Karl Renner

Der Gesetzentwurf über die Sprachenfrage

(1. März 1909)


Der Kampf, Jg. 2 Heft 6, 1. März 1909, S. 241–246.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Die österreichische Bureaukratie hat in dem vorgelegten Sprachengesetz und Kreisordnungsentwurf ihr Gutachten über die deutsch-tschechische Frage abgegeben. Es wäre lächerlich, diese Entwürfe der Person oder dem Ministerium Bienerth zuzuschreiben, in ihrer Vorlage ein Verdienst oder Ungeschick dieser Herren zu sehen. Tatsache ist, dass an diesen Entwürfen die zentrale Bureaukratie seit dem unglückseligen Ausgang des Regimes Badeni gearbeitet hat. Bis Badeni sind die Sprachenverordnungen der Kriegsschatz und Korruptionsfonds jener feudalklerikalen Herrschaften gewesen, welche die Bureaukratie als Regierungsapparat für ihre Klasse und den mit ihnen verbündeten Episkopat benützten und die parlamentarische Zustimmung dazu durch nationale Konzessionen erhandelten. Mit Badeni fällt das System und die hohe Feudalität ist mit ihrem Latein zu Ende; an Stelle der feudalen Statthalter-Minister rücken bürgerliche Bureaukraten vor, man könnte das letzte Jahrzehnt die Zeit der Präsidialistenregierung benennen. Unter Koerber, Gautsch und Beck müht sich die österreichische Bureaukratie selbst – ohne direkte Unterstützung irgend einer einzelnen der bürgerlichen Klassen – die Geschäfte zu führen, den Staat aus dem Chaos zu reissen und die Bedingungen des nationalen Friedens zu finden, diese Bureaukratie stellt dabei ihre besten Kräfte ins Feld und Koerber, Gautsch und Beck sind noch immer ganz andere geistige Potenzen als alle ihre Vorläufer von Taaffe bis Thun, ihre Politik folgt auch einem anderen Grundsatz: Die Feudalität wollte sich mittels der Bureaukratie durch den Widerstreit der Nationen halten, die bureaukratischen Regierungen wollen den Staat selbst aus dem Chaos führen durch den redlich gesuchten Ausgleich der Nationen auf der Basis des bürgerlichen Parlamentarismus (Koerber) und der demokratischen Anteilnahme an der Regierung (Beck). Durch die ganze Dauer dieser Epoche wurde an den jetzt dem Hause unterbreiteten Sprachenvorlagen gearbeitet und gefeilt. Sie sind das Werk unserer zentralen Bureaukratie in doppeltem Sinne: Sie steht hinter den Entwürfen und – hinter den Entwürfen steht vorläufig nichts als sie. Dieser bureaukratische Ursprung erklärt alle die kleinen Vorzüge der Entwürfe und erklärt auch ihre vielen grossen Mängel.

Man kann nicht in Abrede stellen, dass die zentrale Bureaukratie – das, was Bienerth die „Staatsgewalt“ nennt – dem nationalen Frieden einige Opfer zu bringen sich bereit fühlt. Das Hauptopfer – nach ihrer überlieferten Auffassung – liegt wohl darin, dass die Sprachenrechtsmaterie nunmehr durch Gesetz, also durch das Parlament festgelegt werden soll, während sie bis heute der Verordnungsgewalt der Verwaltung und der „freien“ Entscheidungsgewalt der höchsten Gerichte unterlag. Diese Verordnungen und Entscheidungen waren nämlich bisher an nahezu nichts gebunden als an die zehn Druckzeilen des ungenügenden Artikels XIX des Staatsgrundgesetzes. Diese zehn Zeilen bilden das Grundrecht, die Magna Charta der acht Nationen Oesterreichs! Diesen kümmerlichen Rechtsschutz der Nationen braucht man nur zu vergleichen mit dem grandiosen Bau unserer Rechtsvorschriften zum Schutze der Kirchen oder des Militärs, man braucht nur der detaillierten Regelung der interkonfessionellen Verhältnisse zu gedenken, um einzusehen, dass die internationalen Rechtsverhältnisse so gut wie völlig ungeregelt sind. Die Machtbefugnis, aus dem Orakelspruch des Artikels XIX alle Rechte der Nationen herauszuinterpretieren, ihn durch Verordnungen und Entscheidungen auszulegen, ist somit begreiflicherweise eine Kraftquelle der Bureaukratie gewesen, aus welcher zu schöpfen sie verzichtet, sobald ein detailliertes Gesetz über die internationalen Rechtsverhältnisse in Oesterreich ihre Willkür aufhebt. Um nur durch ein Beispiel diesen Zustand zu beleuchten: Der Einfluss der Konfessionen, vor allem des Episkopats und der Pfarrer auf das Schulwesen ist ausdrücklich garantiert und ausführlich geregelt, der Einfluss der Nationen auf das Schulwesen ist in keinem einzigen Reichsgesetz auch nur erwähnt. Verwaltungsgerichtshofentscheidungen haben erst das Recht auf nationale Minoritätsschulen aus dem Artikel XIX und dem § 1 des Schulerrichtungsgesetzes gewaltsam herausinterpretieren müssen!

Diese Machtbefugnis der Bureaukratie mochte dieser selbst durch eine geraume Zeit erwünscht erscheinen, aber sie hatte eine für Oesterreich im ganzen sehr beklagenswerte Folge. Die nationalen Parteien waren, wenn sie für die Nationen etwas durchsetzen wollten, auf die Erpressung an der Bureaukratie, auf die politische Nötigung der Verwaltung und der Gerichtshöfe geradezu hin- und angewiesen, sie mussten darauf ausgehen, günstige Verordnungen und Entscheidungen als Konzessionen gegen regierungsfreundliche Abstimmungen zu erpressen. Wie hypnotisiert starrten die Nationalparteien auf die Regierung, wie sie verordne und entscheide; alles kam für sie darauf an, Macht im Parlament, Macht gegen die Regierung zu sein, um zu erpressen. Und dabei ging ganz und gar das Bewusstsein verloren, dass es ja einen anderen Weg für die Parlamentsparteien gebe, um ihre Nationen zu sichern, den Weg des Gesetzes, den einzigen, der sich dem Hause der Gesetzgebung ziemt. Ja, da die Regierungen schwach waren und im Hinblick auf den Hof und Ungarn selten ein gutes Gewissen besassen, war leichter und eher etwas, war mehr bei schlechten Regierungen durchzusetzen als im Parlament. Also wich man bewusst dem Gesetze aus und stellte seine Sache auf die Erpressung von Verordnungen und Entscheidungen! Typisch für diese Politik ist vor allem ein Politiker, Kramarsch. Sein ganzer politischer Kalkül ist auf die Person des jeweiligen Ministerpräsidenten, auf die „Wiener Regierung“ gestellt, von der er endlich „Gerechtigkeit“ für sein Volk fordert. Er tut das auch heute noch, als ob ihm nicht jedes politische Kind sagen könnte, dass die Regierung heute, wo auf beiden Wagschalen das Gewicht der Obstruktion ruht, es gar nicht mehr wagen darf und nicht das Gewicht eines Strohhalms hat, in nationalen Dingen den Ausschlag für oder gegen zu geben. Mit Kramarsch zugleich ist die ganze tschechischbürgerliche Oeffentlichkeit hypnotisch festgebannt auf die „Wiener Regierung“ und übersieht dabei völlig, dass dieser in nationalen Fragen durch die todsichere Folge der Obstruktion jede Möglichkeit einer einseitigen nationalen Aktion aus der Hand geschlagen ist. Mit monomaner Geduld harrt sie trotz des Fiaskos der Sprachenverordnungspolitik, trotzdem irgend ein Clary jedesmal aufheben müsste, was irgend ein Badeni verordnen wollte, auf jenen starken und gerechten Ministerpräsidenten, welcher der Nation Gerechtigkeit widerfahren lassen wird. Dieser absurde Messiasglaube lässt natürlich die Tschechen übersehen, dass es in nationaler Beziehung für edle Zukunft nur eine Instanz gibt – das Volkshaus und seinen Beschluss, das Gesetz als den Friedensvertrag der Völker selbst! Oesterreichische Regierungen mögen in anderen Dingen noch so stark, so gerecht, so weise oder töricht sein – in nationalen Dingen sind sie in aller Zukunft ein Nichts an realer Macht, ihre ganze Funktion ist – und sie ist sehr wichtig, ja entscheidend – die einer Mittlerin zwischen den Nationen im Parlament.

Die Kramarschsche Monomanie, die sich der ganzen tschechischen Nation mitgeteilt zu haben scheint, offenbart sich heute so sichtbarlich darin, dass man erklärt: Was brauchen wir anderes als den Artikel XIX und eine gerechte Regierung, die den Mut hat, mit dem deutschen Veto zu brechen? Was brauchen wir anderes als die Durchführung der Gleichberechtigung? [1] Mit diesen Redewendungen will man der parlamentarischen Verhandlung der Sprachenvorlagen ausweichen. Heute wollen dies die Tschechen, während die Deutschen im Augenblick sich so anstellen, als wollten sie das Gesetz. Diesem Spiel gegenüber wird eine historische Erinnerung sehr am Platze sein.

Am 1. August 1883 richtete Dr. Rieger im Namen des Klubs der böhmischen (das ist tschechischen) Abgeordneten an Dr. Schmeykal, den Obmann des Klubs der deutschen Abgeordneten, ein Schreiben, in dem er zunächst den Irrtum zurückweist, dass durch den Artikel XIX des Staatsgrundgesetzes das Sprachenrecht ausreichend geregelt sei, darauf hinweist, wie dieser Rechtszustand den Unfrieden in Böhmen nähre, und „sonach an die Vertreter der Deutschböhmen das aufrichtige brüderliche Ansuchen stellt: aus ihrer Mitte eine Kommission von drei oder fünf Vertrauensmännern zu erwählen, welche demnächst mit einer gleichen Anzahl unserer Vertrauensmänner zusammenzutreten hätte, um auf Grund der beiderseitigen Vorschläge eine Vereinbarung über ein Gesetz zur Durchführung der nationalen Gleichberechtigung und zum Schutze der beiden Nationalitäten in unserem Vaterlande anzustreben“. Damals also ist der Artikel XIX nicht ausreichend befunden worden – von den Tschechen! Sie verlangen ein Gesetz: Das Gesetz ist der Friede!

Was antwortet aber Schmeykal? „Wir müssen in dieser für uns so schwierigen Zeit unsere Nationalität an der Hand der österreichischen Gesetze (lies: wie sie bestehen) selbst zu schützen suchen und finden in der Zusammengehörigkeit aller Deutschen in Oesterreich einen Rückhalt ...“ (Das heisst in unserer parlamentarischen Machtstellung gegen die Regierung, in der Opposition der Vereinigten Deutschen Linken.)

Heute haben beide nationale Gruppen die Rollen einfach getauscht. Kramarsch ralliiert die slawische Gemeinbürgschaft, die tschechischen Bürgerlichen wollen sich auf das geltende Recht des Artikel XIX stützen und machen – vorläufig wenigstens – die parlamentarische Verhandlung der Entwürfe im Volkshaus durch Obstruktion unmöglich.

Wenn sie sich übrigens bekehren, so ist gar nicht ausgeschlossen, dass über Nacht die Deutschnationalen wieder ihre Position beziehen. Denn nationalistische Parteien wollen das Gesetz nicht, da es ihren eigenen Existenzgrund aufhebt! Eine volle nationale Rechtsordnung enthebt die Nationen der Notwendigkeit, im Parlament machtvolle Soldtruppen zu erhalten, die entweder neue Verordnungen erpressen oder die bestehenden behüten und darum jede Regierung unablässig belagern müssen. Das Gesetz ist fest, für seine Verletzung und Behauptung ist der Rechtsweg offen, es bedarf des politischen Krieges nicht, um es durchzusetzen. Und also würde es alle Parteien, die nichts sind als national, inhaltslos machen. Und dies der wahre Grund, warum die an sich epochalen und wichtigen Regierungsvorlagen in der nationalen Presse nicht einmal nach ihrem Inhalt untersucht werden. Sie kommen nicht einmal in Diskussion!

Wenn nun angesichts dieser Haltung der Parteien es die bureaukratische Regierung selbst ist, die für alle Zukunft das Spiel mit nationalen Konzessionen aufgibt, so tut sie es zwar, weil sie seit Badeni weiss, wie hoch ihr eigener Einsatz dabei sein kann, dass unter Umständen die ganze staatliche Autorität va banque macht. Anderseits erschöpft dieses Spiel den ganzen Vorrat an überlieferter österreichischer Regierungsweisheit. Die Staatsmänner aus der Schule Taaffe, die sonst nichts gelernt haben, mögen fühlen, wie sie auf einmal mit leeren Händen dastehen. Für sie subjektiv ist also jedes Sprachengesetz ein Opfer an Staatsmacht. Das wird jedem klar, der etwa Badenis Rede zur Begründung des Verordnungsrechtes der Regierung nachliest und sich im Hinblick auf sie die Frage stellt, womit sich eine künftige Regierung etwa Zustimmung zu einem neuen ungarischen Ausgleich erkaufen soll. Gerade darin aber liegt der grösste Wert einer Gesetzwerdung dieser Entwürfe, dass nach ihr der Stimmenkauf durch nationale Konzessionen in der böhmischen Frage ein Ende hat, mit ihm auch das Wettkriechen und abwechslungsweise Wetterpressen zwischen beiden Nationalparteien und der Regierung.

Die Bureaukratie kann die Sprachenfrage nur bureaukratisch sehen und darin liegen die grundlegenden Irrtümer und Fehler der Vorlagen. Sie sieht nur Aemter und Beamte und die rechtsuchende Partei vor dem Amte, sie gibt nicht mehr als Aemter-und Sprachenregeln, aber eines sieht sie nicht, die Nationen selbst. Keine Andeutung in dem Gesetzentwurf verrät Einsicht in das Problem selbst. Und so kommt es, dass gerade das, was die Regierung am meisten angeht, die Parteien und die Nationen kalt lässt. Es ist kaum aufgefallen, dass die Presse die Vorlagen nicht einmal in der Gänze abgedruckt hat, dass sich keinerlei tiefergehende Besprechungen daran knüpfen, dass die im Parlament am heissesten umstrittenen Details jetzt, da die Vorlage da ist, in der breiten Oeffentlichkeit gar keine Beachtung finden! Man redet über die Vorlagen gar nicht, sie erscheinen als das gleichgültigste Ding der Welt. Was hohe Bureaukraten in jahrelangem Feilschen und Feilen ausgeklügelt haben, wird wie Makulatur behandelt. Man hat sofort die Empfindung, dass es gar nicht so sehr auf diese Sprachenregeln ankomme, die man etwa auch anders formulieren könnte; man empfindet ganz deutlich, dass viel gewichtiger ist, was hinter ihnen steckt, wovon sie nur die Signalfahnen sind.

Man muss dies aussprechen, um das ganze Problem klar zu erkennen. Die Staatsgewalt (die zentrale Bureaukratie) meint noch immer, es handle sich bloss um die formale Ordnung in ihren Aemtern, damit der einzelne, der als Partei oder Beamter in das Amt tritt, sprachlich gleichberechtigt werde. Die ganze Beschränktheit dieser Ansicht spricht aus jedem Paragraphen des Gesetzes. In Wahrheit vollzieht sich etwas anderes.

Der Staat, der nationslose Hausbesitz der Familie Habsburg, ist gezwungen, sich mit den Weltmächten, den Nationen, auseinanderzusetzen. Bislang sind alle Aemter kaiserköniglich, kurz k. k. Das Bezirksgericht Tabor ist in gleicher Weise k. k. wie jenes von Eger, k. k. sind die Beamten da und dort bisher gewesen. Nun aber soll das anders sein. Ein Riss tut sich zwischen beiden auf, in dem das k. k. verschwindet. Hauptsache ist nun, dass dieses ein deutsches, jenes ein tschechisches Bezirksgericht ist, dass dieses in das Eigentum der deutschen Nation übergeht, jenes in das der tschechischen Nation, dass der k. k. Richter nun ein Angestellter der deutschen oder der tschechischen Nation wird, eine Tatsache, hinter der das formale Ernennungsrecht zurücktritt. Vor der Grossmacht der Nation liquidiert die Hausmacht, vor den Völkern der Staat. Hat die Hausmacht Staat den Beamten aller Zungen die eine Uniform angezogen, so muss sie nun selbst auf die Uniform die verschiedenen nationalen Trikoloren heften. Die‘ Nationen werden zu Amtsherren. Jede Nation soll ihr Gebiet, ihre Aemter, ihre Beamten haben, haben als gesichertes Eigen. Gebietshoheit und Amtshoheit – zwei der wichtigsten Stücke der staatlichen Souveränität – gehen von der Staatsgewalt auf die Nationen über. Das ist wenigstens der materielle Gehalt der nationalen Kämpfe. Ein Vergleich mag das anschaulich machen: Wenn es erlaubt ist, die ewig hadernden Nationen mit Brüdern zu vergleichen, so sehen sich acht Brüder im Besitze einer Erbschaft, einer ungeschiedenen Masse von Aemtern und Anstalten, jedes Stüde gehört allen oder keinem, wie man’s nimmt, und trägt das gemeinsame Siegel k. k. Da greift dann jeder zu und rafft an sich, was er vermag und an den Grenzen ihres Handbereiches kommen sie in Streit über die Grenzstücke. Im Grenzkampfe existiert kein Grundbuch, in welchem die Grenzen eingetragen sind, da gilt Faustrecht. Was du dir nimmst, das hast du. Dieser unleidliche Zustand kann nicht fortdauern: also wird ein Grundbuch angelegt, das ist eine Mappe der Bezirksgerichte und ein Kataster der Beamten: So, nun hat jeder das Seinige und jetzt haltet Frieden!

Diese Auseinandersetzung zwischen den zwei Mächten Staat und Nation kann allein Sinn und Inhalt einer nationalen Rechtsordnung sein. Aber die Kühnheit, dies sich selbst zu gestehen, kann man von k. k. Bureaukraten nicht verlangen. Wie – ein k. k. Ministerium sollte die Waghalsigkeit haben, der Krone die Amtshoheit, dem Staate die Gebietshoheit ganz oder zum Teile abzuerkennen und bei dieser Teilung der Gewalten sich bloss auf die schiedsrichterliche Gewalt zurückzuziehen? Unmöglich! Das grenzte doch beinahe an Felonie gegen den kaiserlichen Herrn und an Hochverrat am Staate. So was tut doch ein Bienerth nicht. Aber es ist schon sein Fatum, dass ihm die ungeheuerlichsten Taten im Halbschlaf kommen. Es genügt ja, dass er sich tatlos in den Ministerfauteuil setzt und schon ist er der Held, der dem Herrenhause gewaltiglich imponiert. Er legt eine Sammlung von Sprachenregeln, die seine Vorgänger angelegt haben, auf den Tisch des Hauses und löst dabei – ein nachtwandelnder Alexander – unbewusst den gordischen Knoten der k. k. Bureaukratie auf in eine deutsche und eine tschechische Bureaukratie. Er nimmt sich vor, die einheitliche Verwaltung vor dem Zugriff der Parteien zu behüten, und zerlegt sie dabei fein säuberlich und teilt die Stücke den zwei Nationen Böhmens zu. Man muss wirklich über so viel unbewusstes Heldentum staunen.

Aber freilich, diese Auseinandersetzung erfolgt nicht offen, sie versteckt sich hinter nüchternen Sprachenparagraphen, unter bureaukratischen Halbheiten, unter ledernen Formeln. Und das erklärt, warum diese so gar keine Zugkraft haben, warum sie kaum gelesen, nicht nachgedruckt und noch weniger kommentiert werden. Jede Nation sagt sich: So ungefähr dürften wir’s ja meinen, aber der Kern der Sache ist es nicht.

Hätten wir Staatsmänner, die das Problem begreifen, so würden sie aussprechen was ist: Die Nationen wollen sich in ihren Aemtern selbst regieren, das ist unausbleiblich. Aber für alle muss doch eine gewisse gemeinsame Instanz bestehen, die dessen achtet, was allen gemeinsam ist, der Staat. Dieses Gemeinsame zu wahren – hätte ein solcher Staatsmann zu erklären – ist zunächst meines Amtes und also erkläre ich: Der Staat braucht im Militär- und Gendarmerie-, im Polizei-, im Post-, Kassen- und Rechnungsfach ein Minimum an Einheitlichkeit in Sprache und Amt. Dieses Minimum reserviere ich mir. (§§ 23, 24, 33, 34 des Sprachengesetzentwurfes.) Im übrigen bin ich bereit, die Hoheitsrechte des Staates mit den Nationen zu teilen. Zuerst hat jede Nation ein gewisses Recht auf ihre Aemter. Das Anrecht der Nation auf ihre Aemter wird gewährleistet:

    durch die Begründung nationaler Amtssprengel, die in das Grundbuch eingetragen werden (das Abgrenzungselaborat, Anlage A bis C); durch die Nationszugehörigkeit der Beamten, die in eine Matrikel eingetragen werden (nationaler Status, §§ 27 bis 31); dadurch, dass im inneren Dienste die Sprache der Nation gebraucht wird (§§ 20 bis 22); durch nationale Amtsaufschriften und Siegel (§ 10). – Wo beide Nationen gemischt wohnen, stehen die Aemter im verhältnismässigen Miteigentum beider Nationen. So das Recht auf das Amt.

Und jede Nation wüsste, worum es sich handelt und begriffe der langen Paragraphen kurzen Sinn. Jede Nation hätte das Gefühl, gewonnen zu haben, und würde im Gefühl eigenen Rechtserwerbes auch der anderen das Gleiche neidloser gönnen können.

Und weiter hätte der erwähnte Staatsmann zu sagen: Die Nation ist nicht nur ein Ganzes, sie besteht ja aus einzelnen Nationsgenossen. Auch der einzelne muss sein nationales Recht haben und dieses kann doch gerade von nationalen Parteien nicht ernsthaft bestritten werden, nämlich das Recht, in seiner nationalen Sprache sein Recht zu finden. Das nationale Recht des einzelnen ist garantiert in der nationalen Amtssprache im äusseren Dienstverkehr (§§ 3 bis 19). Dieses kann den oben garantierten nationalen Charakter des Amtes nicht beeinträchtigen, es legt bloss einigen Beamten die Pflicht auf, auch die andere Landessprache zu lernen. Durch diese Verpflichtung leidet also die ganze Nation nicht Gefahr noch Schaden.

Und auch jeder einzelne begriffe, dass es sich nicht um Vorschriften für die Behandlung der Akten, sondern um sein nationales Grundrecht handelt, und dass er selbst ein gesichertes Recht erwirbt, das niemanden beeinträchtigt, das er auch jedem anderen gönnen muss und kann.

Freilich würden dann die einzelnen Bestimmungen des Gesetzes vielfach anders lauten müssen, aber im Effekt wäre nicht viel geändert, was die Technik des Verwaltens und Richtens betrifft. Aber die Verfassung des Staates wäre geändert, an Steile der k. k. Hoheitsrechte würden zum Teil Grundrechte der Nationen und Nationsangehörigen treten und überraschenderweise würde in den Gesetzen des Staates eine Tatsache sichtbar, über welche sich alle unsere Gesetzbücher gründlich ausschweigen, die sonderbare Tatsache, dass wir ein Staat von – acht Nationen sind. Aber diese Tatsache scheint Bienerth noch nicht entdeckt zu haben.

Die bureaukratische Verballhornung der Sprachengesetzentwürfe ist ihr grosser Mangel, das sachliche und taktische Hindernis ihres Erfolges. Amtssprachenregeln können die bürgerlichen Parteien auszuweichen suchen, denn sie sind den Nationen Hekuba. Die Feststellung der Grundrechte der Nationen und Nationszugehörigen im Amt aber liegt in jedermanns handgreiflichem Interesse und gerade nationale Parteien können sich ihrer durch Obstruktion nicht entledigen. Man kann auch eine Regierung dann nicht obstruieren, wenn sie vor die Nationen hintritt, nicht um zu fordern, sondern um zugunsten der Nationen zu verzichten, nicht um ihre unantastbare Hoheit vor den profanen Zugriffen der Nationen schamhaft zu behüten, sondern um Hoheitsrechte auf die Nationen zu übertragen. – Aber diese Verballhornung ist keine unabstreifbare. Man kann den wahren Kern der Vorlagen unschwer aus ihnen losschälen und darum sind sie trotz alledem eine geeignete Grundlage für die parlamentarische Verhandlung und müssen ihr unterzogen werden. Was die Bureaukratie an ihnen verfehlt hat, musste sie – als Bureaukratie – verfehlen und kann das Parlament als Vertretung der Nationen gut machen. Und darum wird das Volkshaus sie erledigen müssen!

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Fussnote

1. Ueber die Hohlheit der Gleichberechtigungsphrase, dort, wo es noch kein gesetzliches Recht gibt, also auch nicht von einem „gleichen“ Rechte gesprochen werden kann, siehe im 1. Band des Kampf, Seite 102 ff. Da wir überhaupt keine nationale oder internationale Rechtsordnung besitzen, sind alle Nationen gleich – aber in der Rechtslosigkeit!


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024