Karl Renner

Der Streik der Studenten

(1. Juli 1908)


Der Kampf, Jahrgang 1 10. Heft, 1 Juli 1908, S. 433–439.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Es geschehen Zeichen und Wunder! Wie lange ist es her, dass Streik und Boykott als rüde Kampfmittel der von gewissenlosen Agitatoren aufgehetzten Fabriksarbeiter galten? Vor anderthalb Jahrzehnten noch war dem Bürgersmann und seinem Leibjournalisten dieses Kampfmittel an sich pöbelhaft, greulich, verbrecherisch. Und heute stehen Bürgersöhne vor den Hörsälen der Hochschulen Streikposten! Ueber Nacht haben sie’s gelernt, die wakeren Jünglinge! Sie tragen schwarz-rot-goldene Bänder wie die Herren Stölzel und v. Stransky, aber deren Gerede vom Streikterror, deren Gekeif nach Schutz der Studier-, will sagen Arbeitswilligen rührt sie nicht. Im Gegenteil! Studierwilligkeit heissen sie Verrat, gemeinen Verrat an den heiligen Interessen der freien geistigen Arbeit!

Das Reden verdunkelt zu sehr das Geschehen. Zu leicht sind wir geneigt, gelehrten oder begeisterten Reden zu grossen Einfluss zuzumuten. Wohl wissen alle und gestehen die Redlichen zu, dass die Verhetzung durch Worte nichts bewirkt, dass das Wort an sich keine Bewegung hervorruft, und wäre es mit Engelszungen gesprochen. Nur die stummen Tatsachen reden! Wer hat die Studenten streiken gelehrt? Ach, ihre politischen Wortführer nicht! Diese haben ihre Jungmannschaft diesmal ganz im Stiche gelassen, wenn nicht abgeredet. Ueber Nacht standen die Studenten im Streik und wussten kaum selbst wieso. Die Steine redeten, die Steine und Stöcke in den Händen der klerikalen Bauern, aber die Menschen nicht.

Streik – ein blosses Mittel. Vielleicht heiligt es der Zweck. Aber mehr ist geschehen. Wo würde das Nationalgefühl exklusiver gepflegt, der Rassenstolz- reiner gezüchtet als in Studentenkreisen? Nation und Rasse – das ist nicht mehr Mittel, das ist der Inhalt, das Ziel selbst. Und seht! Ueber Nacht standen die Studenten aller Nationen und Rassen mit ihren Professoren in einer Front. Die notwendige Internationalität im Kampfe hat sich durchgesetzt, ehe sie bedacht oder beschlossen war; sie war einfach eines Morgens da, trotz Narodni Listy, trotz hunderttausend schöner Reden, die seit einem Vierteljahrhundert gehalten worden sind! Zum proletarischen Kampfmittel proletarische Kampfesweise: es geschehen Zeichen und Wunder! Wenn die Menschen schweigen, reden die Steine und lehren handeln, ehe hinreichende Zeit zum Begreifen gegeben ist.

Ei freilich: »Der proletarische Pöbel kämpft nur um den vollen Magen, die goldene Jugend aber um die höchsten Kulturgüter!« So wehrt der erschreckte Bürgersmann ab. Wir lächeln über den Schreck und über den »vollen Magen«, wir wollen uns, wie Abram dem Innsbrucker Statthalter so taktvoll gesagt hat, nicht direkt einmischen in den Hochschulstreik. Die Volksschule ist unser näheres Leid. Es fällt uns auch nicht ein, zweifelhafte Eroberungen in den akademischen Kreisen machen zu wollen; den Streikenden zu schmeicheln, überlassen wir ruhig ihren gewerbsmässigen Schmeichlern, die sie so pünktlich nach dem Sprichwort in der Not verlassen haben. Nicht einmal mit der Wahrheit, die wir ihnen zu sagen haben, drängen wir uns ihnen auf. Besorgen wir doch, dass die ganze Wahrheit über ihre Gegenwart und Zukunft ihrem etwas verwöhnten Ohr viel zu bitter klingt, als dass sie sie voll hören möchten. Uns selbst, der Arbeiterschaft, wollen wir Rechenschaft darüber ablegen, was diese Vorgänge bedeuten.

Der Student und die Studierten bilden heute eine Klassenschichte der bürgerlichen Gesellschaft, die man als »gelehrte Berufe« bezeichnet. Man hat sie ausgezeichnet mit dem Namen »geistige Arbeiter«, um sie der Masse zu vergleichen, mit dem Namen der »Gebildeten«, um sie zu ihr in Gegensatz zu stellen. In den romanischen Ländern nennt man sie neuerdings »Intellektuelle«, eine Bezeichnung, die sich immer mehr durchsetzt. Charakteristisch für sie, wenn auch nicht allgemein bemerkt und gewürdigt ist, dass sie heute noch am strengsten unter Zunftverfassung stehen. Sie haben den allerentschiedensten Befähigungsnachweis mit einem ganzen System von Gesellen- und Meisterprüfungen und einem jahrelangen Verwendungszwang: acht Jahre Mittelschule, vier Jahre Hochschule, einige Jahre »Praxis« ohne zureichendes Entgelt. Ein beispiellos strenges Kastensystem scheidet sie in Stufen. Ferner zum Beispiel als sonstige Sterbliche stehen einander Volks-, Mittelschul- und Hochschullehrer. Innerhalb jeder Stufe sind meist noch Rangsklassen aufgerichtet. Dieses Zunftsystem musste beinahe jedes Gemeingefühl der Intellektuellen, jedes Solidaritätsbewusstsein ersticken. Eine Probe davon gab die Abwürgung der niederösterreichischen Volksschullehrer. Sie hat die Mittel-schul»professoren« ganz, die Hochschulprofessoren in ihrer Mehrzahl kalt gelassen.

Selbst das ist ungewiss, ob sie jetzt schon die tatsächliche Interessensolidarität aller »Lehrpersonen« bemerkt haben, da Lueger sie so offen enthüllt hat: Erst haben wir die Volks- und Mittelschule uns dienstbar gemacht, nun gehen wir daran, die Hochschulen zu erobern. Die Todfeinde der Intellektuellen haben längst gewusst, dass diese Schichte gemeinsame Interessen besitzt, nur sie selbst nicht.

Was bedeutet diese soziale Schichte für die bürgerliche Gesellschaft? Was war sie, ist sie und was soll sie sein?

Die Geschichte der geistigen Arbeiter ist noch nicht erforscht und geschrieben. Aber in grossen Umrissen ist sie leicht gezeichnet. Seit das kirchliche Monopol auf Wissenschaft besiegt und zugleich die Nationalsprache an Stelle der lateinischen Kirchensprache getreten war, erschien der »gebildete Laie« und die Laienwissenschaft. Die durch die Feuerwaffe überflüssig gewordene verarmte Ritterschaft und. der Sohn des städtischen Bürgers begegneten einander an den Universitäten. Das Fürstentum benützte die kleinadelig-bürgerlichen Doktores zur Aufrichtung der absoluten Staatsgewalt gegen die Stände und gegen die Volksmassen. Die Landesherren begründen militärische und zivile Anstalten, werden die Protektoren der Wissenschaften und Künste. Aber diese sind ihnen nicht Selbstzweck, sondern Herrschaftsmittel. Verhasst im Volke sind die bösen Juristen, die das fremde, römische Recht ins Land bringen, verhasst sind dem Adel und Klerus die Intendanten und Respizienten des Königs. Servil nach oben, brutal nach unten, habgierig und heimtückisch gelten sie, Fürstenknechte und Volksbedrücker sind unter ihnen kein allzu seltener Tvpus.

Allmählich verbreitert sich der Stand, er gliedert sich mit den Fakultäten und den Verwendungsweisen der Fachbildung. Die liberalen Berufe (Anwälte, Notäre, Aerzte) konstituieren sich in relativer Selbständigkeit neben dem Lager der Angestellten. Der Lehrberuf geht an der Hochschule, später an der Mittelschule aut Laien über, der Schulgehilfe des Pfarrers an der Trivialschule wird allmählich die tatsächliche Lehrperson. Die Beamtenschaft, die bis hart an die Zeit des aufgeklärten Absolutismus kommunen Polizei-, Steuer- und Kameraldienst geleistet hat, wächst mit den wachsenden staatlichen Aufgaben. Die soziale Frage des 18. Jahrhunderts, die Bauernfrage, stellt ihr ganz neue grosse Probleme, die Wiedererhebung des städtischen Bürgertums lässt Reformatoren im Geiste der bürgerlichen Aufklärung gerade in der studierten Welt wiedererstehen. Wohl dem Rechte nach noch blosse Fürstendiener, faktisch aber die Ratgeber und Leiter der Fürsten, haben in der Zeit des aufgeklärten Absolutismus die »Intellektuellen« die ganze Gesellschaft geistig geführt, ökonomisch und zum Teil auch politisch umgestaltet. In Oesterreich speziell sind die theresianischen und josefinischen Reformen zum allergrössten Teil auf das Konto dieser führenden Schichte zu schreiben, als die erste grosse eigene Ruhmestat einer neuen Klasse.

Aus kleinadelig-bürgerlichem, städtischem Milieu hervorgewachsen, wirkten sie auf das Milieu zurück. Sie bringen in das Bürgerhaus die junge Nationalliteratur,

die Kunde von dem herrlichen Erblühen der Philosophie, von den ersten Grosstaten der Naturwissenschaften, den ersten Erzeugnissen der Technik. Poesie und Musik, Wissenschaft und vor allem Philosophie finden ehrfurchtsvolle Resonanz im Bürgerhause, das Kleinbürgerkind (Louise Millerin) liest verzückt seinen Musenalmanach und verschlingt bald die Romane von Walter Scott. Das Bürgertum, dem die Zunftwelt zu eng und verhasst wird, fühlt sich fortgerissen von einem Sprössling seiner selbst, den Intellektuellen. Der Student wird der Liebling des Bürgerhauses, ja des Volkes, der Studierte die stärkste Autorität, die Wissenschaft der wirtschaftliche Bundesgenosse der produzierenden Bürgerschaft, welche über die feudalzünftlerischen Arbeitsmethoden hinausstrebt. Die Gesellschaft gestaltet sich so im Innern unter der Decke der vormärzlichen Erstarrung neu.

Und sobald im März der absolute Staat ins Wanken gerät, tritt der Intellektuelle in den Zenith seines Ruhmes, seines Schaffens. Der Student ist der Held der Barrikade, der Studierte ihr Erbe. Nach kurzer Konterrevolution begründen die Intellektuellen als anerkannte Führer des Bürgertums das liberale Regime. Sie sind der Ausdruck aller Ideen der Zeit. Grosse Juristen erneuern die Gesetzgebung des Staates und grosse Kodifikationen zeugen von deren Tüchtigkeit. Bedeutende Schulmänner, berühmte Aerzte, bahnbrechende Techniker, erfolgreiche Kaufleute, Bankgenies, Volkswirte stellt die relativ kleine Schichte der Intellektuellen. Nicht nur die Tribüne des Parlaments, auch die ganze Gesellschaft ist von der Sprache, dem Ton, der Sitte der Katheder und Kanzleien beherrscht, man holt die Minister vom Universitätskatheder, aus der Advokaturskanzlei, aus den Aemtern. Nicht mehr als Werkzeug, nicht mehr im Namen des Fürsten, kraft der eigenen sozialen Stellung als Kulminante der noch einheitlichen aufsteigenden Bourgeoisie herrscht der Intellektuelle – es ist der Zenith seiner Macht und Ehre – und das Kadettentum der Politik, die Pflanzschule der Herrschenden ist – die Studentenschaft. Wem die akademische Jugend gehört, dem gehört die politische Zukunft, der Studentenverein ist der Sammelpunkt der künftigen grossen Männer.

Ich lade die Studenten und Studierten ein, mit diesem ihrem goldenen Zeitalter ihre jetzige Lage zu vergleichen und sie werden staunen. Man holt die Minister nicht von Kathedern und Kanzleien. Neben Peschka, Praschek, Prade, Gessmann, Ebenhoch ist Marchet wirklich ein einstweilen geduldeter Anarchronismus. Man redet im Parlament schon lange nicht mehr im Ton der Hörsäle und Bureaus. Das Parlament steht nicht im Zeichen des Buches, die Landtage noch weniger. Ein Professor ist im Reichsrat, Landtag oder Gemeinderat eine komische Figur, ein Lehrer in der Politik ein anmassender armer Schlucker. Mit offener Ironie empfängt Lueger Gelehrtenkongresse. Nicht als Führer weilt der Studierte, nicht als Liebling der Student unter Bürgern und Bauern. Das Parlament von Bürgern und Bauern protestiert nicht mit einem Wort, wenn ein deklassierter Graf die Studenten »Lausbuben« nennt ; beinahe alle Welt findet es in Ordnung, wenn Aerzte, Dozenten und Professoren an öffentlichen Heilanstalten unter die Oberleitung – Bielohlaweks, des Landesausschusses, gestellt sind, und zuguterletzt setzt der Bauer seinen schweren Fuss auf die Stufen der Universität, Gehorsam heischend – – – Wir schreiben eine andere Welt!

Wir schreiben eine andere Welt, aber Professoren und Studenten wissen nichts davon. Die Studenten haben in der Erinnerung alter Burschenherrlichkeit fortgelebt und nichts bemerkt, bis auf einmal Hagenhofer vor dem Tore stand. Ihre politischen Führer haben sie in völliger Unwissenheit erhalten, sie haben ihnen jahrzehntelang geschmeichelt und sie endlich plötzlich verlassen wie Aussätzige.

Und das Wunderbare geschieht. Roheitsexzesse sonder Zahl haben in holder Abwechslung die bürgerlichen Parteien in allen Vertretungskörpern begangen, aber kein Minister hat die Respektabilität dieser Gesellschaften angezweifelt. Die ahnungslosen Rektoren, die sich mit saurem Schweiss um den Frieden bemühten, werden eines Tages von der »Reichspost« als »nette Gesellschaft« denunziert!

Welch ein Wandel der Zeiten!

In der schweren Lage, in der sich die Studenten und Studierten befinden, geziemt es sich, ihnen offen die Wahrheit zu sagen, die Wahrheit vor allem, mag sie sie auch aus stolzen Träumen rütteln; Schuld und Schicksal aufzuzeigen, Ein-und Umkehr von ihnen zu fordern. Viel Bitteres ist ihnen zu sagen, obwohl auch sie die weitaus grössere Hälfte ihrer Schuld den unglückseligen Gestirnen zuwälzen dürfen.

Der Intellektuelle war der Führer der ganzen, noch einheitlichen Bourgeoisie, wie die Wissenschaft während ihres Aufstieges ihre Bahnbrecherin war. Die Intelligenz drückte alle Zeitideen des Bürgertums aus und galt in allen es bewegenden Fragen als seine Wegweiserin. So im Zenith der Intellektuellen. Aber die Bourgeoisie ist anders geworden, ohne dass die Intelligenz davon viel Notiz nahm.

Zwar als der selbständige kapitalistische Aufstieg der Bourgeoisie sich zum erstenmal an der Krise 1873 brach, als der Kapitalismus seine innerste Natur zum erstenmal offenbarte und das Kleinbürgertum von der grossen Bourgeoisie abzuschwenken begann, machte die intellektuelle .lungmannschaft die Schwenkung mit. Aber ihre geistige Schulung reichte nicht aus, die tiefen Gründe der von ihr geflohenen »Korruption« zu erforschen und den weniger gebildeten Mitkämpfern Licht zu bringen. Nicht das System des Kapitalismus selbst, sondern sein in Oesterreich zufälliger oder zufällig sichtbarer Hauptträger, der Jude, war nach der Auffassung der Krämer und Handwerker der Schuldige – und der Student wusste es nicht besser. Schönerer ward der politische Lehrmeister der Studenten. Seine agrarische Herkunft und seine feudalen Allüren gaben den Studenten eine gewisse Schwärmerei für den freien deutschen Bauern – ein Idealbild, das so nicht existierte – und für den preussischen Junker, für den Adel überhaupt – der in Oesterreich am allerwenigsten deutsch fühlt. Dass geschichtlich der Bürger der Träger des Deutschtums in Oesterreich, dass die Deutschösterreicher vorwiegend ein über slawisches Flachland ausgestreutes Stadtvolk gewesen, passte wenig in Schönerers Vorstellungen. So gewann die Leitschichte der Studenten zur Bürgerschaft eine ablehnende, zur Bauernschaft eine schiefe, auf Einbildungen basierte Stellung, den deutschen Arbeiter übersah die deutschnationale Herrenideologie, die Vorstellung vom deutschen Herrenvolk, am Ende ganz. Widersprach doch das Aussehen und Leben eines schmählich geschundenen Hauswebers ganz dem romantischen Ideal eines Dahn vom »deutschen Mann«. Und so vollzog sich die wirtschaftliche Organisation des deutschen Volkes ohne die Studenten und Studierten bis auf verschwindende Ausnahmen. Der italienische Student im Königreich zum Beispiel lebt in der Regel die wirtschaftlichen und geistigen Kämpfe der Klasse, welcher er nahesteht, mit, er ist leiblich oder mit der Seele bei der Organisation bäuerlicher oder gewerblicher Genossenschaften, bei der Begründung von Arbeiter-Bildungs- oder Fachvereinen. Unsere deutschen Studenten haben der »Volkskraft deutschen Bauerntums« gehuldigt, während Kooperatoren den Bauern Raiffeisenkassen und landwirtschaftliche Bezugsgenossenschaften begründen halfen. Sobald die gewerblichen Zwangsgenossenschaften eingeführt waren, überliessen die Studenten es Schneider, Scheicher und Liechtenstein, diese Organisationen mit christlichsozialem Geiste zu erfüllen. Den deutschen Arbeiter gar sahen sie nur durch die Brille des Bismarcksehen Sozialistengesetzes. Agrar-, Gewerbe- und Sozialpolitik kümmerte sie keinen Deut und die volkswirtschaftlichen Seminarien überliessen sie den slawischen und jüdischen Studenten.

Unter dem Einfluss Schönerers verengten sie sich allmählich aui die Reinkultur eines Nationalbewusstseins mit Ausschluss aller lebendigen Glieder der Nation und gingen dabei auf in der Pflege geschichtlicher Bräuche, ohne Bezug auf die sozialen Kämpfe der Gegenwart. Die Hauptschuld an dieser geistigen Isolierung trägt Georg von Schönerer, nicht sie selbst! Aber sie selbst büssen heute in ihrer Verlassenheit.

Und als selbst die Universitätsprofessoren mit einem mutigen Entschlüsse den Bann brachen und durch die volkstümlichen Hochschulkurse, durch den Volksbildungsverein und die Volksbibliothek den Weg zu den Massen der Nation suchten und fanden, als Hilfskräfte zur Einführung dieser Institutionen gesucht wurden, da erlebte ich den Schmerz, dass von Zehntausenden deutscher arischer Studenten kaum einer mittat. Und als zuletzt die Freie Schule begründet ward, konnte ich die arischen Studenten, die mit der Bewegung im Anbeginne gingen, an den Fingern einer Hand herzählen. Diese Dinge werden zu den traurigsten Erinnerungen meines Lebens zählen. Wie soll die lebendige Liebe zur Wissenschaft im Volke wachbleiben, wenn ihre Jünger den Weg zu den Massen des Volkes nicht finden? Dabei wollen wir an die Arbeiter nicht denken, sondern an die Kleinbürgerschaft und Bauernschaft, welche den Studenten notwendig gebraucht hätten und fast nur eine Sorte von Auch-Intellektuellen in ihren Wirtschaftsnöten zu Gesichte bekamen, die Kooperatoren!

Dieser Selbstentthronung der Intelligenz kam der tiefe seelische Wandel des Bürgertums entgegen. Was ist aus dem durchschnittlichen kleinen Bürgerhaus geworden! Dort stossen wir nicht mehr auf einen Musenalmanach, auf wissenschaftliche oder gar philosophische Bücher. Der »Bürger« ist Warenproduzent oder Warenverschleisser geworden, ringend in der Konkurrenz und zitternd um Einkommen und Profit. Seine Unternehmerrolle ist das Geheimnis seiner Seele. Der Bauer hat von jeher in seiner Wirtschaft und dem Stück Himmel darüber den Inhalt seines Lebens gesehen und heute produziert er für den Markt wie der Kleingewerbetreibende, ja mehr als dieser. »Produzierende Stände«, den »Nährstand« nennen sie sich – sie halten nur ihre Beschäftigung für wertvoll und sehen in Beamten mehr minder nutzlose Esser oder, wenn es hochkommt, Leute, die der Nährstand zahlt und die deshalb parieren müssen. Die Intelligenz ist wohlfeil geworden, man holt derlei Leute durch eine Annonce herbei, man kriegt, so viel man will, nur »wollen sie alle viel zu viel bezahlt!«

Mögen doch die Studenten einen Blick hinauswerfen in das weite, weite Land: Ein junger Arzt wird in ein Bauerndorf berufen, mit Misstrauen wird er empfangen, mit zögernder Hand bezahlt; er bleibt ein Fremder unter Fremden. Wenn er sich noch so Mühe gibt, gilt seine Bemühung wirklich als Arbeit? – Ein Lehrer kommt in eine Gemeinde; man rechnet ihm die Lehrstunden, die Ferien nach, sein ganzes Dasein empfindet man als aufdringliche Belästigung, als Gemeindelast wie das Leben der Ortsarmen. Eine unsichtbare aber fühlbare Scheidewand hat sich zwischen produzierenden Ständen und Intellektuellen erhoben. Der ganze Stolz des sesshaften Besitzers lehnt sich auf gegen die dahergelaufenen Bildungsprotzen, die nicht einmal »einen Grashalm wachsen« machen können. Dass der Mann »im Namen der Wissenschaft« kommt, dass die Wissenschaft etwas Besonderes, ein Grosses, Freies sei, das ihren Jünger adelt, das ist doch eine leibhaftige Provokation für den Steuerzahler!

Man irrt, wenn man solche Stimmungen nur bei dem Kleinbesitze auf dem flachen Lande voraussetzen würde. Besitz und Unternehmerstellung sind heute alles, ihnen hat sich jede Tätigkeit unterzuordnen. Die Beamten waren vor drei Jahrzehnten der herrschende »Stand«, heute müssen sie sich koalieren, um eine geziemende Besoldung zu erzielen und sich selbst vor Willkür zu schützen. Die »freien« Berufe eines Advokaten oder Arztes geraten in Abhängigkeit von Grossunternehmungen, Anstalten, Kassen. Das ungeheuere Heer der öffentlichen und Privatangestellten drängt sich zeitlebens in subalternen Stellungen. Die bureaukratische Jakobsleiter führt nicht mehr in den Himmel der höheren Rangsklassen. Die Arbeitstüchtigkeit reicht aus für den unteren Rang, für die leitenden Stellungen entscheidet etwas anderes: das Vertrauen! Der Mann muss durch Vermögen, durch Familienbeziehungen, durch politische Gesinnung für die Herrschenden verläss1ich sein, das ist die Hauptsache! Im übrigen wird man ihm Leute von Talent beigeben. Jedermann wird doch zugeben, dass ein Bielohlawek für seine Hintermänner verlässlicher ist als ein Mann, dessen gesunder Instinkt durch Vielwisserei, durch gelehrte Finessen, durch den Eigensinn und die Anmassung der adeligen »freien« Wissenschaft irregemacht ist? Verlässliche Werkzeuge, nicht eingebildete Eigenbrödler brauchen sie. Solche Werkzeuge anzustellen, ist nicht Korruption, nicht Protektion, das ist vielmehr politische Klugheit, Patriotismus!

Man sehe doch nach: In jeder Bank, in jeder Anstalt, in jeder Fabrik verleiht das Kapital die wirklich leitenden Stellungen nach dem, was man so schön »Vertrauen«, »Verlässlichkeit« nennt. Und neben dieser Verlässlichkeit dient die subalterne Tüchtigkeit, Bildung, Kenntnis, die subalterne geistige Arbeit.

Das nenne ich die Suhalternisierung der geistigen Arbeit, ihre Unterwerfung unter den Besitz, das Kapital und die Kreaturen seines Vertrauens. Das nenne ich die Subalternisierung der Intellektuellen im Staat, ihre Unterwerfung unter die sogenannten »produzierenden Stände«. Diese Erscheinung beherrscht das letzte Jahrzehnt und trifft den Dorflehrer, den Landarzt, genau so wie den Sektionschef im Ministerium, der einem unwissenden Minister die Akten arbeitet, die Ideen beisteuert.

Und dieser Subalternisierung geht naturnotwendig parallel die materielle Proletarisierung der Intellektuellen, wenn die gutdotierten Stellen den Vermögenden und ihren Vertrauten Vorbehalten sind. Da der Intellektuelle seine geistige Arbeit um Besoldung verkauft, steht er unter den gleichen wirtschaftlichen Gesetzen wie der »Manuelle«, er muss sich koalieren, Resistenz und Streik versuchen, um seinen Standard zu behaupten. Die letzten fünf Jahre Angestelltenbewegung sind der sprechende Beweis für diese Behauptung. Die Folgen sind Massregelungen, Hinüberschlagen des Kampfes in die Politik, Appell an das Parlament – und die Entscheidung der sogenannten produzierenden Stände gegen das Koalitionsrecht. Man denke an Korytowski und die Beamtenmassregelungen.

Fassen wir zusammen: Das Neue unserer Tage ist, dass es eine soziale Frage der Intelligenz gibt, dass sie aufbricht wie eine Wunde am sozialen Körper und nach Heilung ruft.

Die kapitalistische Entwicklung hat die Lohnarbeit zuerst unter ihr Joch gebeugt, nun wirft sie die geistige Arbeit unter ihr Rad.

Die geistige Arbeit ist Anwendung der Wissenschaft, der Adel der freien Wissenschaft adelt auch sie, und die Berufung auf diesen Adel ist ein Anstoss, ein Hindernis für dieSubalternisierung der freien Wissenschaft. Und also wird den produzierenden Ständen die Freiheit der Wissenschaft ein Dorn im Auge. Und also setzt der Bauer seinen Fuss auf die Stufen der Universität und sagt: Wer zahlt, schafft an. Und der feudale Graf meint: Die Lausbuben sollen parieren. Und darum heisst es: Unsere Angestellten, die Rektoren, sollen Ordnung schaffen!

Und darum haben die Deutschbürgerlichen mit Rücksicht auf die »produzierenden Stände« nicht den Mut, den Universitäten zu Hilfe zu kommen. Sie waren ehedem »antiklerikal«, sie möchten es vielleicht fernerhin sein, wenn es ihnen die Rücksicht auf die durch Besitzinteressen verbündeten Klerikalen nur erlaubte! Als Vertreter der Besitzinteressen gegen die Begehrlichkeit der Arbeitenden aller Art, auch der geistigen, führen sie den Klassenkampf des Besitzes; wie soll ihnen für den Kulturkampf der geistigen Arbeit Zeit bleiben? Ihnen, die da Minister stellen, ist der anmassende Professor in Innsbruck doch nur eine Verlegenheit.

Und aus diesen Erwägungen komme ich zu dem Schlüsse: Was wir im Falle Wahrmund erlebt haben, ist nur ein erstes Symptom einer sozialen Entwicklung, welche die Studenten und Studierten, welche die Wissenschaft, ihre Lehrer und ihre Anwender ergreift! Dieses Svmptom wird gerade bei uns so besonders markant, weil die sonst traditionellen Verbindungen und Durchdringungen von Intellektuellen und Produzenten bei uns fast gänzlich fehlen, weil die Intelligenz bei uns politisch isoliert ist. Weil diese Isolierung alle Gefahren so rasch geoffenbart hat, ist sie, so beklagenswert sonst, doch wieder ein Glück für die Betroffenen. Denn nur so kann es kommen, dass sie ihre Lage früher als gewöhnlich begreifen.

In diesem Kampfe ist dem Lohnarbeiter seine Stellung gegeben. Ihn rechnet man nicht zu den produzierenden Ständen. Produzent ist doch heute, wer kraft seines Besitzes für sich Arbeiter produzieren lässt – manuelle Arbeiter und in wachsender Zahl angestellte Techniker, Handelsschüler, Juristen, Chemiker, kurz, Intellektuelle. Zu dem Sklaven der Dampfmaschine ist der Sklave der Schreib- und Rechenmaschine, zum Fabrikssklaven der Bureausklave getreten. Sie, die in Wahrheit alle Werte, alles Grosse miteinander schaffen, sind »gezahlt« und haben also nichts zu reden. Die Proletarier sehen diese Entwicklung schon lange, sie wissen längst, dass die Erfinder im Elend starben, während ihre Erfindungen die Aktionäre bereicherten, dass die Wissenschaft aber, die heute im Dienste des Kapitals die Massen knechten helfen muss, durch ihre Fortschritte die Bedingungen der Ueber-windung des Kapitalismus schafft.

Unter den günstigsten Bedingungen vollzieht sich ein solcher Prozess langsam. Die Intellektuellen werden noch lange Irrfahrten durch die bürgerlichen Parteien machen müssen, bis sie ihren Kastenstolz gegenüber dem Arbeiter überwinden, bis sie begreifen, dass Wissenschaft und Proletariat, geistige Arbeit und Lohnarbeit zusammengehören. Aber für uns war seit dem Geburtsjahre der deutschen Sozialdemokratie, seit dem Eintritt Lassalles in die Propaganda eine allezeit gesicherte Wahrheit der herrliche Ausspruch Lassalles:

Zwei Dinge allein sind gross geblieben in dem allgemeinen Verfall, der für den tieferen Kenner der Geschichte alle Zustände des europäischen Lebens ergriffen hat, zwei Dinge allein sind frisch geblieben und fortzeugend mitten in der schleichenden Auszehrung der Selbstsucht, welche alle Adern des europäischen Lebens durchdrungen hat, die Wissenschaft und das Volk, die Wissenschaft und die Arbeiter!

Die Vereinigung beider allein kann den Schoss europäischer Zustände mit neuem Leben befruchten.

Die Allianz der Wissenschaft und der Arbeiter, dieser beiden entgegengesetzten Pole der Gesellschaft, die, wenn sie sich umarmen, alle Kulturhindernisse in ihren ehernen Armen erdrücken werden – das ist das Ziel, dem ich, solange ich atme, mein Leben zu weihen beschlossen habe.


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024