G.W. Plechanow


Aus einem offenen Brief an die Petrograder Arbeiter über den Oktobersturz

(28. Oktober 1917)


W. Hedeler, H. Schützler, S. Striegnitz (Hrg.): Die Russische Revolution. Wegweiser oder Sackgasse, Berlin 1997, S.402-404.
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Genossen!

Es unterliegt keinem Zweifel, daß viele von Ihnen froh über die Ereignisse sind, die zum Sturz der Koalitionsregierung von A.F. Kerenski und zum Übergang der gesamten politischen Macht in die Hände des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten geführt haben.

Ich sage Ihnen offen: Mir bereiten diese Ereignisse Verdruß. [...] Sie bereiten mir nicht deshalb Verdruß, weil ich den Sieg der Arbeiterklasse nicht wollte, sondern im Gegenteil, weil ich diesen Sieg von ganzem Herzen herbeisehne.

Im Verlauf der letzten Monate mußten wir russischen Sozialdemokraten oft an die Worte von Engels denken, daß es für die Arbeiterklasse kein größeres historisches Unglück geben kann, als die Eroberung der politischen Macht zu einem Zeitpunkt, an dem sie dazu noch nicht bereit ist. Jetzt, nach den jüngsten Ereignissen in Petrograd, müssen die bewußten Elemente unseres Proletariats diese Bemerkung mehr beherzigen als je zuvor.

Sie sind verpflichtet, sich zu fragen: Ist unsere Arbeiterklasse bereit, im gegenwärtigen Moment ihre Diktatur auszurufen? Jeder, der auch nur ein bißchen ahnt, welche ökonomischen Bedingungen die Diktatur des Proletariats zur Voraussetzung hat, wird auf diese Frage mit einem entschiedenen Nein antworten.

Nein, unsere Arbeiterklasse kann die gesamte politische Macht noch lange nicht übernehmen, damit dies ihr selbst und dem ganzen Land zum Nutzen gereicht. Ihr eine solche Macht aufzuzwingen, würde bedeuten, sie auf den Weg eines großen historischen Verhängnisses zu drängen, was zugleich auch für ganz Rußland ein großes Verhängnis sein würde.

Von der Bevölkerung unseres Staates bildet das Proletariat nicht die Mehrheit, sondern die Minderheit. Es könnte die Diktatur aber nur dann erfolgreich verwirklichen, wenn es die Mehrheit bilden würde. Das kann kein ernst zu nehmender Sozialist bestreiten. Die Arbeiterklasse kann zwar damit rechnen, daß sie von den Bauern, die heute in Rußland die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen, unterstützt wird. Doch die Bauernschaft braucht Land, sie braucht keine Ablösung der kapitalistischen Ordnung durch die sozialistische. Mehr noch: Die wirtschaftliche Tätigkeit der Bauern, in deren Hände das Gutsbesitzerland übergeht, wird nicht auf den Sozialismus, sondern auf den Kapitalismus gerichtet sein. Auch das kann von keinem angezweifelt werden, der die moderne sozialistische Theorie gut kennt. Die Bauern sind also für den Arbeiter beim Aufbau der sozialistischen Produktionsweise ein sehr unzuverlässiger Bündnispartner. Und wenn der Arbeiter dabei nicht auf den Bauern rechnen kann, auf wen kann er dann rechnen? Nur auf sich selbst. Aber er ist doch, wie gesagt, in der Minderheit, während der Aufbau der sozialistischen Ordnung der Mehrheit bedarf. Hieraus folgt unvermeidlich: Würde unser Proletariat nach der Eroberung der politischen Macht dazu übergehen wollen, die „soziale Revolution“ durchzuführen, so würde es durch die Wirtschaft unseres Landes selbst zu einer vernichtenden Niederlage verurteilt werden.

Man sagt: Das, was der russische Arbeiter begonnen hat, wird der deutsche vollenden. Doch das ist ein großer Fehler. Zweifellos ist Deutschland ökonomisch gesehen viel stärker entwikkelt als Rußland. Die Deutschen sind der „sozialen Revolution“ näher als die Russen. Doch auch bei den Deutschen steht sie noch nicht auf der Tagesordnung. Das hatten die vernünftig denkenden deutschen Sozialdemokraten sowohl auf dem rechten als auch auf dem linken Flügel schon vor Kriegsbeginn erkannt. Und der Krieg hat durch den bedauerlichen Umstand, daß die Mehrheit des deutschen Proletariats mit Scheidemann an der Spitze die deutschen Imperialisten unterstützt hat, die Chancen einer sozialen Revolution in Deutschland weiter verringert. Gegenwärtig ist in Deutschland weder auf eine „soziale“ noch auf eine politische Revolution zu hoffen. Das wird von Bernstein, von Haase, von Kautsky anerkannt, und dem wird gewiß auch Karl Liebknecht zustimmen.

Das heißt, der Deutsche wird nicht vollenden können, was der Russe beginnt. Das wird auch weder der Franzose noch der Engländer und auch nicht der Bürger der Vereinigten Staaten vollenden können. Wenn das russische Proletariat die politische Macht zur unrechten Zeit erobert, wird es die soziale Revolution nicht durchführen, sondern nur den Bürgerkrieg auslösen, der es letzten Endes zwingen wird, sich weit hinter die im Februar und März dieses Jahres erkämpften Positionen zurückzuziehen.

Und der Krieg, den Rußland gezwungenermaßen führen müßte? Er würde die Situation nur noch komplizierter machen, die Aussichten auf die soziale Revolution verringern und die Möglichkeit einer Niederlage der Arbeiterklasse erhöhen.

Dem wird entgegengehalten: Wir erklären per Dekret den Frieden. Doch damit der deutsche Kaiser auf unser Dekret hört, müssen wir stärker sein als er; da er aber stärker ist, erklären wir, wenn wir „per Dekret“ den Frieden erklären, seinen Sieg, d.h. den Sieg des deutschen Imperialismus über uns, über die werktätige Bevölkerung Rußlands. Entscheiden Sie selbst, ob wir einen derartigen Sieg freudig begrüßen können?

Das ist der Grund, liebe Genossen, warum ich mich über die Ereignisse, die kürzlich in Petersburg stattgefunden. haben, nicht freue, sondern darüber betrübt bin. Ich sage es nochmals. Ich bin nicht deshalb darüber betrübt, weil ich den Sieg der Arbeiterklasse nicht wollte, sondern weil ich ihn sehnlichst herbeiwünsche, zugleich aber sehe, in welch weite Ferne er durch die genannten Ereignisse gerückt wird.

Ihre Folgen sind schon jetzt sehr betrüblich. Und sie werden noch viel betrüblicher sein, wenn sich die bewußten Kräfte der Arbeiterklasse nicht klar und entschieden gegen die Politik der Eroberung der Macht durch eine Klasse oder, was noch schlimmer wäre, durch eine Partei aussprechen.

Die Macht muß sich auf eine Koalition aller vitalen Kräfte des Landes stützen, das heißt auf all jene Klassen und Schichten, die nicht an einer Wiederherstellung der alten Ordnung interessiert sind. Das sage ich schon seit langem. Und ich fühle mich verpflichtet, dies jetzt zu wiederholen, da die Politik der Arbeiterklasse Gefahr laufen kann, eine ganz andere Richtung einzuschlagen. Die bewußten Kräfte unseres Proletariats müssen das schlimmste Unglück, das es für das Proletariat nur geben kann, verhindern.

 

Ganz Ihr G. Plechanow


Zuletzt aktualiziert am 9.8.2008