Karl Renner

Sympathien und Antipathien

(1. Jänner 1909)


Der Kampf, Jg. 2 Heft 4, 1 Jänner 1909, S. 154–169.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Ganze Heersäulen von Europäern hat seit der Entdeckung von Amerika der Drang oder der Druck des Kapitalismus jährlich über fremde Meere und Länder gewälzt. Bald waren es räuberische Konquistadore mit der Flinte, bald friedliche Pflanzer mit dem Pfluge, bald Kaufleute, die in Form von Verträgen raubten und Länder mit der Sklavenpeitsche urbar machten. Dieser Strom der „Kolonisation“ ergoss sich in der Linie des geringsten Widerstandes zunächst in das Land der Wilden und Barbaren. Die alten Kulturländer des Orients besuchte aber vor dem Krieger der Kaufmann, dem Pflanzer gaben sie, selbst übervölkert, keinen Raum. Aber nachdem die Welt der Wilden und Barbaren verteilt ist, treibt der kapitalistische Expansionsdrang die Staaten Europas mit bewaffneter Macht gegen die geschichtlichen Kulturstaaten des Orients als die letzten zu erstürmenden Bastionen. Indien ist gefallen, Aegypten besetzt, aber noch stehen am Ausgang des 19. Jahrhunderts die Türkei, Persien, China – eine grosse, reiche Beute. Da geschieht das Unerwartete: Japan widersteht allen Mächten, Japan besiegt Russland und wirft die halbeuropäisch-halbasiatische Despotie des Zaren nieder. In wenigen Jahren erleben wir das grandiose Schauspiel, dass auch die Türkei, dass Persien, ja selbst China erwachen. Die kapitalistische Expansion hat mit dem Lärm ihrer Waffen die Scheintoten des Orients aus den Grüften erweckt. Noch können sich die europäische Diplomatie, die kapitalistische Journalistik, die europäischen Kabinette von dem jähen Schrecken nicht erholen, der sie fasste, als sofort nach der Entrevue von Reval mitten unter den hadernden Erbschleichern der totgeglaubte Osmane als lebensfrischer Jungtürke erschien – da machten sie alle Knixe und gratulierten griesgrämig zur Genesung.

All der jähe Schreck, die Enttäuschung, das neidvolle Misstrauen, die eifernde Galle über dieses Wiedererstehen suchte ein Ventil und fand es, als Aehrenthal diesen allerkritischesten Moment in der Psyche Europas auswählte, um Bosniens Okkupation in Annexion zu verwandeln. Was! Der schwächste, der verachtetste Nebenbuhler sollte allein ein Stück des Erbes sich zu arrogieren wagen? Unerhört! Welche Kränkung des Völkerrechtes! Und einmal im Zuge, polterte nun in allen Sprachen der losgebundene Hass und Neid des beutegierigen Imperialismus los, den sonst die Diplomatie in ledernen Noten und Reden vergeblich zu verhüllen gestrebt hatte. Alle völkerrechtlichen Fragen waren wieder aufgerührt, ein europäischer Krieg schien plötzlich nahe und noch ist die Gefahr nicht gebannt.

Diese jüngste Phase kapitalistischer Expansionspolitik sieht das Proletariat aller Zungen mit gleichem Ingrimm und gleicher Sorge wie alle vorangegangenen. Ganze Arbeitergenerationen sind in Ueberarbeit und Hunger verkommen, um jene Mehrwerte akkumulieren zu lassen, die als Handelskapital, als Anlagekapital der Kolonisation dienten. Die kapitalistischen Krisen haben die Heersäulen von Auswanderern mit der Peitsche der Arbeitslosigkeit von Land zu Land gejagt. Die Ausfuhr des Wertproduktes der Ueberarbeit und der Massen der Ueberbevölkerung hat den Ländern der Wilden Kapital und Arbeit gebracht. Wo der Druck des Kapitals nicht zureichte, haben die Schergen der Staatsmacht nachgeholfen. Englische Sträflinge haben Australien zuerst besiedelt, russische Verbannte Sibirien. Mit Blut und Tränen sind die Wege dieser neuzeitlichen Völkerwanderung gedüngt, Armut lässt sie zurück und Schrecken verbreitet sie vor sich. Das europäische Proletariat hat diese Expansion mit seinem Schweiss, mit seinem Blut, mit seinen eigenen Kindern bezahlt – sie aber dient im Grunde einer müssigen Klasse von Besitzern exotischer Wertpapiere, einer profitgierigen Kaste von kommerziellen und industriellen Kartellisten.

Das Proletariat aller Zungen ist einig in der leidenschaftlichen Verurteilung dieser Expansionspolitik, die heute den bestimmten Charakter dieser Zeitphase, den Charakter des Imperialismus angenommen hat und jede sozialdemokratische Arbeiterpartei steht in scharfem Kampf mit den Imperialisten des eigenen Landes, die englische wie die russische, die französische wie die deutsche. Waren wir Oesterreicher durch die Armseligkeit unseres Staatswesens bisher jedes solchen Kampfes enthoben, so hat auch uns Herr Aehrenthal eine ähnliche Aufgabe gestellt durch sein bosnisches Abenteuer und auch die österreichische Sozialdemokratie hat im Kampf gegen den Versuch einer Expansionspolitik die gleiche Stellung eingenommen wie ihre Bruderparteien.

Diese gleichmässige Verwerfung in Prinzip und Praxis hat indessen nicht gehindert, dass man im Uebel Grade unterschieden, in der Leidenschaft des Urteils verschieden weit gegangen ist. Und in der Tat kann das, was auf allen Seiten schlimm ist, auf einer schlimmer als schlimm, kann hassenswert und übergefährlich sein oder scheinen.

In der letzten Balkankrise kommen, wie Otto Bauer in dieser Zeitschrift wiederholt ausgeführt hat, zwei Gruppen von Mächten in Widerstreit, der britische und der deutsche Imperialismus je mit seinen Mitinteressenten. Und dieser Widerstreit ist umso gefährlicher, als seit der Ausschaltung oder Schwächung Russlands der Gleichgewichtszustand Europas auf längere Zeit hinaus nicht gegeben sein wird. Russlands Schwäche macht es augenblicklich zum Gefolgsmann Englands und Russland folgt das befreundete Frankreich. Die englisch-russische Entente von Reval, die jüngste Balkanentente zwischen Italien und Russland, die ganze Einkreisungspolitik Englands gegen Deutschland vereinigen auf der einen Seite die Westmächte, Russland und wohl auch Italien, isolieren auf der anderen Seite Deutschland und Oesterreich in Mitteleuropa. Die westöstliche Entente gegen die Mittelstaaten – diese Formel drückt etwa den heutigen Wettkampf der Hauptgruppen und Hauptrichtungen der kapitalistischen Expansionspolitik aus.

Obwohl nun das internationale Proletariat jeder Gruppe redlich die Ausdehnungsund Kriegstendenzen im eigenen Lande bekämpft, so ist doch eines auffällig: dass nämlich die Tendenzen der westöstlichen Entente heute allem Anschein nach nicht auf so leidenschaftlichen Hass stossen, wie jene der Mittelstaaten. Augenscheinlich ist, dass die sogenannte „Ländergier“ Oesterreich-Ungarns und die Herrschaft des Deutschen Reiches als das Schlimmere des Schlimmen gilt, wenn wir die Pressstimmen, auch aus unseren Reihen, abwägen. Wir sind gezwungen, uns über die Ursachen dieser Erscheinung Rechenschaft abzulegen. Denn auffällig ist sie immerhin.

Ist doch England der Staat jener Bourgeoisie, die mit allen Mitteln der Gewalt, des Rechts und des Rechtsbruches die allermeisten Länder zur kapitalistischen Ausbeutung unterworfen hat. Was ist Bosnien gegen Aegypten, was Deutsch-Afrika gegen das Land der Buren, was ist aller Kolonialbesitz eines anderen Staates gegen Indien! Gewiss hat heute Englands Herrenklasse ihre besonderen, zum Teile humaneren, dann aber gewiss umso perfideren Mittel der Kolonisation und Kolonialherrschaft, gewiss sichert Englands Herrschaft den unterworfenen Ländern bei der allermethodischesten Ausbeutung wenigstens den einen Vorteil der Methode, der Ordnung, bei tunlichst geringem Druck und grösstmöglicher kapitalistischer Investition. Aber selbst dieser relative Vorzug fällt für den prinzipiellen Gegner des Kapitalismus nicht allzu sehr ins Gewicht, insbesondere im Angesicht der unermesslichen Ausdehnung dieser Ausbeutung in Indien. Der Zarismus aber hat die ökonomische Ausbeutung gehäuft mit politischer Knechtung und zugleich mit der korruptesten Rechts- und Verwaltungsunsicherheit, mit der geistigen Rückständigkeit. Daneben steht auf seinem Schuldkonto die grausame Henkerarbeit an der russischen Arbeiterschaft und die ständige Bedrohung der ganzen europäischen Demokratie. Wie die bestehende Duma diese Schuld und Gefahr mindern wird, ist noch abzuwarten.

Und diesen zwei grössten Kolonialmächten, diesen zwei Bourgeoisien mit der ausgedehntesten Herrschaftssphäre steht Deutschland mit einem schlechten, ertraglosen, geringfügigen Kolonialbesitz und Oesterreich-Ungarn mit seinem Bosnien gegenüber. Diese Tatsache zwingt uns die Frage auf, warum in den Augen selbst der proletarischen Welt das Mass ihrer Schuld schwerer wiegt als jenes der Grossherrin der Meere und des Grossherrn der Länder.

Was das Deutsche Reich betrifft, so ist die Ursache sofort klar. In keinem Lande der Welt bestehen nebeneinander eine so hohe allgemeine Bildung und Reife des Volkes einerseits und eine über alles anmassende, herrische, autokratische Staatsverwaltung, eine gleich brutale, rücksichtslose, sozial verhärtete Bourgeoisie andererseits. Der englische Bourgeois fühlt doch einigermassen sozial, der französische hat sich politisch mit der Demokratie abgefunden. Der deutsche Bourgeois aber trägt schamlos seinen Hass gegen die Arbeiterklasse, seinen Widerwillen gegen die Demokratie zur Schau, während Kaiser und Junker ebenso rückhaltslos ihre angemasste Superiorität gegenüber der Volksgesamtheit bekunden. Sedan hat die Staatsgewalt und ihre Träger, das grosse Verdienen nach dem Milliardensegen hat den Bourgeois mit grenzenlosem Hochmut geschlagen, dieser doppelte Hochmut hat den doppelten Hass des Proletariats auch redlich verdient und auch alle nichtdeutschen Proletarier fühlen ihn mit. Nach aussenhin hat dieselbe Geistesverfassung die Bramarbasaden Wilhelms II. gezeitigt, welche eine ganze Welt verdrossen und verletzt, eine ganze Welt des Hasses für den deutschen Namen gezüchtet haben. Und es ist nur ein Zug in diesem Bilde des preussischdeutschen Systems, wenn jüngst in der Türkei die Gottesgnadenweisheit der deutschen Diplomatie die jahrelange Hätschelung des Sultans mit dem Verlust des Vertrauens im türkischen Volke selbst jählings bezahlt hat.

Nichtsdestoweniger aber lässt dieses Verschulden der Hohenzollern, der Junker und der hochkapitalistischen Kreise Deutschlands heute die grosse Ueberzahl der deutschen Nation, von der ein Drittel sich zur Sozialdemokratie bekennt, von der das ganze Süddeutschland jenem Hochmutsexzess sich fernhält, über das verdiente Mass büssen. An Eroberung durch Gewalt ist doch das Deutsche Reich mit Russland, an kolonisatorischer Unterwerfung mit England unvergleichbar – an Gier nach Eroberung aber gibt eine kapitalistische Bourgeoisie der anderen nicht nach. Die proletarische Internationale hat keine Ursache, moralisch Unterscheidungen zu machen, politisch aber birgt der mächtigere Despotenwille des Moskowitertums die grössere Bedrohung des europäischen Proletariats in sich als die durch drei Millionen sozialdemokratische Stimmen gebändigte Imperatorenromantik Wilhelms II. Die auf dem Wahlunrecht aufgebaute Duma und die vorübergehende englische Entente ändern nichts an der Tatsache, dass der Zarismus der Hauptfeind des europäischen Sozialismus ist und bleibt.

Was unsere französischen Genossen seinerzeit trotz der Allianz verstanden haben wird dem englischen Proletariat trotz der Entente nicht unerkannt bleiben.

Und ebensowenig kann die Wollust Wilhelms an Kürassierstiebeln und blanken Säbeln, an militärischer Dekoration, seine ganze Makkabäerphantasie, die ihn an die Spitze siegreicher Heerscharen wider Hunnen und Chinesen versetzt, darüber hinwegtäuschen, dass das Deutsche Reich – trotz des bösen Willens seiner Herren – tatsächlich eine Friedensmacht ist. Es wäre angezeigt, wenn wir Marxisten auch darin beherzigen wollten, dass man die Menschen und Staaten nicht darnach beurteilen darf, wie sie sich selbst geben, sondern darnach, was sie kraft der tatsächlichen Verhältnisse sein müssen. Die deutsche Nation ist im gewöhnlichen Lauf des politischen Alltags zur Hälfte politisch indolent, zur Hälfte politisch ohnmächtig gegen das rhetorische und dekorative Getue seiner Junker – aber sie kann im Ernstfälle nicht so handeln, weil das keine Nation kann. Das jüngste, im ganzen noch wirklich klägliche Sich-Ermannen ist ein Symptom dafür, dass auch eine durch vierzig Jahre friedlichen Geldverdienens politisch imbezill gewordene Nation in der Stunde der Not sich besinnt, Deutschland kann, mitten zwischen waffenstarrenden Staaten gelegen, einen Krieg nur unter den aussergewöhnlichsten Umständen und dann nur unter dem Risiko wollen, dass der deutsche Boden wieder wie im Dreissigjährigen Krieg das Schlachtfeld Europas werde. Zudem winkt ihm keinerlei lohnenswerter Preis des Sieges.

Ganz anders aber England. Den Frieden im Lande garantiert ihm der Ring der Wogen um seine Küste, den Krieg auswärts führt es unablässig. In den letzten vierzig Jahren hat es unablässig Krieg geführt und in diesem Kriege riskiert es nicht den unterschiedslosen Bürger, sondern geheuerte Proletarier. Die englische Bourgeoisie führt ihre Kriege gegen bar und ohne persönliche Opfer, ohne Risiko des Heimatlandes und der Siegespreis sind grosse Reiche, noch grössere Reichtümer. Und wo Englands Bourgeoisie nicht Kriege führt, stiftet sie Kriege an. Das offene Verbrechen des deutschen Militarismus, der das Land und den Bürger schlägt, fordert unseren leidenschaftlichsten Kampf heraus, aber der britische Militarismus der Soldtruppen und Kolonialarmeen, die britische Diplomatie der internationalen Giftmischerei – dieses System heuchlerischer und feiger Tücke, das die Habsucht hinter Sittensprüchen verdecken will, ist und bleibt heute wie jemals der Erzfeind des Friedens dieser Welt!

Das dürfen auch die Sozialdemokraten Deutschlands den mutigen Bekämpfern des britischen Imperialismus, den englischen Genossen glauben.

In dieser Abstufung der Gefahren liegt natürlich keine Abstufung von Charaktereigenschaften ganzer Nationen. Die gleiche, gleich starke imperialistische Neigung der Bourgeoisien äussert sich eben verschieden unter verschiedenen politischen und ökonomischen Bedingungen und Machtverhältnissen.

Wenn Oesterreich-Ungarn in den Händeln der grossen Welt heute der Genosse des Hasses Deutschlands ist und in den jüngsten Ereignissen der Hauptstein des Anstosses geworden, so verwundert uns das nicht. Das ist das gerechte Erbe Metternichs, der wohlverdiente Nachlass aus der Zeit des Bachschen Absolutismus. Aber wenn man dieser Misere eines Staatswesens, das sich Oesterreich-Ungarn nennt, dieser kombinierten Hilflosigkeit von Dynastie, Regierungen und Völkern, die sich unter dem Titel einer Grossmacht vor Europa schamvoll versteckt, in London und Petersburg finstere Pläne oder gar die Macht zur Ausführung solcher Pläne andichtet, so tut man unserer Armseligkeit wirklich bitter Unrecht. Wir österreichischen Sozialdemokraten führen unseren revolutionären Kampf unter gar sonderlichen Umständen, die auch der achtsame Genosse auswärts nicht leicht restlos begreift. Eher als Machthunger und Expansionsstreben bei uns einen Krieg herbeiführt, ist zu fürchten, dass ihn die selbstlose Dummheit der Herrschenden oder die übergrosse Schwäche des Landes provoziert. So war Aehrenthals Souveränitätserstreckung nicht zwecks „Eroberung“ Bosniens, sondern zum Zwecke seiner Verteidigung gegen die serbische Irredenta gedacht – eine beschränkte Massregel, die uns durch ihre Beschränktheit bald in einen Krieg verwickelt hätte. – Die Schwäche Oesterreichs aber ist eine permanente Kriegsgefahr, solange die Chéradames in Paris in ihren nationalistischen Hoffnungen oder Befürchtungen und die englischen Imperialisten bei ihren Berechnungen von einem „zerfallenden Reiche“ sprechen. Nicht auf den kräftigen Willen Oesterreichs, sondern auf seine inneren Wirren stellt die westöstliche Kriegspartei ihren Kalkül. Und so verrät es einen hohen Grad von Heuchelei, wenn zugleich jenem Staate, von dessen Schwäche man zu profitieren ausgeht, eine finstere, gemeingefährliche Machtpolitik zugeschrieben wird.

Dabei übersieht die Publizistik des Westens, dass das heutige Oesterreich mit fast durchaus demokratischen Parteien und einer sozialdemokratischen Fraktion von 89 Mann nicht mehr das Oesterreich Metternichs oder Bachs ist. Oesterreich besitzt ein besseres Wahlrecht als das Deutsche Reich, ein breiteres als England. Freilich steht mit dieser Demokratie der Gesetzgebung die alte bureaukratische Form der Verwaltung in Widerspruch – aber die Verwaltung ist weniger bureaukratisch als jene Frankreichs, sie und die Rechtspflege unendlich mehr von sozialem Geiste berührt als jene Deutschlands und selbst, wie jüngste Entscheidungen aufweisen, jene Englands. Die Publizistik des Westensvor allem unsere Parteipublizistik – wird nicht umhin können, die Verfassungsänderung von 1905 und die damit verbundenen Systemwechsel auf dem Konto der inneren und äusseren Politik zu registrieren.

Tut sie das, so wird ihr die politische Funktion Oesterreichs – die es hat, auch wenn seine Staatsmänner weder darum wissen noch sie wollen – gegenüber dem Balkan und Russland nicht länger verborgen bleiben. Oesterreich hat trotz aller Versuche keine einzige der mitteleuropäischen Nationen entnationalisiert oder politisch geknechtet, sondern – mit oder ohne Willen – die Nationen konserviert – mit Volks-, Mittel- und Hochschulen ausgestattet und insbesondere die West-und Südslawen so gegen den panslawistischen Zarismus immunisiert. Es hat der polnischen Nation gegen Zarismus und Hakatismus eine Zuflucht eröffnet, gleichsam eine Stätte der Ueberwinterung, es behütet die ukrainische Nation vor dem Einschmelzen in die grossrussische, es bereitet eine staatliche Konsolidierung der Südslawen auf demokratischer Basis vor – wider den Willen der Staatslenker, bloss kraft der eigenartigen internationalen Natur dieses Staates. Die nationale und demokratische Entwicklung Oesterreichs muss auf die Dauer das heutige russische System unterhöhlen, zugleich ist diese internationale Völkeragglomeration zwischen Alpen, Karpathen und Balkan als Puffer zwischen dem Osten und Westen selbst ein Stück Friedensgarantie Europas. Dies dank seiner internationalen Zusammensetzung und dank der ständigen Kontrolle, welche die österreichische Arbeiterschaft an der Politik des Staates zu üben in der Lage ist – nicht etwa dank einer Weisheit oder Mässigung seiner herrschenden Kreise.

Noch leben freilich in unserem Lande machtvolle Erinnerungen von Anno 1830 und 1855, mit ihnen liegen wir im Kampfe und sie kleiner erscheinen zu lassen, als sie sind, haben wir keine Ursache. Aber über die Zeit und über ihren Grad hinaus leben sie fort in der öffentlichen Meinung des Westens. Wenn Ferdinand Lassalle 1859 schrieb [1]: „Oesterreich ist ein reaktionäres Prinzip“, wenn er Oesterreich als das Hindernis des Sieges der Demokratie in Europa, als Hindernis ihres Fortschreitens nach dem Osten denunzierte, so war das vor 1866 und bis 1905 richtig, aber für heute und für alle Zukunft ist es falsch, ist das gerade Gegenteil wahr. In diesem halben Jahrhundert seit Lassalles Italienischem Krieg hat die europäische Demokratie (natürlich lange nicht der Sozialismus) diese Barriere eingenommen und befestigt und hat sie zu verteidigen. Gegen die Einschmelzung der Nationen des Ostens in den russischen Imperialismus, in das Moskowitertum, ist vielmehr Oesterreich heute das einzig denkbare Bollwerk.

Wir leben heute in der bürgerlichen Welt – sie ist nicht die unsere. Eine österreichische kapitalistische Expansionspolitik – wenn und soweit eine solche einsetzt, ja einsetzen kann – wird auf die leidenschaftlichste Abwehr der österreichischen Sozialdemokratie stossen. Nicht um eine Gutheissung einer solchen handelt es sich uns. In der Verwerfung einer solchen kapitalistischen Eroberungspolitik stehen wir mit unseren englischen und französischen Genossen in einer Front. Aber die Bevorzugung an Hass und Furcht, mit der man heute vielfach die Mittelmächte auszeichnet, scheint uns im höchsten Grade unangebracht und gefährlich. Denn auch in ihr liegt ein Stück Gefährdung des Weltfriedens, dem wir alle, jeder in seinem Bereiche, redlich dienen wollen.

Uns österreichischen Sozialdemokraten obliegt indessen die Aufgabe, nicht bloss die geographisch gegebene Funktion Oesterreichs – als Vorbastei der politischen Demokratie, der nationalen Autonomie und der proletarischen Emanzipation gegen den Osten – dem Auslande gegenüber festzustellen, sondern sie vor allem dem Lande selbst und seinen Beherrschern nach Kräften aufzuzwingen. Wir haben dies begriffen, als wir der Krone und der Bureaukratie die Wahlreform aufzwangen; und obschon wir zunächst nur an uns selbst dachten, war uns wohl bewusst, dass die österreichische Wahlreform mit die Fortführung der ungarischen zum Gefolge hat, dass die vollzogene Wahlreform in Oesterreich auch die Sache der Verfassung in Russland stützt – wie ja umgekehrt die russische Revolution den Anstoss zur österreichischen Reform gegeben. In der Geschichtsepoche, in welcher der Osten erwacht, hat das Proletariat Oesterreichs, das an dem Tore des Ostens liegt, eine Mission im Osten, eine Mission, die es doch im Lande erfüllen kann, weil jede Errungenschaft nach Osten unmittelbar weiterwirkt. Dieser Zusammenhang muss unsere Tatkraft steigern, er fordert von uns die höchste Kraftanspannung, denn wir wissen, was wir für uns tun, das tun wir zugleich für eine erwachende Welt.

Die Erkenntnis dieser Aufgaben peitscht uns gegen die geltenden Verfassungszustände erst recht auf. Politische Demokratie, nationale Autonomie, soziale Gesetzgebung – Oesterreich braucht sie um seiner selbst, um seiner Zukunft, um des europäischen Friedens, um des erwachenden Ostens willen: Aber wir haben sie eben erst „in der Tendenz“, in Ansätzen! Ueber dem Lande liegt noch das Verwaltungssystem Bachs, der politische Geist des Konkordats, die Anmassung der Feudalität! – Und zusammengekettet ist das Land mit der betyarischen Zwangs- und Betrugsherrschaft, welche die Demokratie schändet, die Nationen erwürgt und das Proletariat massakriert, und diese Domäne der Brutalität und Niedertracht gefährdet schon durch ihre Nachbarschaft die Demokratie, die Nationen, das Proletariat Oesterreichs: Hier ist unser nächster Osten! – Welche Unsumme von Arbeit haben wir in unserem Ländergebiete zu verrichten, um zu erfüllen, was das Proletariat des Ostens und Westens von uns zu erwarten das Recht hat!

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Fussnote

1. Der italienische Krieg II.


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024