durch seine Lösung der Aufgabe lenkt das gegebene Talent A die Aufmerksamkeit des Talentes B von dieser, bereits gelösten Aufgabe auf eine andere. Und wenn man Sie fragt: was wäre, wenn A gestorben wäre, ohne die Aufgabe X gelöst zu haben, so stellen wir uns vor, daß der Faden der geistigen Entwicklung der Gesellschaft gerissen wäre. Wir vergessen, daß im Falle des Todes von A ein B oder C oder D die Lösung der Aufgabe hätte in Angriff nehmen können, und daß so der Faden der geistigen Entwicklung, ungeachtet des vorzeitigen Todes von A, nicht abgerissen wäre.

Dazu, daß jemand, der ein Talent bestimmter Art besitzt, dank diesem Talent einen starken Einfluß auf den Gang der Ereignisse gewinne, ist die Erfüllung zweier Bedingungen notwendig. Erstens muß sein Talent ihn mehr als alle anderen den gesellschaftlichen Bedürfnissen dieser Epoche entsprechen lassen: hätte Napoleon -anstatt seines militärischen Genies das musikalische Genie Beethovens besessen, so wäre er natürlich nicht Kaiser geworden. Zweitens darf die bestehende gesellschaftliche Ordnung nicht der Persönlichkeit den Weg versperren, die die gegebene, gerade in der gegebenen Zeit notwendige und nützliche Besonderheit besitzt. Wenn das alte Regime sich in Frankreich weitere siebzig Jahre gehalten hätte, wäre dieser selbe Napoleon als wenig bekannter General oder als Oberst Buonaparte gestorben. [21] Im Jahre 1789 waren Davout, Desaix, Marmont und Macdonald – Unterleutnants; Bernadotte – Feldtwebel, Hoche, Marceau, Lefebvre, Pichegru, Ney, Masséna, Murat, Soult – Unteroffiziere; Augereau – Fechtmeister; Lannes – Färber; Gouvion-Saint-Cyr – Schauspieler; Jourdan – Hausierer; Bessières – Friseur; Brune – Setzer; Joubert und Junot – Studenten der juristischen Fakultät; Kleber – Architekt; Mortier hatte bis zur Revolution überhaupt nicht gedient. [22]

Hätte das alte Regime bis auf den heutigen Tag fortbestanden, dann wäre es jetzt niemandem in den Sinn gekommen, daß am Ausgang des vorigen Jahrhunderts einige Schauspieler, Setzer, Friseure, Färber, Juristen, Hausierer und Fechtmeister latente militärische Talente waren. [23]

Stendhal bemerkt, daß ein Mensch, der gleichzeitig mit Tizian, d.h. im Jahre 1477, geboren worden wäre, 40 Jahre zusammen mit Raffael und Leonardo da Vinci hätte leben können, von denen der erste 1520 und der zweite 1519 gestorben ist, daß er viele Jahre mit Correggio hätte verbringen können, der 1534 gestorben ist, und mit Michelangelo, der bis 1563 lebte, daß er höchstens vierunddreißig Jahre alt gewesen wäre, als Giorgione starb, daß er mit Tintoretto, Bassano, Veronese, Giulio Romano und Andrea del Sarto hätte bekannt sein können; daß er mit einem Worte der Zeitgenosse aller großen Maler gewesen wäre, mit Ausnahme derjenigen der Bologneser Schule, die ein Jahrhundert später auftrat. [24] Ebenso kann man sagen, daß ein Mensch, der in demselben Jahre wie Wouwerman geboren wäre, fast alle großen Maler Hollands persönlich gekannt hätte [25], und daß ein Altersgenosse Shakespeares gleichzeitig mit einer ganzen Reihe bedeutender Dramatiker gelebt hätte. [26]

Man hat schon längst bemerkt, daß Talente überall und immer dann auftreten, wo und wann gesellschaftliche Bedingungen bestehen, die für ihre Entwicklung günstig sind. Das bedeutet, daß jedes Talent, das sich in der Wirklichkeit offenbart hat, d.h. jedes Talent, das zur gesellschaftlichen Kraft geworden ist, ein Resultat der gesellschaftlichen Beziehungen ist. Wenn dem aber so ist, so ist es begreiflich, warum talentvolle Menschen, wie gesagt, nur das individuelle Gepräge, nicht aber die allgemeine Richtung der Geschehnisse ändern können: Sie selber existieren nur dank dieser Richtung; wäre diese Richtung nicht da, so hätten sie niemals die Schwelle überschritten, die die Möglichkeit von der Wirklichkeit trennt.

Es versteht sich von selbst, daß es Talente und Talente gibt. „Wenn ein neuer Schritt in der Entwicklung der Zivilisation ein neues Kunstgenre ins Leben ruft“, sagt mit Recht Taine, „dann tauchen Dutzende von Talenten auf, die den gesellschaftlichen Gedanken bloß zur Hälfte ausdrücken und sich um ein oder zwei Genies gruppieren, die ihn in Vollkommenheit zum Ausdruck bringen.“ [27] Hätten irgendwelche mechanische oder physiologische Ursachen, die mit dem allgemeinen Gang der sozialpolitischen und geistigen Entwicklung Italiens nicht zusammenhängen, Raffael, Michelangelo und Leonardo da Vinci schon in ihrer Kindheit getötet, so wäre die italienische Kunst weniger vollkommen, die allgemeine Richtung ihrer Entwicklung wäre aber in der Renaissance dieselbe geblieben. Raffael, Leonardo da Vinci und Michelangelo haben diese Richtung nicht geschaffen: sie haben sie lediglich am besten zum Ausdruck gebracht. Allerdings, um den genialen Menschen bildet sich gewöhnlich eine ganze Schule, wobei seine Schüler bemüht sind, sich sogar seine kleinsten Kunstgriffe zu eigen zu machen; die Lücke, die infolge eines vorzeitigen Todes von Raffael, Michelangelo und Leonardo da Vinci in der italienischen Kunst der Renaissance entstanden wäre, hätte daher einen starken Einfluß auf viele nebensächliche Besonderheiten dieser Kunst in ihrer weiteren Entwicklung ausgeübt. Aber auch diese Geschichte hätte sich dem Wesen nach nicht geändert, falls nicht aus irgendwelchen allgemeinen Ursachen irgendeine wesentliche Aenderung im allgemeinen Gang der geistigen Entwicklung Italiens eingetreten wäre.

Es ist jedoch bekannt, daß quantitative Unterschiede schließlich in qualitative umschlagen. Das trifft überall zu; folglich trifft das auch in der Geschichte zu. Die gegebene Kunstrichtung kann gänzlich ohne einen einigermaßen bedeutenden Ausdruck bleiben, wenn eine ungünstige Verkettung von Umständen einen nach dem anderen einige talentvolle Menschen vernichtet, die diese Richtung hätten zum Ausdruck bringen können. Der vorzeitige Untergang dieser Personen wird aber nur in dem Fall den künstlerischen Ausdruck dieser Richtung hemmen, wenn sie nicht tief genug ist, um neue Talente hervorzubringen. Da aber die Tiefe jeder gegebenen Richtung in Literatur und Kunst bestimmt wird durch ihre Bedeutung für die. Klasse oder die Schicht, deren Geschmacksrichtung sie zum Ausdruck bringt, und durch die gesellschaftliche Rolle dieser Klasse oder Schicht, so hängt auch hier letzten Endes alles vom Gang der gesellschaftlichen Entwicklung und vom Wechselverhältnis der gesellschaftlichen Kräfte ab.



VIII

Also: Die persönlichen Besonderheiten der führenden Personen bestimmen das individuelle Gepräge der historischen Ereignisse, und das Element des Zufälligen, in dem von uns genannten Sinne, spielt stets eine gewisse Rolle im Verlauf dieser Ereignisse, deren Richtung in letzter Instanz bestimmt wird durch die sogenannten allgemeinen Ursachen, d.h. in Wirklichkeit durch die Entwicklung der Produktivkräfte und die gegenseitigen Beziehungen der Menschen im gesellschaftlich-ökonomischen Prozeß der Produktion. Die zufälligen Erscheinungen und die persönlichen Besonderheiten der berühmten Männer springen bedeutend mehr ins Auge als die tiefliegenden allgemeinen Ursachen. Das 18. Jahrhundert machte sieh wenig Gedanken über diese allgemeinen Ursachen und erklärte die Geschichte aus den bewußten Handlungen und den „Leidenschaften“ der historischen Persönlichkeiten. Die Philosophen dieses Jahrhunderts behaupteten, daß die Geschichte unter dem Einfluß der geringfügigsten Ursachen ganz andere Wege hätte einschlagen können, – so zum Beispiel infolge des Umstands, daß im Kopfe irgendeines Herrschers irgendein Atom“ umherzuirren begonnen hätte (ein Argument, das wiederholt im Système de la Nature [10*] angeführt wird).

Die Verfechter der neuen Richtung in der historischen Wissenschaft bemühen sich, den Nachweis zu erbringen, daß die Geschichte, ungeachtet aller „Atome“, anders als sie verlaufen ist auch nicht hätte verlaufen können. Aus dem Bestreben heraus, die Wirkung der allgemeinen Ursachen möglichst gut hervorzuheben, ließen sie die Bedeutung der persönlichen Besonderheiten der historischen Persönlichkeiten außer acht. Nach ihnen sah es so aus, als würden sieh die historischen Geschehnisse nicht um Haaresbreite geändert haben, wenn an Stelle der einen Personen andere, mehr oder weniger fähige, getreten wären. [28] Sobald wir aber eine solche Voraussetzung zulassen, müssen wir auch folgerichtig zugeben, daß das persönliche Element in der Geschichte absolut keine Bedeutung hat und daß alles in der Geschichte auf die Wirkung der allgemeinen Ursachen, der allgemeinen Gesetze der historischen Bewegung hinausläuft. Das war ein extremer Standpunkt, der für das in der entgegengesetzten Auffassung steckende Körnchen Wahrheit überhaupt keinen Platz übrigließ. Aber gerade deshalb behielt die entgegengesetzte Auffassung eine gewisse Existenzberechtigung bei. Der Zusammenprall dieser beiden Auffassungen nahm die Form einer Antinomie an, deren erstes Glied die allgemeinen Gesetze, das zweite aber die Tätigkeit der Persönlichkeiten darstellte. Vom zweiten Glied der Antinomie aus gesehen, war die Geschichte eine einfache Verkettung von Zufälligkeiten; vom ersten Glied aus gesehen, hatte es den Anschein, als ob selbst die individuellen Züge der historischen Geschehnisse durch die Einwirkung der allgemeinen Ursachen bedingt wären. Wenn aber die individuellen Züge der Ereignisse durch den Einfluß der allgemeinen Ursachen bedingt sind und von den persönlichen Eigenschaften der historischen Persönlichkeiten nicht abhängen, so werden diese Züge durch allgemeine Ursachen bedingt und können nicht verändert werden, so sehr sich auch diese Persönlichkeiten verändern mögen. Die Theorie nimmt auf diese Weise einen fatalistischen Charakter an.

Dieser Umstand war der Aufmerksamkeit ihrer Gegner nicht entgangen. Sainte-Beuve verglich die historischen Auffassungen Mignets mit denen Bossuets. Bossuet war der Meinung, daß die Kraft, durch die sich die historischen Geschehnisse vollziehen, von oben komme, daß die Geschehnisse als Ausdruck des göttlichen Willens dienen. Mignet suchte diese Kraft in den menschlichen Leidenschaften, die in den historischen Geschehnissen mit der Unerbittlichkeit und Unabwendbarkeit der Naturgewalten zum Durchbruch kommen. Sie beide betrachteten aber die Geschichte als Kette solcher Ereignisse, die unter keinen Umständen hätten anders sein können. Sie beide sind Fatalisten. In dieser Hinsicht steht der Philosoph dem Geistlichen nahe (le philosophe se rapproche du prêtre).

Dieser Vorwurf blieb begründet, solange die Lehre von der Gesetzmäßigkeit der gesellschaftlichen Erscheinungen den Einfluß der persönlichen Besonderheiten der historischen hervorragenden Persönlichkeiten auf die Ereignisse gleich Null setzte. Und dieser Vorwarf mußte einen um BO stärkeren Eindruck machen, als die Historiker der neuen Schule, ähnlich wie die Historiker und Philosophen dem 18. Jahrhunderts, die menschliche Natur für die höchste Instanz hielten, aus der alle allgemeinen Ursachen der historischen Entwicklung entsprangen und der diese sich unterordneten. Da die französische Revolution gezeigt hat, daß die historischen Geschehnisse nicht allein durch die bewußten Handlungen der Menschen bedingt werden, so haben Mignet, Guizot und andere Gelehrte derselben Richtung die Wirkung der Leidenschaften, die sich häufig jeder Kontrolle des Bewußtseins entledigen, in den Vordergrund geschoben. Wenn aber die Leidenschaften die letzte und allgemeinste Ursache der historischen Geschehnisse bilden, warum hat dann Sainte-Beuve unrecht, wenn er behauptet, daß die französische Revolution einen dem uns bekannten Ausgang entgegengesetzten Ausgang hätte haben können, wenn sich Persönlichkeiten gefunden hätten, die imstande gewesen wären, dem französischen Volke Leidenschaften einzuflößen, die denen, von denen es bewegt war, entgegengesetzt waren? Mignet würde sagen: weil infolge der Eigenschaften der menschlichen Natur selbst andere Leidenschaften die damaligen Franzosen nicht hätten in Wallung bringen können. Das wäre in einem gewissen Sinne wahr. Aber diese Wahrheit hätte einen starken fatalistischen Beigeschmack, da sie dem Satz gleichkäme, daß die Geschichte der Menschheit in all ihren Einzelheiten durch die allgemeinen Eigenschaften der menschlichen Natur vorausbestimmt sei. Der Fatalismus wäre hier gleichsam ein Ergebnis des Verschwindens des Individuellen im Allgemeinen. Übrigens ist der Fatalismus auch immer das Resultat eines solchen Verschwindens. Man sagt: „Wenn alle gesellschaftlichen Erscheinungen notwendig sind, so kann unsere Tätigkeit überhaupt keine Bedeutung haben.“ Das ist eine unrichtige Formulierung eines richtigen Gedankens. Man muß sagen: wenn alles vermittels des Allgemeinen geschieht, so hat das Einzelne, haben darunter auch meine Bemühungen, keine Bedeutung. Diese Schlußfolgerung ist richtig, nur wird sie falsch aufgewandt. Sie verliert ihren Sinn in Anwendung auf die moderne materialistische Geschichtsauffassung, die auch für das Einzelne Platz übrigläßt. In Anwendung auf die Auffassungen der französischen Historiker der Restaurationszeit war sie aber begründet.

Man kann heute die menschliche Natur schon nicht mehr als die letzte und allgemeinste Ursache der historischen Bewegung betrachten: wenn die menschliche Natur unveränderlich ist, so kann sie den höchst veränderlichen Gang der Geschichte nicht erklären; wenn sie sich aber verändert, so werden offenbar ihre Veränderungen selbst durch die historische Bewegung bedingt. Heute muß als letzte und allgemeinste Ursache der geschichtlichen Bewegung der Menschheit die Entwicklung der Produktivkräfte anerkannt werden, durch die die aufeinanderfolgenden Veränderungen in den gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen bedingt werden. Neben dieser allgemeinen Ursache wirken besondere Ursachen, d.h. die geschichtliche Situation, in der sich die Entwicklung der Produktivkräfte bei dem gegebenen Volk vollzieht und die selbst in letzter Instanz durch die Entwicklung dieser selben Kräfte bei den anderen Völkern, d.h. durch diese selbe allgemeine Ursache erzeugt ist.

Schließlich wird der Einfluß der besonderen Ursachen durch die Wirkung einzelner Ursachen ergänzt, d.h. persönlicher Besonderheiten der gesellschaftlich tätigen Persönlichkeiten und anderer „Zufälligkeiten“, dank deren die Geschehnisse endlich ihr individuelles Gepräge erhalten. Die Einzelursachen können keine grundlegenden Veränderungen in der Wirkung der allgemeinen und besonderen Ursachen erzeugen, durch die überdies die Richtung und die Grenzen des Einflusses der Einzelursachen bedingt werden. Es ist aber dennoch unzweifelhaft, daß die Geschichte ein anderes Gepräge hätte, wenn die auf sie wirkenden Einzelursachen durch andere Ursachen derselben Art ersetzt worden wären.

Monod und Lamprecht halten bis jetzt am Standpunkt der menschlichen Natur fest. Lamprecht erklärte kategorisch und wiederholt, daß die soziale Geistesverfassung seiner Meinung nach die Grundursache der historischen Erscheinungen bilde. Das ist ein großer Irrtum. und infolge dieses Irrtums kann der an sich sehr lobenswerte Wunsch, die ganze Gesamtheit des gesellschaftlichen Lebens zu berücksichtigen. bloß zu einem inhaltlosen, wenn auch aufgeblasenen Eklektizismus oder – bei den konsequenteren Forschern – zu den Kablitzschen Betrachtungen über die relative Bedeutung des Verstandes und des Gefühls führen.

Doch kehren wir zu unserem Gegenstand zurück. Ein großer Mann ist nicht dadurch groß, daß seine persönlichen Besonderheiten den großen geschichtlichen Geschehnissen ein individuelles Gepräge verleihen, sondern dadurch. daß er Besonderheiten besitzt, die ihn am fähigsten machen, den großen gesellschaftlichen Bedürfnissen seiner Zeit zu dienen, die unter dem Einfluß der allgemeinen und besonderen Ursachen entstanden sind In seinem bekannten Werk über die Helden nennt Carlyle die großen Männer Beginner. Das ist eine sehr gelungene Bezeichnung. Der große Mann ist eben ein Beginner, denn er blickt weiter als die anderen und will stärker als die anderen. Er löst die wissenschaftlichen Aufgaben. die der vorher- gegangene Verlauf der geistigen Entwicklung der Gesellschaft auf die Tagesordnung gesetzt hat; er weist die neuen gesellschaftlichen Bedürfnisse auf, die durch die vorhergegangene Entwicklung der gesellschaftlichen Beziehungen erzeugt worden sind; er ergreift die Initiative zur Befriedigung dieser Bedürfnisse. Er ist ein Held. Held nicht in dem Sinne etwa, daß er den natürlichen Gang der Dinge aufhalten oder ändern könnte, sondern in dem Sinne, daß seine Tätigkeit der bewußte und freie Ausdruck dieses notwendigen und unbewußten Ganges ist. Darin liegt seine ganze Bedeutung, darin seine ganze Kraft. Das ist aber eine gewaltige Bedeutung, eine ungeheure Kraft.

Bismarck meinte, daß wir Geschichte nicht machen können, sondern abwarten müßten, bis sie gemacht ist. Von wem wird aber die Geschichte gemacht? Sie wird von dem gesellschaftlichen Menschen gemacht, der ihr einziger „Faktor“ ist. Der gesellschaftliche Mensch selbst schafft seine, d. h. die gesellschaftlichen Beziehungen. Wenn er aber in der gegebenen Zeit gerade diese und nicht andere Beziehungen schafft, so geschieht das natürlich nicht ohne Ursache; das wird bedingt durch den Zustand seiner Produktivkräfte. Kein noch so. großer Mann kann der Gesellschaft Beziehungen aufzwingen, die dem Zustand dieser nicht mehr entsprechen oder noch nicht entsprechen. In diesem Sinne kann er in der Tat nicht Geschichte machen, und in diesem Fall würde er vergebens den Zeiger seiner Uhr vorstellen: er würde den Lauf der Zeit nicht beschleunigen und auch nicht umkehren. Darin hat Lamprecht vollkommen recht: selbst auf dem Gipfel seiner Macht hätte Bismarck Deutschland nicht zur Naturalwirtschaft zurückführen können.

Die gesellschaftlichen Beziehungen haben ihre eigene Logik: solange die Menschen unter den gegebenen gegenseitigen Beziehungen leben, werden sie unbedingt gerade so und nicht anders fühlen, denken und handeln. Auch gegen diese Logik würde die gesellschaftlich tätige Persönlichkeit vergebens ankämpfen: der natürliche Gang der Dinge (d.h. diese selbe Logik der gesellschaftlichen Beziehungen) wurde alle seine Bemühungen null und nichtig machen. Wenn ich aber weiß, in welcher Richtung sich dank den gegebenen Veränderungen im ökonomischen Produktionsprozeß der Gesellschaft die gesellschaftlichen Beziehungen verändern, so weiß ich ebenfalls, In welcher Richtung sich auch die soziale Geistesverfassung verändern wird, so habe ich folglich die Möglichkeit, sie zu beeinflussen. Die soziale Geistesverfassung beeinflussen, heißt die geschichtlichen Geschehnisse beeinflussen. In gewissem Sinne kann ich also doch Geschichte machen, und ich brauche nicht zu warten, bis sie „gemacht ist“.

Monod nimmt an, daß die für die Geschichte wichtigen Ereignisse und Persönlichkeiten lediglich als Anzeichen und Symbole der Entwicklung der Einrichtungen und ökonomischen Bedingungen wichtig seien. Das ist ein richtiger, wenn auch sehr ungenau ausgedruckter Gedanke, aber gerade weil dieser Gedanke richtig Ist, gibt es keinen Grund, die Tätigkeit der großen Persönlichkeiten der „langsamen Bewegung“ der genannten Bedingungen und Einrichtungen entgegenzustellen. Die mehr oder minder langsame Veränderung der ökonomischen Bedingungen“ stellt periodisch die Gesellschaft vor die Notwendigkeit, mehr oder minder schnell diese ihre Einrichtungen umzugestalten. Diese Umgestaltung geschieht niemals „von selbst“; sie erfordert stets die Einmischung der Menschen, denen auf diese Weise große gesellschaftliche Aufgaben erwachsen. Als große Männer bezeichnet man eben diejenigen, die mehr als die anderen zu deren Lösung beitragen. Eine Aufgabe 1ösen, bedeutet aber nicht, bloß ein „Symbol“ und ein „Anzeichen“ dafür zu sein, daß sie gelöst ist.

Uns deucht, daß Monod seine Gegenüberstellung hauptsächlich deshalb gemacht hat, weil er sich vorn angenehmen Wörtchen langsam hat hinreißen lassen. Dieses Wörtchen ist bei vielen heutigen Evolutionisten beliebt. Psychologisch ist diese Vorliebe begreiflich: sie entsteht notwendigerweitse im wohlmeinenden Milieu der Mäßigkeit und Akkuratesse ... Logisch hält sie aber, wie Hegel gezeigt hat, keiner Kritik stand.

Nicht vor den „Beginnern“ allein, nicht allein vor den „großen“ Männern liegt ein breites Feld der Tätigkeit offen. Dieses Feld steht allen offen, die Augen haben, um zu sehen, Ohren, um zu hören, und ein Herz. um ihre Nächsten zu lieben. Der Begriff groß ist ein relativer Begriff. Im sittlichen Sinne ist jeder groß, der, um mit den Evangelisten zu reden, „sein Leben lässet für seine Freunde“.



Fußnoten

17. Histoire da France, 4. Auflage, Bd.XV, p.520-521.

18. Siehe Mémoires de madame du Haliffet, Paris 1824, S.181.

19. Siehe Lettres de la marquise de Pompadour, London 1772, Bd.I.

20. La vie en France sous le premier Empire, par le vicomte du Broc, Paris 1895, S.35-36ff.

21. Vielleicht wäre Napoleon nach Rußland gegangen, wohin er ganz wenige Jahre vor dem Ausbruch der Revolution reisen wollte. Hier hätte er sich wahrscheinlich in den Schlachten gegen die Türken oder gegen die kaukasischen Bergvölker ausgezeichnet, aber niemand wäre auf den Gedanken gekommen, daß dieser arme, aber begabte Offizier unter günstigen Verhältnissen zum Beherrscher der Welt hätte werden können.

22. Siehe Histoire de France, par V. Duruy, Paris 1893, Bd.II, S.524-523,

23. Unter Ludwig XV. vermochte es nur ein einziger Vertreter des dritten Standes, Chevert, bis zum Generalleutnant zu bringen. Unter Ludwig XVI. war die militärische Laufbahn Leuten dieses Standes noch mehr erschwert. Siehe Rambaud, Histoire da la civilisation française, 6. auflage, Bd.II, S.226.

24. Histoire de la Peinture en Italie, Paris 1899, p.23-25.

25. Im Jahre 1608 wurden Terborch, Brouwer und Rembrandt geboren; im Jahre 1610 – Adriaen van Ostade und Ferdinand Bol; 1615 – van der Helst und Gerard Dou; 1620 – Wouwerman: 1621 – Weenix, Everdingen und Pynacker; 1624 – Berghem 1626 – Paul Potter; 1626 – Jan Steen; 1630 – Ruisdael und Metsu; 1637 – van der Heyden; 1686 – Hobbema; 1639 – Adriaen van de Velde.

26. „Shakespeare, Beaumont, Fletcher, Jonson, Webster, Massinger, Ford, Middleton und Heywood, die zu derselben Zeit oder einer nach dem anderen auftraten, bilden die neue Generation, die infolge ihrer günstigen Lage auf dem Boden zur glänzenden Blüte gelangte, der durch die Bemühungen der vorhergehenden Generation vorbereitet worden war.“ Taine, Histoire de la littérature anglaise, Paris 1868, Bd.I, S.468.

27. Ebenda, S.5.

28. D.h., so sah es aus, sobald sie Betrachtungen über die Gesetzmäßigkeit der historischen Geschehnisse anzustellen begannen. Wenn aber einige von ihnen diese Geschehnisse einfach beschrieben, so maßen sie dem persönlichen Element zuweilen sogar eine übertriebene Bedeutung bei. Uns aber interessieren jetzt nicht ihre Schilderungen, sondern ihre Betrachtungen.


Anmerkung

10*. System der Natur – das Hauptwerk des Philosophen Holbach (1723-1789), der zur Plejade der französischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts gehört.


Zuletzt aktualiziert am 9.8.2008