G.W. Plechanow


Karl Marx

(1903)


Karl-Heinz Neumann (Hrg.), Marxismus Bibliothek, Bd.9, Frankfurt 1971, S.46-53.
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Die Nr.35 der Iskra erscheint am 20. Todestag von Karl Marx dem auch der erste Platz in dieser Nummer gehört. Wenn es wahr ist, daß die gewaltige internationale Bewegung des Proletariats die bedeutendste gesellschaftliche Erscheinung des 19. Jahrhunderts war, so kann man nicht umhin, anzuerkennen, daß der Begründer der Internationalen Arbeiterassoziation der bedeutendste Mann dieses Jahrhunderts gewesen ist. Als Kämpfer und Denker organisierte er nicht nur die ersten Kaders der internationalen Arbeiterarmee; in gemeinsamer Arbeit mit seinem treuen Freunde Friedrich Engels hat er für sie auch jene mächtige geistige Waffe geschmiedet, mit deren Hilfe sie dem Feinde bereits zahlreiche Niederlagen beigebracht hat und die ihr mit der Zeit den endgültigen Sieg bringen wird. Wenn der Sozialismus eine Wissenschaft geworden ist, so verdanken wir das Karl Marx. Und wenn die klassenbewußten Proletarier heute sehr wohl erkennen, daß zur endgültigen Befreiung der Arbeiterklasse die soziale Revolution notwendig ist, und daß diese Revolution das Werk der Arbeiterklasse selbst sein muß; wenn sie heute die unversöhnlichen und nicht müde werdenden Feinde der bürgerlichen Ordnung sind, so offenbart sich darin der Einfluß des wissenschaftlichen Sozialismus. Vom Standpunkt der „praktischen Vernunft“ unterscheidet sich der wissenschaftliche Sozialismus vom utopischen gerade dadurch, daß er entschieden die kardinalen Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaftsordnung enthüllt und erbarmungslos die ganze naive Nichtigkeit aller jener mitunter sehr geistreichen und stets wohlwollenden Pläne einer Gesellschaftsreform aufdeckt, die von den utopischen Sozialisten der verschiedenen Schulen als das sicherste Mittel zur Aufhebung des Klassenkampfes und zur Versöhnung des Proletariats mit der Bourgeoisie empfohlen wurde. Der moderne Proletarier, der sich die Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus zu eigen gemacht hat und ihrem Geiste treu bleibt, kann gar nicht anders, als sowohl aus der Logik wie auch aus seinem Gefühl heraus ein Revolutionär zu sein, er gehört also zu der „gefährlichsten“ Abart der Revolutionäre.

Marx wurde die große Ehre zuteil, der von der Bourgeoisie bestgehaßte Sozialist des 19. Jahrhunderts zu sein. Aber auf ihn fiel auch das beneidenswerte Los, in derselben Epoche der am meisten verehrte Lehrer des Proletariats zu werden. Zur selben Zeit, wo der Haß der Ausbeuter sich auf ihn konzentrierte, erlangte sein Name eine immer ehrenvollere Berühmtheit unter den Ausgebeuteten. Und heute, am Anfang des 20. Jahrhunderts, sehen die klassenbewußten Proletarier aller Länder in ihm ihren Lehrer und sind stolz auf ihn, als einen der universalsten und tiefsten Geister, als einen der edelsten und selbstlosesten Charaktere, die die Geschichte überhaupt kennt.

„Der Heilige, dessen Andenken am 1. Mai gefeiert wird, heißt Karl Marx“ – schrieb Ende April 1890 eine bürgerliche Wiener Zeitung. Und in der Tat, die alljährliche Maidemonstration der Arbeiter der ganzen Welt stellt eine erhabene, wenn auch nicht vorbedachte Ehrung des Andenkens des genialen Mannes dar, dessen Programm den tagtäglichen Kampf der Arbeiter um bessere Bedingungen beim Verkauf ihrer Arbeitskraft mit dem revolutionären Kampf gegen die bestehende Wirtschaftsordnung zu einem einheitlichen Ganzen zusammenschmiedete. Nur hat diese Ehrung nichts mit religiösen Festen gemein: das moderne Proletariat ehrt seine „Heiligen“ um so mehr, je mehr ihr Wirken das Nahen jener glücklichen Zeit förderte, wo die befreite Menschheit ihr Himmelreich auf Erden errichten und den Himmel den Engeln und den Spatzen überlassen wird ...

Zu dem böswilligen Unsinn, der über Marx verbreitet wird, gehört das Märchen, daß der Verfasser des Kapital sich den Russen gegenüber feindlich verhalten habe. In Wirklichkeit aber haßte er den russischen Zarismus, der stets die schändliche Rolle eines internationalen Gendarmen spielte, der stets bereit war, jede Freiheitsbewegung zu unterdrücken, ganz gleich, wo sie ausbrach.

Marx verfolgte alle ernsten Erscheinungen der inneren Entwicklung Rußlands mit einem so tiefen Interesse und vor allen Dingen mit einer so gründlichen Sachkenntnis, wie man sie wohl kaum bei irgendeinem seiner westeuropäischen Zeitgenossen finden konnte. Der deutsche Arbeiter Leßner erzählt in seinen Erinnerungen an Marx, wie dieser sich über das Erscheinen der russischen Übersetzung des Kapital gefreut habe und wie angenehm ihm der Gedanke gewesen sei, daß in Rußland bereits Leute auftreten, die fähig sind, die Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus zu begreifen und zu verbreiten. Aus dem Vorwort zur russischen Übersetzung des Kommunistischen Manifestes, als dessen Verfasser er und Engels zeichnen, geht hervor, daß seine Sympathie für die russischen Revolutionäre und sein ungeduldiges Verlangen, sie recht bald als Sieger zu sehen, ihn sogar zu einer bedeutenden Überschätzung unserer damaligen revolutionären Bewegung verleitet hat. Und welch freundliche Aufnahme die russischen Flüchtlinge in seinem gastfreundlichen Hause fanden, zeigen seine Beziehungen zu Lopatin und Hartmann. Die Verstimmung zwischen ihm und Herzen wurde teilweise durch ein zufälliges Mißverständnis hervorgerufen, teilweise durch das vollkommen gerechtfertigte Mißtrauen gegen den slawophilen Sozialismus, zu dessen Verkünder in der westeuropäischen Literatur unser hervorragender Landsmann unter dem Eindruck der schweren Enttäuschungen der Jahre 1848-1851 leider geworden war. Der heftige Angriff Marx’ gegen diesen slawophilen Sozialismus in der ersten Ausgabe des I. Bandes des Kapitals verdient keine Verurteilung, sondern Lob, besonders heutzutage, wo dieser Sozialismus sich bei uns im Parteiprogramm der sogenannten Sozialrevolutionäre wieder regt. Und schließlich, was den erbitterten Kampf Marx’ gegen Bakunin in der Internationalen Arbeiter-Assoziation betrifft, so steht dieser Kampf auch nicht im geringsten Zusammenhang mit der russischen Herkunft dieses Anarchisten und erklärt sich einfach aus der unversöhnlichen Gegensätzlichkeit der Anschauungen. Als die Publikationen der Gruppe „Oswoboschdenije Truda“ („Befreiung der Arbeit“) den Grundstein für die Verbreitung sozialdemokratischer Ideen unter den russischen Revolutionären legten, da drückte Engels in einem Briefe an V.I. Sassulitsch sein Bedauern darüber aus, daß dies nicht zu Lebzeiten Marx’ geschehen sei, der das literarische Unternehmen dieser Gruppe freudig begrüßt hätte. Was hätte nun der große Verfasser des Kapital gesagt, wäre es ihm vergönnt gewesen, die heutige Zeit zu erleben und zu erfahren, wie groß die Zahl seiner Anhänger unter den russischen Arbeitern bereits ist? Von welcher Freude wäre sein Herz erfüllt worden, hätte er von solchen Ereignissen hören können, wie sie sich unlängst in Rostow am Don abgespielt haben. Zu seiner Zeit war der russische Marxist eine Seltenheit, und die vorgeschrittenen Elemente Rußlands schauten auf diese Seltenheit im besten Falle mit einem gutmütigen Lächeln des Bedauerns; heute herrschen die Ideen Marx’ in der russischen revolutionären Bewegung, und die russischen Revolutionäre, die aus alter Gewohnheit diese Ideen ganz oder teilweise ablehnen, haben in Wirklichkeit bereits seit langem – und trotz ihrer größtenteils sehr lauten revolutionären Phraseologie – aufgehört, zu den fortgeschrittenen Elementen zu zählen, und sind, ohne es zu merken, in das große Lager der Rückständigen geraten.

Nicht wenig Unsinn ist auch über seine häufigsten polemischen Zusammenstöße mit seinen Gegnern erzählt und verbreitet worden. Friedfertige, aber etwas einfältige Leute haben diese Zusammenstöße aus dem angeblich unbezähmbaren Hang zur Polemik erklären wollen, der wiederum in seinem bösen Charakter wurzeln soll. In Wirklichkeit wurde der fast ununterbrochene literarische Kampf, den er zu führen hatte, besonders zu Beginn seiner öffentlichen Tätigkeit, nicht durch die Eigenschaften seines Charakters hervorgerufen, sondern durch die gesellschaftliche Bedeutung der von ihm verteidigten Ideen. Er war einer der ersten Sozialisten, die es sowohl in der Theorie als auch in der Praxis verstanden haben, sich ganz auf den Standpunkt des Klassenkampfes zu stellen und die Interessen des Proletariats von den Interessen der Kleinbourgeoisie zu trennen. Es ist deshalb nicht weiter erstaunlich, daß er häufig sehr heftig mit den Theoretikern des kleinbürgerlichen Sozialismus zusammenstieß, die damals, besonders unter der deutschen „Intelligenz“, sehr zahlreich waren. Der Verzicht auf eine Polemik gegen diese Theoretiker wäre gleichbedeutend gewesen mit einem Verzicht auf den Gedanken, das Proletariat zu einer besonderen Partei zusammenzufassen, die ihr eigenes historisches Ziel hat und die nicht hinter der Kleinbourgeoisie hertrottet. „Unsere Aufgabe“ – erklärte die Revue Marx’, die Neue Rheinische Zeitung, im April 1850 – „ist die rücksichtslose Kritik, weit mehr noch gegen die angeblichen Freunde als gegen die offenen Feinde, und indem wir diese unsere Stellung behaupten, verzichten wir mit Vergnügen auf die wohlfeile demokratische Popularität.“ Die offenen Feinde waren gerade deswegen weniger gefährlich, weil sie schon nicht mehr imstande waren, das Klassenbewußtsein der Proletarier zu verdunkeln, während die kleinbürgerlichen Sozialisten mit ihren „klassenlosen“ Programmen nach wie vor sehr zahlreiche Arbeiter hinter sich hatten. Der Kampf gegen sie war unvermeidlich, und Marx führte ihn mit dem ihm eigenen unnachahmlichen Geschick. Wir russischen Sozialdemokraten, die unter Verhältnissen arbeiten müssen, die denen im vorrevolutionären Deutschland sehr ähnlich sind, dürfen sein Beispiel nicht vergessen. Wir, die wir sozusagen von allen Seiten von kleinbürgerlichen Theoretikern des spezifischen „russischen Sozialismus“ eingekreist sind, dürfen ja nicht vergessen, daß die Interessen des Proletariats auch uns zu einer erbarmungslosen Kritik unserer vermeintlichen Freunde verpflichten – z. B. zur Kritik der unseren Lesern wohlbekannten „Sozialrevolutionäre“ –, wie die gutmütigen, wenn auch etwas beschränkten Freunde des Friedens und der Eintracht zwischen den verschiedenen revolutionären „Fraktionen“ sich über unsere unerbittliche Kritik auch entrüsten mögen.

Die Marxsche Lehre ist die moderne „Algebra der Revolution“. Wer einen bewußten Kampf gegen die bei uns bestehende Ordnung führen will, für den ist das Verständnis dieser Lehre unerläßlich. Das ist bis zu einem solchen Grade richtig, daß sogar viele Ideologen der russischen Bourgeoisie eine Zeitlang das Bedürfnis fühlten, Marxisten zu werden. Die Ideen Marx’ waren für sie unentbehrlich im Kampfe gegen die vorsintflutlichen Theorien der Narodniki, die in schärfsten Widerspruch zu den neuen ökonomischen Verhältnissen in Rußland geraten waren. Das erkannten diejenigen unserer jungen bürgerlichen Ideologen sehr wohl, die besser als andere mit der modernen Literatur der Gesellschaftswissenschaften vertraut waren. Sie stellten sich unter das Banner des Marxismus und wurden irn Kampfe unter diesem Banner ziemlich bekannt. Als aber die Narodniki aufs Haupt geschlagen und ihre alttestamentarischen Theorien in einen Trümmerhaufen verwandelt worden waren, erklärten die neugebackenen Marxisten, daß der Marxismus seine Aufgaben bereits erfüllt habe und daß es an der Zeit sei, ihn einer strengen Kritik zu unterziehen. Diese „Kritik“ wurde unter dem Vorwand eröffnet, daß das gesellschaftliche Denken vorwärtsschreiten müsse, das einzige Resultat dieser Kritik bestand aber darin, daß unter ihrem Deckmantel unsere Verbündeten unlängst eine Rückwärtsbewegung vollzogen und die theoretischen Positionen der westeuropäischen Bourgeoisie sozialreformistischer Schattierung bezogen. Wie kläglich auch dieses Resultat des so marktschreierisch verkündeten “kritischen“ Feldzuges war, wie schwer es den russischen Sozialdemokraten auch fiel, diese „kritischen“ Verwandlungen von Leuten mit anzusehen, mit denen sie eben erst gegen den gerneinsamen Feind vorgestoßen waren und von denen man hoffte, daß sie in der Folge sich uns ganz annähern würden – bei gründlicher Überlegung mußte man sich sagen, daß der Rückzug unserer Neomarxisten auf den „Heiligen Berg“ des bürgerlichen Reformismus nicht nur ganz natürlich ist, sondern überdies eine indirekte Bestätigung der Richtigkeit der von Marx ausgearbeiteten materialistischen Geschichtsauffassung darstellt. In den Jahren 1895/96 schwärmten bei uns sogar solche Leute für den Marxismus, die weder durch ihre soziale Lage noch durch ihre geistige und sittliche Verfassung irgend etwas mit dem Proletariat oder mit dessen Freiheitskampf gemein hatten. Eine Zeitlang war der Marxismus in allen Petersburger Amtsstuben in Mode. Wenn eine solche Sachlage auf die Dauer möglich gewesen wäre, so hätte das bewiesen, daß die Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus sich irrten mit ihrer Behauptung, daß das Bewußtsein durch das Sein bestimmt werde und daß die oberen Klassen nicht zu Trägern der sozial-revolutionären Ideen unserer Zeit werden können. Aber die „Kritik an Marx“, die unmittelbar nach der Beendigung des Kampfes gegen die reaktionären Bestrebungen der Narodniki einsetzte, bestätigte ein übriges Mal, daß Marx und Engels recht hatten: das Bewußtsein der „Kritiker“ war bedingt durch ihr gesellschaftliches Sein; indem sie gegen den „Fanatismus des Dogmas“ aufstanden, traten sie in Wirklichkeit nur gegen den sozial-revolutionären Inhalt der Marxschen Theorie auf. Sie brauchten nicht den Marx, in dem sein ganzes, von Arbeit, Kampf und Entbehrungen erfülltes Leben hindurch eine heilige Flamme, der Haß gegen die kapitalistische Ausbeutung brannte. Marx als Führer des revolutionären Proletariats war für sie unpassend und „unwissenschaftlich“. Sie brauchten nur den Marx, der im Kommunistischen Manifest erklärte, daß er bereit sei, die Bourgeoisie zu unterstützen, soweit sie im Kampfe gegen die absolute Monarchie und das Kleinbürgertum revolutionär auftrete. Sie interessierte nur die demokratische Hälfte des sozial-demokratischen Programms von Marx. Das war auch ganz natürlich so; aber gerade diese vollkommen natürlichen Bestrebungen unserer „Kritiker“ machten es offenbar, daß jedes Rechnen auf sie als auf Sozialisten völlig unbegründet war. Ihr Platz war in den Reihen der liberalen Opposition, der sie auch in der Person des Redakteurs der Oswoboschdenije (Befreiung), Herrn P. Struve, einen aufmerksamen, strebsamen, und talentvollen literarischen Vertreter geliefert haben.

Das Geschick der Marxschen Theorie beweist ihre Richtigkeit. Und das nicht nur in Rußland. Es ist bekannt, daß die westeuropäischen Gelehrten lange auf sie als auf eine mißlungene Frucht des sozial-revolutionären Fanatismus verächtlich herabschauten. Aber im Laufe der Zelt wurde es immer klarer, sogar für Augen, die durch die Brillen bürgerlicher Beschränktheit schauten, daß die Frucht des sozial-revolutionären Fanatismus wenigstens einen unbestreitbaren Vorzug hat: sie liefert eine außerordentlich fruchtbare Methode zur Erforschung des gesellschaftlichen Lebens. Je weitere Fortschritte die wissenschaftliche Erforschung der Frühzeit der Kultur, der Geschichte, des Rechts, der Literatur und der Kunst machte, desto näher kamen die Forscher dem historischen Materialismus, obwohl die meisten dieser Forscher entweder überhaupt nichts von der Geschichtstheorie Marx’ wußten oder seine materialistischen, in den Augen der heutigen Bourgeoisie unsittlichen und den gesellschaftlichen Frieden gefährdenden Ansichten wie Feuer fürchteten. Und nun sehen wir, daß die materialistische Methode bereits anfängt, sich in der wissenschaftlichen Welt das Bürgerrecht zu erobern. Das unlängst in englischer Sprache erschienene Werk des amerikanischen Professors R.A. Seligman, Die ökonomische Geschichtsbetrachtung, zeugt davon, daß die offiziellen Koryphäen der Wissenschaft allmählich durchdrungen werden von der Erkenntnis der großen wissenschaftlichen Bedeutung der Marxschen Geschichtstheorie. Seligman gibt uns u.a. jene psychologischen Ursachen zu erkennen, die bis auf den heutigen Tag einer richtigen Anerkennung und einem richtigen Verständnis dieser Theorie innerhalb der bürgerlich gelehrten Welt im Wege gestanden haben. Er gibt offen und ehrlich zu, daß die Gelehrten durch die sozialistischen Schlußfolgerungen Marx’ abgeschreckt wurden. Und er versucht, seinen gelehrten Kollegen auseinanderzusetzen, daß man die sozialistischen Schlußfolgerungen beiseite werfen könne und sich nur die ihnen zugrunde liegende historische Theorie anzueignen brauche. Diese scharfsinnige Überlegung – die bereits in den „kritischen Bemerkungen“ des Herrn P. Struve, wenn auch etwas schüchtern, aber doch ganz klar ausgesprochen worden ist – ist ein neuer Beweis jener nicht mehr neuen Wahrheit, daß leichter ein Kamel durch ein Nadelöhr geht, denn ein Ideologe der Bourgeoisie sich den Standpunkt des Proletariats zu eigen macht. Marx war Revolutionär vom Scheitel bis zur Sohle. Er stand gegen Gott und das Kapital auf, wie Goethes Prometheus gegen Zeus. Und ebenso wie Prometheus konnte er von sich sagen, daß seine Aufgabe darin bestehe, Menschen zu formen, die es verstehen, als Menschen zu leiden, sich zu freuen und „dein nicht zu achten“. Die bürgerlichen Ideologen aber dienen eben dieser Gottheit. Ihre Aufgabe besteht gerade darin, die Rechte dieser Gottheit mit den Waffen des Geistes zu verteidigen, so, wie Polizei und Militär sie mit Waffengewalt unterstützen. Die Anerkennung der bürgerlichen Gelehrten wird nur eine Theorie finden, die ihnen weder für Gott noch für das Kapital gefährlich erscheinen wird. Die Gelehrten Frankreichs, wie überhaupt der Länder französischer Zunge, sind in dieser Hinsicht viel offenherziger als alle anderen. Schon der bekannte Laveleye sagte, daß die Wirtschaftswissenschaft von neuem umgebaut werden müsse, weil sie aufgehört habe, ihrer Bestimmung zu genügen, seitdem der leichtfertige Bastiat die Verteidigung der bestehenden Ordnung kompromittiert habe. Noch unlängst bewertete A. Bechant in seinem der französischen Schule der Nationalökonomie gewidmeten Buche, ohne sich zu genieren, die verschiedenen ökonomischen Lehren von dem Standpunkt aus, welche von ihnen „die wirksamste Waffe für die Gegner des Sozialismus liefert“. Es ist daher begreiflich, daß jene Ideologen der Bourgeoisie, die sich die Marxschen Ideen zu eigen machen, unvermeidlich einen „kritischen Standpunkt“ einnehmen werden. Das Maß ihrer „kritischen“ Einstellung zu Marx ist ein Maßstab für die Unvereinbarkeit der Ansichten dieses unversöhnlichen und rastlosen Revolutionärs mit den Interessen der herrschenden Klasse. Verständlich ist auch, daß ein konsequent denkender Bourgeois eher die Geschichtsideen Marx’ als richtig anerkennen wird, als seine ökonomische Theorie: den historischen Materialismus kann man eben leichter unschädlich machen als z.B. die Lehre vom Mehrwert. Diese Lehre – die einer der bedeutendsten bürgerlichen Marx-„Kritiker“ sprechend als Theorie der Ausbeutung bezeichnet hat – wird in den gebildeten und gelehrten Kreisen der Bourgeoisie immer den Ruf mangelnder Begründung behalten. Der ökonomischen Theorie Marx’ ziehen die gelehrten und gebildeten Bourgeois unserer Zeit die „subjektivistische“ ökonomische Theorie vor, die die gute Eigenschaft besitzt, daß die Erscheinungen des ökonomischen Lebens der Gesellschaft außerhalb jeden Zusammenhanges mit ihren Produktionsverhältnissen betrachtet werden, denen die Ausbeutung des Proletariats durch die Bourgeoisie entspringt und an die heute zu erinnern sehr unbequem ist, heute, wo das Klassenbewußtsein der Arbeiter sich so ungeheuer schnell entwickelt.

Die ökonomischen, historischen und philosophischen Ideen Marx’ können in der ganzen Wucht ihres revolutionären Inhalts nur von dem Ideologen des Proletariats aufgenommen werden, dessen Klasseninteresse nicht mit der Erhaltung der kapitalistischen Ordnung, sondern mit seiner Beseitigung verknüpft ist, d.h. mit der sozialen Revolution.


Zuletzt aktualiziert am 9.8.2008