Karl Renner

Kulturkampf oder Klassenkampf?

(1. Juli 1909)


Der Kampf, Jg. 2 Heft 10, 1. Juli 1909, S. 438–445.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Die furchtbare Geistesknechtung, die Fesselung des Gedankens und die Erstickung des Gewissens, welche von der ungeheuer grossen, einen Teil der Welt umspannenden katholischen Priesterorganisation mit ihrem päpstlichen Zentrum, mit der unfehlbaren Diktatur des Papats, ausgeht, hat uns Genosse Max Adler in seinem Artikel Kirche und Schule glänzend veranschaulicht. Er hatte recht, wenn er bei der Besprechung des Einflusses der lehrenden Kirche auf die lehrende Schule das ganze Gewicht auf das Lehrsystem der Kirche legte, auf jenes Dogmengebäude, das ähnlich wie Ritterburgen in Fabriksorte, alte Stadtmauern in Bahnhöfe, hereinragt in das Reich der triumphierenden Naturwissenschaften. Im Hinblick auf die moderne Schule ist es jedenfalls das Nächstliegende, die Kirche als Versuch einer die ganze Welt beherrschenden Unterrichts- und Erziehungsanstalt zu fassen. Von diesem rein intellektualistischen Ausgangspunkt wird auch der scharfe Gegensatz des kirchlichen Lehrsystems und des modernen Geistes sofort sichtbar. Die Kirche unterrichtet erstens im Glauben und zwingt uns Dogmen auf, die wir annehmen müssen, selbst wenn, ja weil sie absurd sind (credo, quia absurdum est) – der moderne Geist fordert Wissen, Ueberzeugung aus zwingenden Gründen, immerwährende Nachprüfung der Gründe, Freiheit des Zweifels und der Forschung. Ueber die letztere ist kein Richter als jedermanns Vernunft. Statt des die Dogmen offenbarenden Gottes entscheidet also die menschliche Vernunft – in strikter Konsequenz dieses intellektualistischen Standpunktes hat das Aufklärungszeitalter die Vernunft vergöttert und la Déesse Raison (die Göttin Vernunft), der die grosse französische Revolution vorübergehend huldigte, drückt geschichtlich und faktisch den Gegensatz der beiden Gedankenwelten aus. Die Kirche erzieht zweitens zum Heil, zur Seligkeit; nach ihrem Ideal ist der Mensch als Erdenkind nicht Selbstzweck, er ist hier auf Erden nur eine Spanne Zeit Gefangener des Staubes und Fleisches, nur auf Probe, um sodann auf die lange, lange Ewigkeit in sein eigentliches Leben einzugehen, in unabänderliche Seligkeit oder Verdammnis. Für jenes andere Leben erzieht die Kirche, nicht für dieses. Aber der moderne Geist hat dieses Erziehungsideal längst überwunden, er hat das Gotteskind längst zum blossen Menschen auf Erden gemacht und das hat schon der Humanismus (etwa „Menschlichkeitssystem“) vor mehr als vier Jahrhunderten vollzogen.

Es ist sehr heilsam, immer wieder zu betonen, dass das ganze Lehrgebäude der Kirche seit Jahrhunderten geistig überwunden ist, dass das Urteil über dasselbe längst gesprochen, aber noch lange nicht vollstreckt ist.

Max Adler hat gewiss recht, wenn er sagt: „Nicht am Atheismus und Freidenkertum, nicht an der Naturwissenschaft und am Materialismus“ ist die Kirche zugrunde gegangen. Diese Tatsache ist gewiss auffällig. Im Zeitalter des Humanismus, des Rationalismus und Materialismus, in der Zeit der Aufklärung hat der gesamte Intellekt der Gesellschaft sich von der kirchlichen Lehre abgekehrt und niemals war sie so von allen Geistern verlassen, weder vor- noch nachher. Wie konnte sie diese furchtbare Krisis überdauern? War sie doch nicht bloss bekämpft und widerlegt, sondern fast einmütig verspottet! Ist also die Kirche vom Standpunkt des Intellekts aus überhaupt nicht zu besiegen? Vielleicht schon deshalb nicht, weil sie auf den Intellekt bewusst verzichtet! (Credo, quia absurdum est.)

Was Atheismus und Naturwissenschaft nicht vermögen, das wird nach Max Adlers Ansicht „die Renaissance eines wirklichen, die Masse gerade aus ihren Bildungsbedürfnissen heraus ergreifenden religiösen Bewusstseins“ vollbringen. Es wird hier auf die religionswissenschaftliche Bewegung in Deutschland und ganz Europa hingewiesen, welche die Evangelienkritik, die Bibelforschung überhaupt, die gesamte Religionswissenschaft auf hohe Stufe gehoben und durch populäre Darstellung ihrer Forschungsresultate weitere Kreise vorwiegend der Intelligenz interessiert hat. Ich unterschätze diese Richtung nicht, aber was ist sie gegen die gewaltigen Geistes- und Gemütseruptionen der Reformation? Was sind Harnack und Kalthoff, geschichtlich-dynamisch gesehen, gegen Luther und Münzer, gegen Zwingli, gegen Calvin? Und doch hat der religiöse Sturm der Reformation die Kirche nicht vernichtet und insbesondere das Lehrgebäude der Kirche gar nicht wesentlich erschüttert, sondern vielmehr zu neuem, stärkerem Leben wiedererweckt (das Tridentinische Konzil). Ich kann in den theoretischen Untersuchungen jener Forscher auch noch nicht die Ansätze zur Reform des religiösen Bewusstseins finden, aber wenn sie da wären, so ist nicht anzunehmen, dass irgend eine religiöse Bewegung unseres irreligiösen Zeitalters mehr vermöchte als die tiefe Religiosität der Reformationsepoche. Uebrigens ist es allbekannt, dass jener Bewusstseinsreformation gewaltige ökonomische und politische Umwälzungen vorangingen, die sie erst verständlich machen.

Also kämen wir zu dem überraschenden Ergebnis, dass der Kampf gegen das Denksystem der katholischen Kirche auf dem Boden der Wissenschaft sowohl wie auf jenem einer höheren Religiosität erfolglos ist? Eine verzweiflungsvolle Aussicht!

Man kann und darf nicht leugnen, dass der Liberalismus und die bürgerliche Wissenschaft von den Zeiten der Aufklärung her diesen „Kampf der Ideen und Weltanschauungen“ redlich und eifrig geführt haben. Und dennoch war er im ganzen erfolglos – trotz zahlreicher Verdienste im einzelnen. Und zum Schluss sahen wir das Bürgertum selbst ins Lager der Gläubigen abmarschieren. Und also soll das Proletariat die Fahne des Kulturkampfes, die jene verraten haben, aufnehmen und den Kampf gegen das, was man die Gewissenstyrannei der Kirche nennt, allein fortführen? „Immer mehr wird das Proletariat hier aus seiner bisherigen blossen Verteidigerstellung in die des Angriffes übergehen müssen“, sagt Max Adler.

Ich glaube die gesamte Auffassung meines Freundes über dieses Problem gut zu kennen und weiss, dass er das Proletariat nicht zum blossen oder vorwiegenden „Kulturkämpfer“ machen will. Aber solche Schlussfolgerungen könnten aus seinen Darlegungen gezogen werden. Falsche Ausdehnungen seiner Sätze sind darum möglich, weil er eben nur das Verhältnis der lehrenden Kirche zur lehrenden Schule, des Dogmas zur Wissenschaft behandelt. In dieser Einschränkung hat er ja auch im einzelnen recht. Aber im ganzen, was die gesamte Einrichtung der Kirche betrifft, stellt sich die Sache einem Sozialdemokraten doch anders dar als dem kommunen, bürgerlichen Aufklärer und Freidenker.

Wir wissen seit Karl Marx, dass der blosse Streit einer Ideologie gegen die andere nichts anderes ist als der Kampf mit Papierschwertern gegen Windmühlflügel. Es wäre ganz falsch, die katholische Kirche nach ihrem Lehrsystem zu beurteilen.

Ist es denn wahr, dass die Dogmen der Lateranischen und des Tridentinischen Konzils, der Syllabus und das Infallibilitätsdogma die Kirche ausmachen? Wer nur oder vor allem die aus den finstersten Zeiten des Mittelalters, aus dem 13. Jahrhundert, stammenden Dogmen sieht, nur der kann behaupten, dass die Kirche starr und unveränderlich ihr antiquarisches Wesen behaupte und sich nicht ändere. Die Kirche wirksam bekämpfen kann man aber am allerwenigsten, wenn man glaubt, ihr Reich sei nicht von der heutigen Welt, man habe bloss ein fatalerweise heute noch umgehendes Gespenst aus dem 13. Jahrhundert in die Grube zu beschwören. Unser Gegner ist von heute, nicht vom Mittelalter her, er ist keine blosse Lehre, sondern eine praktische Realität, und er ist heute konkret anders als in allen Zeiten vorher. Zu jeder Zeit aber ist die Kirche die Gesamtheit der konkreten Menschen mit ihren konkreten Interessen, die reale Gemeinschaft der gläubigen und ungläubigen Anhänger.

Nicht in den Konzilsbeschlüssen lebt die reale Kirche, auch nicht in den Vorstellungen, Lehrmeinungen und Lebensauffassungen ihrer Priester. Wer die lebendige Kirche schauen und fassen will, der gehe in die Dörfer, wo die frommen Bauern zu Hause sind, in die Werkstätten und Wohnungen der Kleinmeister, auf die Schlösser unserer Feudalherren, in die Bureaus unserer jüngsten Beamtenkategorien und so fort. Und dort überzeuge er sich davon, welche reale Potenz bei ihnen die Dogmen darstellen 1 Der ganze papierene Streit zwischen Orthodoxen und Modernisten, Evangelien-kritik und Jesusforschung, Index und Syllabus sind ihnen völlig Hekuba, sie schenken ihnen kaum Beachtung. Man beachte doch folgendes tatsächliche Geschehnis: Der entschieden christkatholische Universitätsprofessor und Minister Bilinski weist die Angriffe auf das Dogma der unbefleckten Empfängnis im Budgetausschuss zurück und kein Mitglied der christlichen Parteien merkt das, was der Sozialdemokrat Seitz feststellen muss: dass der gelehrte Mann unter der unbefleckten Empfängnis nicht das versteht, was die Kirche lehrt, nämlich dass Maria selbst ohne den Makel der Erbsünde im Leibe ihrer Mutter empfangen worden ist, dass er vielmehr die Tatsache, dass Maria als Jungfrau Jesum geboren habe, unter der unbefleckten Empfängnis begriffen hat. Das geschieht am grünen Holze der katholischen Professoren und Geheimräte! Wie erst bei den Millionen Laien 1

Wir haben in Wien eine Renaissance des Katholizismus erlebt, grosse Massen des Bürgertums sind aus dem Lager der „Aufklärung“ in das Lager der „Finsternis“ über-gegangen. Es zeige mir doch jemand auf, welche werbende Rolle dabei das katholische Dogmensystem gespielt hat!

Diese wenigen Beispiele müssen uns doch schon dahinführen, das reale Leben der Kirche in ganz anderen Dingen zu sehen.

Besteht denn die Geistesknechtschaft innerhalb der Kirche wirklich in jenen Dingen, welche die liberalen Aufklärer so oft denunzieren? Die wahrhaft Religiösen versichern im Gegenteil, dass die katholische Kirche es den Gläubigen heute am allerbequemsten mache: Sie mache das Sündigen gerade durch die Beichte, das Glauben gerade durch die äusserlichen Formalitäten der Sakramente sehr leicht. Eher sei es doch Luther, der auf die innere Reue, auf den inneren Glauben dränge, während die Papstkirche sich mit den äusseren Bezeugungen begnüge. Wen geniert denn heute die Inquisition, wen der Index der verbotenen Bücher, wen der Syllabus? Ist es doch fast die Hauptanklage der wahrhaft Religiösen anderer Konfessionen, dass die katholische Kirche gar keine seelische Kirchenzucht mehr kenne.

Doch halt! In einem Punkte kennt sie eine stramme Zucht: in der Erziehung ihrer Kleriker. Von ihnen und ihren Lehrern, also von den Intellektuellen der Kirche, fordert sie unbedingte Unterwerfung des Intellekts unter das Credo. Für die Novizen und Kleriker, für die Professoren und Pfarrer besteht also ebenso die Glaubensknechtschaft wie etwa für preussische Beamte die politische Ueberzeugungsknechtschaft. Und das gibt jedes Jahrfünft ebenso die Tragödie eines Modernisten wie das preussische System die Tragikomödie eines liberalen Bürgermeisters. Aber die Masse der Gläubigen und Untertanen wird dort und da durch den Krakeel der Intellektuellen höchstens vorübergehend erregt. Diese Geistesknechtschaft reicht aus für Jesuitenromane und Leitartikel liberaler Blätter, die Massen des Proletariats müssen sie wohl in ganz anderen Dingen sehen. Wir werden diese bald kennen lernen.

Die reale Kirche, als die lebende Gemeinschaft der Heiligen und Unheiligen, ihrer Himmels- und Höllenanwärter ist in jeder Zeitepoche etwas anderes. Vom Urchristentum will ich gar nicht reden, ich gehe vom Mittelalter aus. In dem altsächsischen Gedicht des 9. Jahrhunderts Heliand (das ist Heiland) erscheint Christus als ein germanischer Volkskönig mit adeligen Jüngern. Drei Jahrhunderte später predigt Franziskus von Assisi (1182 bis 1226) im härenen Gewände, einen Strick um den Leib, wieder den Jesus der Armen. Das geschah in jenem 13. Jahrhundert, das auch Max Adler das finstere nennt. Seine Ordensregel wird auf derselben lateranischen Synode 1215 festgelegt, auf der die heilige Inquisition eingeführt wird. Die Blütezeit der Feudalität und des Rittertums ist hingewelkt und in einer durch und durch revolutionären Epoche (eben jenem 13. Jahrhundert) erheben sich die Städte, formieren sich die Landstände, empört sich an allen Ecken und Enden das junge Bürgertum und das zum erstenmal heraustretende Proletariat: Schon 1145 steht Arnold von Brescia in Rom auf, um 1170 verteilt Peter Waldus, der Stammvater der Waldenser, sein Hab und Gut unter die Armen und begründet die erste kommunistische Sekte unter den Webern von Lyon. Um die Jahrhundertwende 1300 folgte der gewaltige Bauernaufstand des Dolcino – unter Berufung auf Christus und das Evangelium. Im 13. Jahrhundert befestigen die Städte ihre Macht, versucht Friedrich II., der Hohenstaufe, die erstmalige Begründung eines modernen Staatswesens wider Papst und Kirche. [1] Wie ganz anders ist das Christentum jener Zeit als das Christentum der Renaissance, in der Michel Angelo Jesus in der leidlosen und kleidlosen Lichtgestalt des Apollo für die Sixtinische Kapelle malt. Das jäh hereinbrechende Unheil der Reformation macht den Katholizismus muckerisch – und der Christus Michel Angelos erhält von einem späteren Maler ein keusches Band um die Lenden. Nun werden Ignaz von Loyola und Canisius die geistigen Interpreten des Katholizismus. Was hat Loyola noch mit dem Sänger des Heliand gemein?

Diese historischen Proben dürften hier genügen. Und wie steht es in der Gegenwart? Beim Ave-Läuten geht fern auf dem Lande ein Bauer mit entblösstem Haupte heim. In ihm lebt Christus wahr und lebendig – aber sein Christus, der den Hagel abwehrt und dem heiligen Leonhard die Macht gegeben hat, das Vieh zu schützen, dem heiligen Florian, das Feuer fernzuhalten; sein Himmelvater, der die Welt regiert, wie er als Hausvater sein Haus. Und gegen dieses Christentum halte man die christlichsoziale Gesinnung mancher unserer Kleinmeister oder den „Glauben“ eines Gutsherrn oder Bureaukraten, der in die Messe geht, „weil dem Volke die Religion erhalten werden muss“. Welch ein Unterschied im ganzen Denken! Ein Blinder muss greifen, dass nicht zu allen Zeiten und nicht bei allen Klassen das Christentum das gleiche ist. Was aber in allem Christentum heute allerdings noch gleich ist, werden wir ja bald erkennen.

Tatsache ist also, dass jede Klasse heute und jede der grossen Klassen der Gesellschaft in der Geschichte ihr eigenes Christentum besitzt, die ihr eigentümliche religiöse Verbrämung ihres besonderen Weltbildes. Wie prächtig offenbart sich diese Ideologisierung für die Ritterschaft zum Beispiel in der Gralssage, wie naiv für die Bauernschaft in den Heiligenlegenden! Was uns heute als mystische Dichtung oder als abstruse Torheit erscheint, hatte seinerzeit für die bestimmten Klassen auf bestimmter wirtschaftlicher Höhe seinen tiefen Sinn und war notwendiger Ausdruck dieses Sinnes. Und so hatte auch das Proletariat vom ersten Tage seines geschichtlichen Auftretens seine bestimmte Denkform: Das kommunistische Christentum in Anknüpfung an die evangelische Ueberlieferung von der kommunistischen Urgemeinde der Jesujünger. So hat ein Teil – nur ein Teil! – der Klöster seinenUrsprung in den kommunistischen Tendenzen des Proletariats seiner Epoche. „Der liberale Aufkläricht,“ sagt Kautsky einmal, „sieht in der Ehelosigkeit der Mönche und Nonnen das Ergebnis völligen Idiotismus. Aber der Geschichtschreiber tut gut daran, wenn ihm irgend eine historische Massenerscheinung unbegreiflich erscheint, den Grund dafür in seinem Mangel an Einsicht in die wirklichen Zusammenhänge zu suchen und diesen nachzuforschen. Die Ehelosigkeit der Klosterleute beweist nicht, dass die Klostergründer Idioten waren, sondern dass die ökonomischen Verhältnisse unter Umständen stärker werden können als die Gesetze der Natur.“ Die Entstehung und Geschichte des Franziskanerordens und der Bettelmönche überhaupt ist ein Teil der Geschichte des proletarischen Kommunismus. Die kommunistische Sekte der Begharden hatte ihren Ursprung in den proletarischen Wollwebern von Brügge im 13. Jahrhundert, die der Lollharden in der Weberschaft von Norfolk in England. Die kommunistischen Hussiten in Tabor, die Wiedertäufer in Deutschland sind – trotzdem sie die christliche Ideologie nirgends preisgeben – Vorkämpfer des Proletariats, Vorläufer des Sozialismus. Andererseits ist die Reformation zu begreifen als Klassenbewegung des Bürgertums und der Landesfürsten. Das hindert nicht, dass das Bürgertum später die religiöse Verbrämung des Klassenkampfes abgestreift und in der Aufklärungsepoche zum Teil deistisch (Freimaurer), zum Teil atheistisch geworden; was abermals kein Hindernis für dasselbe war, später reumütig zur Kirche zurückzukehren, als das Proletariat sich in seinem Rücken erhob.

In diesen Klassenkämpfen hat das Papsttum mit der ihr Gefolgschaft leistenden Hierarchie sehr oft den Standpunkt gewechselt: Es hat gesucht, sich jederzeit auf die mächtige oder die emporsteigende Klasse zu stützen und hat deren „Christentum“, so gut es ging, zu dem seinigen gemacht, es war zu Zeiten geradezu revolutionär. Zur Zeit der aufkommenden Fürsten- und Staatsgewalt war – das darf nicht vergessen werden – die Kirche die demokratische Organisation des Volkes. Sozialdemokraten müssen die Dinge doch wohl anders beurteilen, als liberale Professoren: Wenn der Papst Gregor VII. (Hildebrand), der Sohn eines Maurers, entgegen den Fürsten verlangt, dass die Bischöfe vom Klerus und Volk gewählt werden, so strebt er natürlich die Herrschaft der Kirche an, aber dennoch drückt er den Widerstand der Massen gegenüber dem aufstrebenden Stände- und Fürstenstaat aus. Und als Jahrhunderte später die Fürsten darangingen, die Stände zu beseitigen, erhoben sich in den sogenannten Monarchomachen (unter ihnen der Jesuit Mariana) fromme katholische Revolutionäre, welche die Volkssouveränität der Fürstensouveränität entgegenhalten und den Tyrannenmord predigen und üben. Dieselbe Kirche geht zu anderen Zeiten mit den Fürsten, mit der Staatsgewalt, mit dem Adel, mit dem Bürgertum gegen andere Klassen, je nach den Machtverhältnissen der Gesellschaftsepoche. Und so weit geht diese Anpassung, dass in vielen Fällen die Person des Papstes ein Symbol der Richtung wird. In der monarchischen Epoche 1848 bis 1870 nimmt die fürstliche Erscheinung des Grafen von Mastai-Ferretti, jeder Zoll ein Herrscher, als Pius IX. den päpstlichen Stuhl ein und während sich die konstitutionellen Monarchen in ihren Verfassungen die Unverletzlichkeit und Unverantwortlichkeit sanktionieren lassen, umgibt er seinen Thron mit der Mauer der Unfehlbarkeit. In der folgenden Epoche, in der das Proletariat vordringt, macht Leo XIII. als Sozialpolitiker seine Verbeugung vor der aufstrebenden Klasse (in der Bulle „de conditione opificum“) und optiert für die bürgerliche Republik gegen die feudal-plutokratische Monarchie in Frankreich, er selbst wie zu jenen Tagen die Politiker aller Wege – ein Literat! Und in unseren armseligen Kleinbürgertagen haben sie das Kind des Schneidermeisters Sarto mit dem Purpur bekleidet.

Natürlich will ich durch solche symptomatische Zufälligkeiten nicht beweisen, höchstens illustrieren. Aber unzweifelhaft ist doch, dass das reale Leben der Kirche in ihrem Verheilten zu den Klassenschichtungen der Gesellschaft liegt, dass in diesem der reale Kern aller ihrer Riten, aller Gebräuche und endlich auch die solide Basis ihrer Politik zu suchen ist. Die Umzüge im Ackerland an den Bitttagen sind für sie gewichtiger als das Unfehlbarkeitsdogma. Ist es etwa nicht charakteristisch, dass just in die Zeit der Städteentwicklung (1264) die Stiftung des Fronleichnamsfestes durch den Papst Urban IV. fällt? Durch Urban IV., den Sohn eines Schuhmachermeisters des französischen Städtchens Troyes? Oder bleibt es nicht merkwürdig, dass die Kirche, solange sie die demokratische Opposition gegen Fürsten und Stände führte, den Kalender mit Nebenfeiertagen überfüllte, um die hörige Bevölkerung zu entlasten, dass sie jene Notburga heilig sprach, welche am Sonnabend durch das Wunder der in der Luft schwebenden Sichel der Herrschaft erhärtete, dass die Arbeiter Samstag früher Feierabend haben müssen? Bekannt ist, dass dieselbe Kirche später, als sie mit dem Adel und der Unternehmerschaft vereint das Volk beherrschte, bereitwillig die alten Feiertage streichen liess. (In Tirol machte sie 1809 Revolution dagegen, dort war sie eben noch zum Teil ein Stück der Bauerndemokratie.)

Und nun nach diesen Schlaglichtern – die ja nicht vollen Beweis erbringen, aber doch die Realitäten anschaulich machen können – zurück zu dem Thema selbst, zur Schule. Wieso hat die Kirche wieder Macht über unsere Schule gewonnen? Viele Gründe fliessen zusammen. Aber keinem aufmerksamen Beobachter kann entgangen sein, dass Bauern und Grundbesitzer genug und billige Arbeitskräfte wollen und darum die achtjährige Schulpflicht hassen. Für sie ist die Schule nicht eine Dogmen-, sondern eine Arbeiter-, eine Klassenfrage! Niemandem kann entgangen sein, dass die grosse Masse der Handwerker sich durch die Lehrlingsausbeutung erhält, also möglichst früh und möglichst lang seines Ausbeutungsobjektes sich freuen will; der Meister will den Jungen selbst in die Schule nehmen und nicht einem hochnäsigen Herrn Lehrer überlassen, der den Burschen gescheiter machen will, als der Meister selber ist. Die grösseren Unternehmer brauchen allerdings gut vorgebildete Arbeitskräfte, sie sind also schulfreundlich, soweit die Schule sogenannte positive Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt, also unterrichtet. Aber die Schule erzieht auch – und schon darin ist die Unternehmerschaft anderer Meinung als früher: sie soll zur Genügsamkeit, zur Anspruchslosigkeit und – am allerbesten nicht für diese Welt erziehen. Denn diese Welt, die gehört ja den Herren selbst. Der Bureaukrat will ja intelligente Untertanen, natürlich: Leistungsfähige Steuerzahler, gesunde, schlagfertige Soldaten, Staatsbürger, weiche alle Amtstafeln, Warnungstafeln, Kundmachungen lesen können; Idioten zu regieren ist ja auch kein Vergnügen. Aber die Gesinnung, die Gesinnung – das ist die Hauptsache. Jede einzelne der herrschenden Klassen hat ihren besonderen Wunsch an die Schule. Aber alle diese Wünsche fliessen zusammen in dem einen: allerart Kenntnisse, Fertigkeiten, Tüchtigkeiten – gut; aber nur eines nicht – den freien Geist!

Und was ist dieser gefürchtete freie Geist? Er ist intellektuell die Erkenntnis, dass die Dinge dieser Welt wandelbar sind, dass sie gestaltbar sind durch die Tat der Menschen, dass jede Generation der Menschen ihr Los bestimmen kann, dass jede Klasse nach ihrer Emanzipation gerungen hat und auch weiter ringen wird. Und von Seiten des Charakters ist dieser freie Geist der Wille und die Kraft, sich selbst zu bestimmen und niemandem botmässig zu werden. Diesen freien Geist müssen für die Schule alle beherrschten Klassen fordern, alle herrschenden fürchten – für die Schule und fürs Leben der Massen. Und darum neigen die herrschenden Klassen – wider Wissen und Gewissen – kraft ihrer Klassenlage dazu, dem Lehrsystem des Glaubens jenes des Wissens, des Dogmas jenes der Forschung, dem Heilsystem des Jenseits das Erziehungssystem des Erdenmenschen zu opfern – was die Massen betrifft. Für sich und ihre Universitäten wollen sie natürlich das letztere vorbehalten. Welche Dogmen, wie viel Dogmen, eines mehr oder weniger, das macht ihnen nichts aus; sie nehmen es auch mit dem Inhalt nicht genau, kennen ihn auch nicht. Es ist ihnen auch völlig schnuppe, ob es der unfreie Geist des Canisius oder des Luther oder auch des Mohammed ist – haben sich doch unsere Christlichsozialen für die Softas und gegen die von den Salonikier Juden beeinflussten Jungtürken erklärt – wenn es nur ein überliefertes, in den Massen noch akkredidiertes System ist.

Da dem so ist, so muss es ganz wirkungslos bleiben, den Herren vom Standpunkt der Logik, der Philosophie, der Religion widerlegen zu wollen, was sie ja selbst nicht glauben. Verzichten sie doch selbst mit der grössten Bereitwilligkeit: für die Massen auf den Intellekt, für sich selber auf die Religiosität. Sie bekennen es doch selbst: Für uns die Freiheit des Intellekts, den Massen aber den Glauben! Ihnen gegenüber im Namen der Wissenschaft gegen das Dogma, im Namen des wahren religiösen Bewusstseins gegen die falsche Religion zu kämpfen, ist also buchstäblich ein Kampf mit Papierschwertern gegen Windmühlen.

Oder sollen wir den Kampf um die geistige Emanzipation direkt und abgesondert von der wirtschaftlich-politischen Bewegung in den Massen führen?

Man denke doch einmal an die Bitttagsprozession: Welchen Sinn soll es haben, dem Landmann zu beweisen, dass der Hagelschlag, das Viehsterben, der Hausbrand ein ganz natürliches Phänomen ist? Wenn der Redner nicht wegen herausfordernder Frozzelei Schläge riskieren will, muss er doch wohl erst daran denken, den Landwirt ökonomisch gegen Hagelschlag, Feuer und Viehkrankheiten zu versichern, auf dass derselbe die nötige Objektivität bekomme, ein Naturphänomen mit den voraussetzungslosen Augen des Forschers zu betrachten! Und wie der Landwirt den Naturgewalten, so steht der Proletarier den Sozialgewalten gegenüber. Solange er als Geselle in primitiven wirtschaftlichen Verhältnissen seinem „Herrn und Meister“ ergeben sein muss, weil die Wirtschaftsstufe ein anderes Verhalten nicht denkbar macht, so lange ist auch Jesus „sein Herr und Meister“, das Vorbild des guten Herrn und Hirten – gegenüber all den schlechten Herren, die ihn ausbeuten. Ausserstande, sich ohne Herrn zu denken, will er den Ausbeuter durch die Mahnung an das Evangelium, durch die Berufung an die höhere Instanz, den Herrn aller im Himmel, bessern. Jedem Proletarier angeboren ist der Kommunismus als Denkform und seit dem 12. Jahrhundert hat es nicht eine einzige Bewegung von Arbeitern ohne kommunistischen Charakter gegeben, aber vor der kapitalistischen Epoche ist der Kommunismus autoritär und religiös und findet seine Anknüpfung an das Urchristentum. Genau so ist es heute dort, wo die wirtschaftliche Entwicklung rückständig ist und soweit sie es ist. Grosse Arbeiterschichten tragen heute in ihrem Herzen das revolutionäre Urevangelium, zahlreiche unserer besten Genossen, die ich persönlich kenne, haben in ihrer individuellen Seele den gesamtproletarischen Entwicklungsprozess von Franz v. Assisi bis Thomas Münzer, von Weitling bis Bebel nacherlebt – äusserlich gesehen, sie sind vom katholischen Gesellenverein ausgegangen und in unsere Kampforganisationen eingezogen. Nicht unsere Lehre hat sie aus dem Gesell en verein herausgeholt, der Widerspruch ihrer Klassenlage hat sie herausgetrieben, und so haben sie den modernen Sozialismus instinktiv gesucht und mit dem Freudenschrei der Befreiung gefunden. Was sie befreit hat, ist die – früher nie gegebene – direkte Anschauung, dass der Arbeiter, der Knecht des Kapitals, in seiner Vereinigung faktisch und unmittelbar den Produktionsapparat des Kapitals beherrscht. Nun kann und muss er sich ohne Herrn denken, nun erst kann er auf das Idealbild des guten Herrn verzichten. Die Unabhängigkeit, die Selbstbestimmung des materiellen Daseins, oder wenigstens die gegründete Aussicht auf dessen Erringung, ist die Vorbedingung des freien Geistes. Wenn die Kette gefallen, dann ist auch die Freiheit selbstverständlich. Unmarxistisch und unpolitisch wäre es von uns, diesen seelischen Prozess in zahlreichen Arbeiterschichten gewaltsam zu unterbrechen, sie durch eine aufdringliche Glaubensoder Unglaubenspropaganda in den noch unüberwundenen Anschauungen erst recht zu versteifen und so das Ausreifen der sozialen Anschauungen zu verhindern, aus dem allein die Geistesfreiheit entspringt. Das hiesse den ökonomischen Befreiungskampf durch dogmatisches Gezänk ersetzen.

Die Geistesfreiheit ist die ideologische Blüte auf dem Grunde der ökonomischen Freiheit, ohne sie ist sie eine Topfpflanze, ein Glashausgewächs, gezüchtet in Büchern und Aufsätzen, ein Ding, höchst würdig der Beschäftigung von Dichtern, Denkern und Literaten. Wenn diese einstweilen die Glashäuser füllen, wenn sie uns in exotischer Schönheit den neuen Geist, ein neues religiöses Bewusstsein, eine neue Weltweisheit vorschauend züchten – ehrlichen und heissen Dank. Einstweilen haben wir draussen den Boden urbar zu machen im ökonomischen und politischen Klassenkampf, ist er urbar, dann werden die Pflänzchen ausgesetzt und man wird sehen, was gedeiht. Bis dahin aber ist der einzig mögliche, einzig wirksame Kulturkampf der – Klassenkampf!

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Fussnote

1. Die grandiosen materiellen und politischen Umwälzungen des 13. Jahrhunderts finden ihre Krönung in der Philosophie des Thomas v. Aquino (1225 bis 1274), der die Lehren des Aristoteles in scharfsinnigster Weise auf die Theologie anwendete und einen Kommentar zur Politik des Aristoteles schrieb. Dabei wird er zum Grundleger der katholischen Naturrechtstheorie, zum Verteidiger des bürgerlichen Eigentums auf der Basis der einfachen Warenproduktion und zum Vorkämpfer der bürgerlichen Staatsidee. Man halte dagegen, dass das Lehenswesen und Rittertum eben fast seine höchste Blüte hinter sich hatte, dass die Städte auf der einen, das Fürstentum auf der anderen Seite eben erst in den Anfängen ihrer grossen Entwicklung standen, und man wird die revolutionäre Kraft dieser Philosophie für ihre Zeit wohl zu würdigen wissen.


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024