Karl Renner

Die Rechtsgrundlagen
der Amtssprachenfrage

(Dezember 1907)


Der Kampf, Jahrgang 1 3. Heft, Dezember 1907, S. 102–107.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Jedes Prinzip muss sich in der Praxis des Einzelfalles bewähren, wenn es auch niemals alle Einzelfälle erschöpft. Ein solches Prinzip auf dem Gebiete der Politik ist die nationale Autonomie. Ihr politischer Wert kann nur in der Anwendung auf die Praxis erprobt werden, und zwar in zweifacher Weise: Erstens gedanklich und kritisch, als Massstab der Beurteilung dessen, was ist, was geltenden Rechtes, und was Programm der Parteien ist; zweitens praktisch und organisatorisch, als Grundriss dessen, was an Stelle des Bestehenden gesetzt werden soll.

Wir haben jüngst die allgemeinen Grundsätze der nationalen Autonomie entwickelt, wir gehen nun daran, sie als kritischen Wegweiser durch das Gestrüpp unserer Sprachenpolitik und unseres Sprachenrechts zu verwerten. Der Stoff ist gewaltig, wir können ihn nicht auf einmal meistern. Insbesondere müssen wir die Untersuchung vorläufig zurückstellen, wie das Klasseninteresse des Proletariats sich zu den einzelnen Fragen des Amtsrechts stellt, solange wir die Rechtsgrundlagen unserer Sprachenordnung nicht entwickelt haben. Sie sind im Artikel XIX des Staatsgrundgesetzes über die Rechte der Staatsbürger gegeben und sind zweifacher Natur: sie ruhen einerseits auf der allgemeinen Gleichberechtigung der Sprache und anderseits auf der Beschränkung dieser Gleichberechtigung auf bestimmte Gebiete. Beide Punkte sind nunmehr kritisch zu behandeln.
 

Die Gleichberechtigung

»Die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben wird vom Staate anerkannt« – so verordnet der Artikel XIX unseres Staatsgrundgesetzes über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger. Seit der Wenzelsbader Tschechenversammlung vom 11. März 1848 bis heute, also durch bald sechzig Jahre, fordern alle nichtdeutschen Nationen diese »Gleichberechtigung der Sprachen«, selbst der grösste Teil der Deutschen gesteht sie im Prinzip zu – wer wäre so unmodern, gegen irgend eine Gleichberechtigung aufzutreten! Aber obwohl sie nun durch vierzig Jahre grundgesetzlich verbürgt ist, hat der Sprachenkrieg noch kein Ende.

Woher das kommen mag?

Das Staatsgrundgesetz erkennt den Sprachen Rechte zu – es übertrifft noch jene mittelalterlichen Volksgerichte, welche den Tieren Prozesse machten. Eine Sprache kann juristisch ebensowenig ein Recht haben als ein Pferd etwa kraft der Strafbestimmungen über Tierquälerei. Wenn das »Recht« der Sprache verletzt wird, kann sie etwa Prozess führen? Oder gibt es eine Popularklage, kraft deren jeder Beliebige als ihr Anwalt das Verwaltungsverfahren einleiten kann? Die Ausdrucksweise des Gesetzes ist unjuristisch und unkonkret, unkonkret sind auch alle Parteiprogramme, die von Gleichberechtigung der Sprache, von nationaler Gleichberechtigung reden.

Parteiprogramme sollen sich parlamentarisch durchsetzen, und sie tun dies als beschlossene Gesetze. Ein Gesetz ist im allgemeinen technisch dann vollkommen, wenn es den Berechtigten und Verpflichteten unzweifelhaft feststellt und den Umfang des Rechts und der Pflicht scharf begrenzt. Nichts von alledem leisten das Staatsgrundgesetz und unsere Parteiprogramme. Also müssen wir, um zu beantworten, was denn diese Gleichberechtigung wirklich beinhalten kann, erst eine verwickelte gedankliche Untersuchung anstellen, um aus der gestaltlosen Gleichberechtigung die berechtigten und verpflichteten Personen, das Recht und die Pflicht herauszuschälen. Gelingt uns dies, so wird uns die Zwei-, ja Vieldeutigkeit der »Gleichberechtigung« erst offenbar werden.

Wer sind zunächst die denkbaren Berechtigten und Verpflichteten?

Das Gesetz kann Rechte und Pflichten der Staatsbürger als Einzelpersonen im Auge haben. Dann sagt es: Jeder Staatsbürger hat neben dem Rechte, als Privatmann jedes beliebige Idiom zu gebrauchen, das aus der persönlichen Freiheit des Individuums fliesst, noch das besondere Recht, eine oder mehrere der landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben zu gebrauchen, zugleich hat jeder Staatsbürger die Pflicht, dieses Recht des anderen zu achten.

Das Gesetz meint offenbar mehr: es spricht von der Gleichberechtigung der »Sprachen«. Eine Sprache ist ein Gemeinsames einer ganzen Nation, das formale Verbindungsmittel aller Nationsgenossen, das Schatzkästchen ihrer Kultur, um ein Wort Jaurès’ auf sie zu übertragen. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass dem Gesetz ein Recht des Nationsganzen vorschwebt. Dann würde es hier im besonderen wiederholen, was es im ersten Absatz des Artikels ig angeordnet hat, nämlich, dass »jeder Volksstamm ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Sprache besitzt« mit dem Zusatze »auf Wahrung und Pflege seiner Sprache in Schule, Amt und öffentlichem Leben«. Wo könnte er denn sonst seine Sprachepflegen? Es bliebe doch nur der Privatunterricht und die Privatforschung in der nationalen Sprache übrig.

Als Verpflichtete liessen sich gleichfalls die anderen Nationen denken, die dieses Recht anerkennen und achten, die diese Sprache in Wort und Schrift, in Reden und Aufschriften über sich ergehen lassen müssen (Strassen-, Firmentafeln, Plakate etc.)

Wie man sieht, kann die Gleichberechtigung individuell oder kollektiv gefasst werden, kann sie die einzelnen Nationsgenossen als Staatsbürger oder das Nationsganze betreffen, sie kann vielleicht beides zugleich.

Indessen denkt das Gesetz, das von Amt und Schule spricht, offenbar noch an sonstige Verpflichtete als die anderen Staatsbürger und anderen Nationen, es begründet auch Rechte gegenüber dem Staat und seinen Organen. Es will wohl sagen: Der Staat und seine Organe sind verpflichtet, jeden Staatsbürger in seiner Sprache auf mündliches oder schriftliches Anbringen hin anzuhören. Diese Verpflichtung des Staates scheint nach unseren Einrichtungen nur den Individuen gegenüber denkbar, nur individuell zu verstehen. Wir können uns vorläufig noch nicht vorstellen, dass der Staat eine ähnliche Pflicht dem Nationsganzen gegenüber haben könnte.

Andere mögliche Rechts- und Pflichtsubjekte als Individuum, Nation und Staat lassen sich nicht erdenken.

Inhaltlich aber ist das sogenannte Recht einer Sprache keineswegs mit dem »Sprechendürfen« erschöpft. Für Monologe ist die Sprache nicht erfunden, auf jede Rede gebührt eine Antwort, die wir verstehen müssen, wenn wir nicht umsonst gesprochen haben wollen. Das Sprachenrecht hat auch seine zweite Seite, das »Verstehenkönnen«. Inwieweit ist auch diese passive Seite in die Gleichberechtigung einbezogen? [1] Hat der Staatsbürger, der aktiv gleichberechtigt ist und also in Schule und Amt seine Nationalsprache sprechen darf, auch ein Recht darauf, „dass Kundmachungen, Embleme, Münzen, Staatsnoten etc. in seiner Sprache abgefasst sind? Wie weit geht dieses Recht? Ist es auch auf die landesüblichen Sprachen eingeschränkt?

Man sieht: die allgemeine Norm der Gleichberechtigung der Sprachen lässt sowohl den Inhalt des Rechts, als auch die berechtigten und verpflichteten Subjekte im Unbestimmten, sie gibt kein Rechtsmittel an die Hand, sie ist ganz leer, das unfruchtbarste Prinzip, das wir finden konnten. Wenn das subjektive Recht nach dem Ausspruch der Rechtslehrer eine konkrete »Willensmacht der Person« begründet, diese Norm schafft weder dem einzelnen Staatsbürger noch der Nation eine solche Macht.

Für irgend etwas muss sie aber doch da sein! Und in der Tat – ganz wertlos ist sie nicht. Sie kann lückenlos [2] nur als Verhaltungsmassregel der Behörden verstanden werden, als Anweisung für die Bureaukratie, als politische Pflicht des Ministeriums, deren Einhaltung im Parlament durch die Parlamentsmehrheit erzwungen – oder verhindert wird. Wir beginnen zu verstehen. Bourgeoise Klassen, die mit der bureaukratischen Herrschaft in innerster Seele verwachsen und also einverstanden sind, können auf gar keine andere Regelung verfallen. Nationalparteien noch dazu, die vom nationalen Streite leben, haben auch nicht das geringste Interesse, subjektive klagbare Rechte der Nationseinzelnen und der Nations-gesamtheit zu begründen und deren Durchsetzung einfach dem Gerichte zu überweisen – der Richter würde sie ja überflüssig machen. Es ist ihr Daseinsgrund, die Rechtsansprüche der Nation den parlamentarischen Parteien zur Durchsetzung zu überlassen, sie also nur als politische Verhaltungsmassregel den Ministern anzuvertrauen, die sich ihnen zu verantworten haben. Diese Form der Regelung ist also das spezifische Klasseninteresse der administrativen wie der repräsentativen Bureaukratie, der Beamten sowohl wie der bürgerlichen Vertreter.

Ebenso offenbar ist es nun auch, dass die Nationen selbst und das Proletariat das entschiedene Klasseninteresse besitzen, die ganze Materie so zu regeln, dass dem einzelnen wie den Nationen als juristischen Personen klagbare, richterlich erzwingbare subjektive Rechte zustehen. Dann erst ist das Sprachenrecht der Politik entzogen und dem Recht und Gericht wirklich unterworfen.
 

Das Sprachgebiet

Jedes Amt ruht auf zwei objektiven Voraussetzungen: erstens auf seiner festgesetzten Kompetenz, das ist den rechtlichen Aufträgen und Vollmachten, die ihm zukommen – sie sind für uns nicht von Interesse. Zweitens auf der örtlichen Kompetenz. Jedes Amt hat seinen Sprengel. Dieses abgegrenzte Gebiet beschränkt teils die räumliche Sphäre der Amtshandlungen – äusser ihm amtiert ein anderes Amt gleicher Art – teils grenzt es den Kreis der Personen ab, die diesem Amte unterstehen.

Zwei Elemente enthält also der Begriff des Sprengeis: 1. eine Raumsphäre, 2. einen Menschen (Untertanen)verband.

Kann diese Raumsphäre beliebig abgegrenzt werden? Unterliegt die Zusammenfassung oder Trennung der Amtsuntertanen durch die Sprengeleinteilung der Willkür? Sind diese »Untertanen« eine willenlose Masse, die man zusammentut oder auseinanderlegt nach Passion, oder gibt es bestimmende Gründe für die Einteilung? Oder bilden sie nicht blosse Maiskörner im Sack, die man umleeren kann, sondern tatsächlich wollende Gemeinschaften?

Wieviel von der Beantwortung dieser Frage abhängt, fällt uns auf, wenn wir an die nationalen Grenz- und Mischgebiete denken. Wir erinnern uns, dass nach 1848 in Böhmen zuerst eine Sprengeleinteilung nach nationalen Siedlungsgebieten erfolgte, die später, unter Bach, umgestossen und zugunsten einer Mischeinteilung verlassen wurde, die bis heute fortbesteht. Die Gemeindegrenzen und die Kronlandsgrenzen sind verfassungsrechtlich fixiert, die Mittelgebiete nicht. Auf die Sprengeifrage hat unser Sprachenrecht kein Gewicht gelegt. Der Artikel XIX verordnet die Gleichberechtigung der »landesüblichen« Sprachen und dieses Wort landesüblich ist die einzige Norm für den örtlichen Sprachengebrauch. Landesübliche Sprache ist nicht gleichbedeutend mit im ganzen Lande übliche, auch nicht gleichbedeutend mit Landessprache, ja nicht einmal mit »einer im Bezirke üblichen Landessprache«. (Niederösterreich kennt nur die deutsche Landessprache, trotzdem ist für einzelne Gemeinden das Tschechische als landesüblich erklärt worden.) Es gibt eigentlich keine strikte Definition für den Begriff, dessen Inhalt von Land zu Land, von Judikatur zu Judikatur abweicht, so dass heute die faktische Uebung zu entscheiden scheint.

Nun hat sich der bürgerliche Nationalismus schon längst der Sprengeifrage bemächtigt, er hat in der räumlichen Abgrenzung der Amtssprengel das eigentliche Wesen der nationalen Autonomie gesehen und glaubt nun das Geheimmittel zu besitzen, wodurch alle nationalen Schwierigkeiten überwunden werden. Die Koerberschen Vorschläge vom Jahre 1902 sehen vor: »Im Interesse der Erzielung möglichst einsprachiger Behörden wären die Verwaltungs- und Gerichtsbezirke derart umzugestalten, dass die Gerichtsbezirke in der Regel nur einsprachige Gemeinden, die politischen Bezirke in der Regel nur einsprachige Gerichtsbezirke umfassen«. Darnach »wären grundsätzlich bei den landesfürstlichen Behörden drei Sprachgebiete zu unterscheiden : 1. ein einsprachig böhmisches (lies tschechisches), 2. ein einsprachig deutsches, 3. ein zweisprachiges Sprachgebiet«. Uebrigens hat das Ministerium Koerber schon 1900 mit der Kreisvorlage ein genaues Abgrenzungselaborat vorgelegt.

Die tschechische Bourgeoisie widersetzt sich dieser Abgrenzung unter dem Vorwande, dass sie eine Landeszerreissung bedeute. In der Tat verlangt sie von den Tschechen die Preisgabe einer alten, heilig gewordenen Ideologie und da fragt es sich: wem zuliebe? Den Bedürfnissen irgend einer Bureaukratie zuliebe dies zu tun, verlohnt sich des Opfers wahrlich nicht.

Ist denn die Sprengeifrage nichts als die Raumfrage für den Betätigungseifer von Bureaukraten? Wohnen in diesem Raume nicht lebende Menschen? Hat man diese nicht selbst zu fragen?

Die Amtsuntertanschaft ist ein ganz passiver, willenloser Verband. Anders kann sich die bürgerliche Herrenpolitik ihn nicht vorstellen. Wir Sozialdemokraten können diese Vorstellung nie und nimmer teilen. Das Amtsvolk ist uns auch der Amtsherr. Der rein passive Verband, die blosse Untertanensumme, wird uns zum aktiven Verband, zur Gebietskörperschaft, die sich selbst regiert. Bringen die Tschechen in Deutschböhmen das Opfer des Verzichtes auf ihre alte Herrenideologie, so bringen sie es nicht mehr einer Bureaukratenkaste, sondern einem Volk, und indem sie es dem deutschen Volke bringen, erobern sie sich zugleich für ihr eigenes Volk die gesamte Lokalgewalt. Sie erobern erst in Wahrheit das Amt, erobern sich ihre eigene lokale Bureaukratie, die nicht etwa vertrieben, sondern von den lokalen Gebietskörperschaften übernommen und gleichsam mediatisiert wird. Diese Umgestaltung ist, wie auf der Hand liegt, ein gemeinsames Interesse aller Völker, ein eminent nationales und internationales Postulat.

Stellt man die Frage so – ein Sozialdemokrat kann sie anders nicht stellen – so wird sie aus einer äusserlichen, mechanischen Gebietsabgrenzung zu Herrschaftszwecken zu der Konstituierung des Volkes selbst in stufenweise einander übergeordneten und beigeordneten Körperschaften des öffentlichen Rechts. Der bürgerliche Nationalismus verhält sich zur sozialdemokratischen Nationalpolitik wie die Schale zum Kern, wie der Ornat zum Herrscher.

Nun ist nicht mehr die Grenzlinie, sondern der natürliche Volksverband die Hauptsache und dieser ist überwiegend ein nationaler. Nun begreifen wir sofort, dass uns in einem gemischtsprachigen Bezirk nicht die Zweisprachigkeit eines Amtes genügt: Wir haben zwei Völker in einer Gemeinde, also müssen wir die Deutschen und Tschechen getrennt in je einer Nationalgemeinde organisieren, die jede die Amtshoheit über den Personenkreis ihrer Nation innehat und in allen trennbaren nationalen Angelegenheiten allein verwaltet. Die gemeinsamen Angelegenheiten des Gebietes kann selbstverständlich nur eine verhältnismässig zusammengesetzte gemeinsame Vertretung erledigen. Um ein konkretes Beispiel zu geben: Es gibt eine deutsche und eine tschechische Nationalgemeinde Budweis und daneben eine proportional gebildete politische Gemeinde Budweis. Wie sehr auf den ersten Blick diese Form überraschen möge – ist es denn nicht faktisch so? Ist das nicht der ganz adäquate juristische Ausdruck des faktischen sozialen und nationalen Lebens in Budweis?

Was aber die örtliche Abgrenzung der Gebietskörperschaften betrifft, tut uns eine strenge Kritik not. [3] Es wurde oben darauf hingewiesen, dass die bestehende Einteilung auf die Bachschen Regierungsmaximen zurückgeht. Wohl hat sie sich stark eingelebt, und sie zu ändern wird grosse Schwierigkeiten haben: Sie hat auch einen schweren Fehler: Nicht Bach, sondern die deutschliberale Partei hat die Kreiseinteilung preisgegeben, die eigentlich historische Gebietseinteilung innerhalb der Kronländer. Wir brauchen aber die Kreise. Nicht als kleine Statthaltereien, als Substrate von Kreis»regierungen«, als Mittelstellen – nein als Lokalstellen, als Selbstregierungskörperschaften, welche die gesamte Lokalverwaltung führen. Darüber ist noch vieles zu sägen, hier genüge der Hinweis, dass wir in Oesterreich keine Lokalverwaltung, ja nicht einmal den Begriff davon haben. Das elende Substrat der Gemeindeautonomie schafft nur ein diskreditierendes Zerrbild der Selbstregierung. Dies nachzuweisen, soll Gegenstand einer besonderen Studie sein.

Fassen wir zusammen. Das geltende Recht kennt die Nationen überhaupt nicht, es merkt bloss, dass in manchen Landesteilen vor den Amtsschalter Leute mit einer besonderen »Sprache« kommen, konstatiert, dass diese Sprache fatalerweise dort herum »landesüblich« und also zu berücksichtigen sei. Der bürgerliche Nationalismus hat das Bedürfnis, diese vage Landesüblichkeit streng abzugrenzen. Auch er sieht weder das Volk noch die Nation als aktiv wollende Potenzen, sondern bloss die Sprachgrenze und das Sprachgebiet. Die Sozialdemokratie allein sieht das Volk, die Nation und sucht beide personal und territorial in Körperschaften zu organisieren.

Und ich frage: Hat die Sozialdemokratie nicht das Recht, über die laute, ruhmredige Kümmerlichkeit des bürgerlichen Nationalismus mit Geringschätzung hinwegzugehen? Dieser hat sogar das Schlagwort »Nationale Autonomie« sich angeeignet. Versteht er aber darunter irgend eine Form der Selbstregierung? Keine Spur’ Die Ortsabgrenzung für die Machtsphäre der Bureaukraten, die Entdeckung eines geschlossenen und gemischten Sprachgebietes – das ist alles! Und das geschlossene Gebiet wollen sie der nationalen Bureaukratie reservieren – das Volk selbst gewinnt dabei nicht den Deut an Rechten! Aber nicht einmal eine nationale Bureaukratie zu sichern sind sie imstande.

Die Koerberschen Vorschläge normieren: »Die landesfürstlichen Behörden haben je nach dem Gebiete, auf welches sich ihr Wirkungskreis erstreckt, als einsprachig oder als zweisprachig zu gelten.« Nun wäre es natürlich von diesem Standpunkte aus, der nicht der unsere ist, zu fordern: im deutschen Sprachgebiete dürfen nur Bewerber deutscher Nationalität, im tschechischen nur solche tschechischer Nationalität, im gemischtsprachigen müssen Deutsche und Tschechen verhältnismässig angestellt werden. Das ist doch die gerade Konsequenz aus den Voraussetzungen. Aber selbst das können sie nicht. Die Nationszugehörigkeit ist keine öffentlichrechtliche Qualität der Person nach geltendem Rechte! Merkwürdig genug. Die Arbeitsbücher schmiert man voll mit relevanten Eigenschaften des Staatsbürgers wie »Nase spitz«, »Konfession römisch-katholisch«. Jeder Taufschein erzählt uns die sonderbarsten Dinge über den Staatsbürger – alles interessiert den Staat, nur die für uns allerwichtigste Tatsache, die Nationszugehörigkeit, ist kein juristisch relevantes, konstitutives Merkmal des Individuums. Welcher Staatsbeamter ist deutsch, welcher tschechisch? Das Attest darüber erteilt die – bourgeoise politische Partei. Sehr viele aber sind, wie man das witzig genannt hat, Amphibien. Zudem kann man generell nach dem Staatsgrundgesetze keine bestimmte Kategorie von bestimmten Aemtern ausschliessen. Was die Selbstregierung ohne Härte von selbst vollbringt, kann man strikt auf bureaukratischem Wege gar nicht fixieren. [4]

Wohl gibt es ein administratives Auskunftsmittel. Die Beamten eines Kronlandes bilden in der Regel je einen Konkretualstatus. Obschon die bureau-kratische Jakobsleiter von der XI. bis zur I. Rangsklasse emporführt, so hat doch jedes Kronland sein eigenes Leiterchen, das in der Spitze nur mit den anderen zusammenführt.

Es lässt sich denken, dass jede Nation für sich einen Konkretualstatus ihrer nationalen Beamten vom Kanzlisten bis zum sogenannten Landsmannminister hätte. Lassen sich doch die Nationen auch bureaukratisch konstituiert denken. Unser Programm kann dies gleichfalls nicht sein. Die Selbstregierung verträgt, wie an anderer Stelle aufgezeigt, keine geschlossene, hierarchisch geordnete Bureau-kratie, sondern die Aemter jeder Stufe haben ihre eigene speziell vorgebildete, von den anderen unabhängige Beamtenschaft. Räumen wir aber, ohne Zugeständnis, die Sprachgebietsbasis ein, so läge die Aufgabe so: Innerhalb des Konkretualstatus des Kronlandes sind drei Status aufzustellen: der Status der deutschen, der tschechischen und der gemischtsprachigen Beamten.

Wer soll sich für dieses System begeistern, besser, wie soll die Mehrheitsnation für die Preisgabe des Kronlandsstatus gewonnen werden? Heisst es doch das allgemeine bureaukratische Privileg nur spezialisieren! Was aber ist faktisch für die Nationen gewonnen? Das Ernennungsrecht, die Amtshoheit bleibt dem Statthalter und Minister, die Schranken ihrer Macht sind rein formale und ein slawisches Ministerium kann solche »Auchdeutsche« anstellen und befördern, kann so viele »Amphibien« poussieren, dass trotz des getrennten Status die Nation unter nationaler Fremdherrschaft steht. Und was heute den Deutschen passiert, stösst nach dem gewohnten Kreislauf österreichischer Politik morgen den Tschechen zu.

Man sieht sonnenklar; Auf bureaukratischem Wege ist die Aemterbesetzungs-frage überhaupt nicht vollkommen zu lösen. Sie haftet am Formalen. Ein vollkommen tschechisch sprechender Deutscher genügt den sprachlichen Anforderungen des Tschechentums, ein deutschsprechender Tscheche denen des Deutschtums bureaukratisch, er kann ernannt werden. Die Nation hat dagegen keine Waffe als die politische Opposition und Obstruktion im Parlament. Man sieht – bei dem bureau-kratischen System der zwei Brennpunkte (Seite 57 f.) genügt ein Sandkorn, um die ganze Staatsmaschine stillzusetzen. Ist das eine für den Nationalitätenstaat geeignete Verfassungsform und Aemterordnung? Das wird selbst der verzopfteste Bureaukrat nicht behaupten wollen.

* * *

Fussnoten

1. Gerichtsverhandlungen sind öffentlich, diese Oeffentlichkeit hat nur einen Sinn, wenn die Zuhörer verstehen können, was vorgeht. Setzen wir den rein akademischen Fall, in Innsbruck würde eine Strafsache ruthenisch verhandelt. Welche praktische Bedeutung käme einer solchen Oeffentlichkeit noch zu? Für den einsprachigen Nationalstaat genügt zur Begründung der Oeffentlichkeit die Freizugänglichkeit, weil das Verstehenkönnen von selbst gegeben ist. In gemischtsprachigen Staaten wird das dort stillschweigend Gegebene zweifelhaft, juristisch relevant und der rechtlichen Regelung bedürftig.

2. In einzelnen Punkten nur fliesst aus dem Artikel XIX ein subjektives Recht. Das ändert die Sachlage in der Hauptsache nicht.

3. Ich habe die gesamte staatliche Sprengeleinteilung im Kampf der Nationen einer eingehenden Kritik unterzogen (III. Kap., 2 Abschn.), auf die ich hier verweise.

4. Ohne Härte würde die Selbstregierung Abhilfe schaffen. Gesetzt den Fall, es fehlte an deutschen Richteramtskandidaten in Böhmen, die deutschen Körperschaften würden nicht viel Bedenken tragen, deutschsprechende Tschechen anzustellen. Sind doch sie es, die die Beamten vollständig in der Hand haben, die Ausnahme würde nicht schaden.


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024