Karl Renner

Unser Parteitag

(1. Oktober 1909)


Der Kampf, Jg. 3 Heft 1, 1. Oktober 1909, S. 1–4.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Nicht höher und freudiger können die Herzen von Brüdern schlagen, die, im Kampf ums Leben lange Zeit getrennt und nach allen Weltwinkeln verschlagen, endlich wieder in trauter Eintracht im Vaterhause beisammen weilen, als die Herzen aller unserer Vertrauensmänner, die von Vorarlberg bis zur Bukowina, vom nördlichsten Böhmen bis nach Untersteiermark, die unter dem Banner der Partei wie unter dem Dache des Vaterhauses in Reichenberg sich wieder zusammenfanden. Wer diese Tagung mitzumachen nicht das Glück hatte, kann nicht ahnen, welch wundersam herzliche und brüderliche, freudige und kampflustige, begeisterte und entschlossene Stimmung über ihr waltete. Sie alle, die in ihren Bezirken, als abkommandierte Posten in kleinen Orten, zwei Jahre vereinsamt sich mit den zahlreichen Gegnern herumschlugen, sie rückten nun alle auf eine Woche in das grosse gemeinsame Heerlager ein, brennend vor Verlangen, den lieben Mitkämpfern aller anderen Orte die Hand zu schütteln, von eigenen Kämpfen zu erzählen und von fremden zu hören, brennend vor allem vor Begierde, sich aus dem gemeinsamen Rate aller die neue Kampfparole und erneuten Kampfeseifer zu holen für lange, lange Monate neuer Schlachten. Diese Stimmung ist indessen allen unseren Parteitagen eigen, wenn auch nicht auf allen so lebendig und mächtig gewesen. Diese Tagung aber hob an und wuchs und klang aus wie eine rauschende Kampfsinfonie. Ihr Grundton klang aus jedem Berichte, aus jeder Rede und weckte immer wieder die stürmischen Akkorde der Zustimmung, er klang vielleicht am reinsten aus den Schlussworten Austerlitz’:

„Wir nehmen in Oesterreich eine Zusammenfassung und Zusammenballung aller bürgerlichen Elemente wahr, eine Verschmelzung der bürgerlichen Parteien, die sich vordem so grimmig innerhalb jeder Nation bekämpft haben, in eine bürgerlich-nationale Partei, in der unter der nationalen Maske der scharfmacherische Geist unschwer zu erkennen ist; wir müssen mit der Entwicklung rechnen, dass zur Sozialdemokratie allmählich nichts gehören wird als die Arbeiter; die Bürgerlichen sind keine Schutzzöllner und keine Freihändler, keine Industriellen und keine Kleingewerbler, keine Agrarier und keine Städter mehr, sie sind nichts anderes als ein bürgerlicher Kuddelmuddel, dessen ganzer Lebensinhalt nur noch der Hass gegen die Arbeiterklasse ist; deswegen gibt es für die Sozialdemokratie Oesterreichs kein anderes Problem als das, jeden Arbeiter zu einem Sozialdemokraten zu machen. Feinde im Rücken! Feinde auf allen Seiten! Dagegen gibt es nur eine Wehr: wenn wir überall zu den Quellen unserer Kraft zurückkehren, wenn wir die Organisationen ausbauen, unsere Waffen schärfen, unsere Presse mächtig machen, damit sie den vereinigten Feinden sich gewachsen zeige und sie bekämpfe.“

Und das ist der Grundton der Verhandlungen: In dem feindseligen Wirrwarr der bürgerlichen Politik die Arbeiterschaft aller Zungen als Klasse zusammenzufassen, die Arbeiterbataillone in ständiger Kampfbereitschaft zu formieren und in Marsch zu setzen.

Ein Irrbau mit tausend Gängen, eine Sphinx mit hundert Köpfen ist dieses Oesterreich, es muss den Weg und bald auch die Besinnung verlieren, wer ohne klare Einsicht in sein eigenes Wesen und Ziel hierzulande Politik machen soll.

„Ich begreife nicht, wie ein Oesterreicher leben kann, wenn er dabei nicht den ungeheuren Vorzug hat, Sozialdemokrat zu sein. Es gibt in Oesterreich ein Element, das gesund ist im Kern und in jedem Blutstropen, ein Element, das nicht umzubringen ist, weil es sich nicht umbringen lässt, die Arbeiterschaft.“

Dieses Wort Adlers leitet den Parteitag ein, es schliessen ihn die treffenden Worte Pernerstorfers:

„Der Staat, in dem wir arbeiten, ist für uns eine Realität, wir müssen uns mit ihm abfinden; aber weit über den Staat hinaus gehen unsere Ziele, und weit hinaus über den Staat und über die gegenwärtigen Formen des politischen Lebens geht unser Sinnen und Denken. Weil wir unendlich weit über die gegenwärtige Gestaltung hinaus fühlen und denken, deshalb lebt etwas in uns: die unzerstörbare Kraft, die nach vorwärts, nach aufwärts strebt! Mag aller Staat zum Teufel geh’n, das Volk wird doch besteh’n!“

Vom Ausgangs- bis zum Endpunkte hat der energische Lebenswille des geeinigten Proletariats, sein Kampfesmut und seine Zukunftsfreudigkeit diese Tagung beherrscht. Im innersten Kerne gesund, klar und sicher im Denken, stark im Wollen, gross in ihren Zielen – das ist die Arbeiterklasse Oesterreichs und dieses ihr Wesen hat sie in diesen Verhandlungen in die Blätter der Geschichte eingetragen.

Sie hat dieses ihr Wesen behauptet in allen Wirrsalen und Verderbnissen unserer bürgerlichen Politik. „Das Proletariat ist zum Bewusstsein seiner Aufgabe als Klasse in so hohem Grade und mit solcher Klarheit gelangt, dass weder Unterdrückung noch Verlockung, weder Brutalität noch Lüge uns von unserem Wege abbringen können.“ Treu und unerschütterlich steht es darum zur proletarischen Internationale der Welt. Der Hass und Neid der Staaten berührt es nicht. Brüderliche Grüsse haben wir durch Genossen Ebert und Genossin Zietz mit den Proletariern Deutschlands getauscht, und während die Bourgeoisien aller Länder, während selbst das verfassungs- und rechtliebende England mit dem Zaren Frieden gemacht, haben wir seinen heldenmütigen Opfern, dem aus Millionen Wunden blutenden russischen Proletariat unseren Gruss gesendet. Selbst von schweren wirtschaftlichen Kämpfen noch müde, haben wir die schwedischen Helden nicht nur unserer wärmsten Anteilnahme, sondern auch neuer werktätiger Hilfe versichert. Noch lebt die grosse Internationale der Welt, nicht minder jedoch die kleine Internationale des Proletariats von Oesterreich-Ungarn. Während der nationalistische Wahnwitz der Bourgeoisien den Staat und sie selbst zerfleischt, während er sich redlich bemüht, auch die Massen in sein Zerstörungswerk zu verstricken, hat die deutsche Arbeiterschaft Oesterreichs mit der tschechischen, polnischen, italienischen, südslawischen, ungarischen und zum erstenmal auch mit der bosnischen Sozialdemokratie das Gelöbnis unverbrüchlicher Solidarität getauscht. Damit sind alle Hoffnungen der Gegner auf eine Spaltung der Arbeiterklasse begraben.

Die gleiche Klarheit offenbaren Bericht und Debatte über die ausserparlamentarische Aktion der Partei. Die Sozialdemokratie ist nicht bloss ein Apparat zum Wählen, die parlamentarische Vertretung nicht ihr Inhalt und Ziel. Zum vollen allseitigen Verständnis kam es, dass die Sozialdemokratie die kämpfende, sich wirtschaftlich und geistig erhebende Arbeiterklasse selbst, dass sie die Masse in Aktion darstellt. Diese Masse kämpft den direkten Kampf gegen die Ausbeutung in Gewerkschaften und Genossenschaften, den direkten Kampf gegen geistige und sittliche Unfreiheit durch ihre Bildungseinrichtungen und ihre Presse, den Kampf um die gesunde Fortentwicklung der Klasse durch die Organisation der Frauen und der Jugend, um ein Stückchen Anteil an Natur und Kunst durch Touristen-, Theater- und Gesangvereine. Für alle diese Teilaufgaben der aufstrebenden Klasse ist die politische Organisation nicht mehr, aber auch nicht weniger als die oberste Zusammenfassung und die Parlamentsvertretung nur ein Ausdruck, wenngleich der höchste.

Von der lebendigen Wahrheit des Kiassenkampfes zeugen auch der parlamentarische Bericht und die Debatte über denselben. Freilich führen unsere Abgeordneten diesen Kampf in zweifacher Richtung und das macht ihn schwerer verständlich, das hat die Kritik einiger Parteigenossen herausgefordert. Jeder Kampf bedarf eines Bodens, auf dem er geführt wird. Man muss erst ein gesichertes Parlament besitzen, bevor man in ihm Erfolge erringen kann. In diesem Punkte fühlt die Bourgeoisie anders; sie hat im Parlament die herrschende bürgerliche Welt nicht mehr, wie vor Jahrzehnten, erst zu begründen, sondern bloss zu verteidigen. Im allgemeinen ist sie der Regierungen so weit sicher, dass sie sich auf deren konservativen, arbeiterfeindlichen Geist verlassen kann. Darum verschlägt es ihr nicht viel, wenn Regierungen absolut oder mit dem § 14 schlecht und recht die bürgerlichen Geschäfte führen, solange nur die Gesetze

gegen die wirtschaftlichen Ansprüche, die Steuern gegen die Taschen, die staatlichen und kirchlichen Einrichtungen gegen die geistige und kulturelle Befreiung der Arbeiterschaft sich richten. Das Proletariat seinerseits lebt, wie ausgeführt, freilich auch sein ausserparlamentarisches Leben und gedeiht auch durch das, was man – ohne den üblichen Nebensinn – die direkte Aktion nennen kann. Aber es braucht die freie Tribüne, die ständige Kontrolle der Verwaltung, es braucht vor allem das Mittel, schädliche Gesetze abzuwehren und gute zu erkämpfen, es braucht das Parlament. Das Parlament ist ihm nicht etwa die Verheissung oder Erfüllung höchster Ziele; davon ist gar keine Rede, aber es gilt ihm als eines der Mittel des Klassenkampfes neben allen erwähnten Mitteln des direkten Kampfes und als ein vorzügliches Mittel dazu, weil es geradeaus auf den Mechanismus der bürgerlichen Ordnung, auf das alle bindende Gesetz gerichtet ist. So folgt notwendig, dass wir für das Parlament, für seinen Bestand und seine Ordnung, für seine Sicherung und Unausschaltbarkeit mit aller Kraft wirken. Zugleich aber sind wir in jedem Moment, sobald das Parlament funktioniert, als unversöhnliche Opposition den herrschenden Klassen auf diesem Boden entgegenzutreten genötigt und entschlossen. Dieser scheinbare Widerspruch ist noch immer nicht von allen Genossen begriffen worden. Und doch fliesst er aus keinerlei Revisionismus, Opportunismus oder gar Patriotismus, keinerlei Regierungs- oder Hoffreundlichkeit, sondern aus dem Klasseninteresse des Proletariats. Auch hierin hat der Parteitag Klarheit geschaffen, indem er unsere Losung sanktioniert hat: Für das Parlament gegen seine Mehrheit, für die Volksvertretung gegen die absolutistische Regierung, für das Haus des allgemeinen Wahlrechts gegen die Wahlrechtsfeinde, Opposition des Volkes gegen die Herrschenden, jedoch nicht Obstruktion zur Freude der Volks- und Parlamentsfeinde.

Aber ebenso klar ist ausgesprochen worden, dass wir unter Volkshaus nicht die Herren verstehen, die im griechischen Prachtbau am Franzensring heute gerade noch sitzen, weil sie sich aus der Kurienkammer diesmal noch herüber gerettet haben: Das Volkshaus ist das Haus aller grossjährigen Männer, die es in jedem Augenblick erneuern können, wenn die heute Gewählten versagen.

Sie haben versagt – das ist am Parteitage klar und deutlich ausgesprochen worden. Sie haben das klare Votum vom 14. Mai 1907 nicht erfüllt, obwohl sie durch die sozialdemokratischen Vertreter immer wieder gemahnt und gewarnt worden sind. Das einmütige Votum aller Völker hat sie verpflichtet, die Verzweiflung der Greise zu lindern, die nationale Verständigung zu suchen, die materielle Not der Teuerung zu lindern, eine gerechte Besteuerung anzubahnen. Darum haben wir das allgemeine Wahlrecht erkämpft, damit das Volk, so oft es nottut, wieder wähle. Und höchste Zeit ist es, dass das Volk sein Haus neu bestelle! Und insbesondere ist es Zeit, den zahllosen proletarischen Existenzen, die das letztemal den bürgerlichen Bewerbern noch vertraut und deren feindselige Herzlosigkeit gegenüber der Arbeiterklasse noch nicht durchschaut haben, die bürgerliche Politik zweier Jahre, die Politik des nationalen Chauvinismus, die Hunger- und Kriegspolitik der Patrioten zur Beurteilung zu unterbreiten!

Nicht zum Scheine und nicht leichtfertig hat der Parteitag sowohl die Behandlung der Lebensmittelteuerung und der Steuerreform wie jene des Militarismus und der Annexionspolitik mit dem Rufe nach Neuwahlen geschlossen: Das allgemeine Wahlrecht wird zur durchschlagenden und heilbringenden Kraft erst durch seine Uebung, durch den Wahlkampf. Der Streit im Parlament ist nur das verjüngte Widerspiel, der Wahlkampf aber die lebendige Wirklichkeit des Klassenkampfes. Wir sind bereit, das Volk selbst sprechen zu lassen; ist das Parlament stumm, so ist das Volk zu reden berufen, das Volk als die Gesamtheit aller Klassen. Vor dieser Gesamtheit wollen wir unsere Sache führen, und alle, die unterdrückt sind und nach Freiheit ringen, die da leiden und im Leiden hoffen, sollen unseren Ruf vernehmen: Brot und Arbeit, Friede und Freiheit!

Die Vorkämpferin der Arbeiterklasse, die Sozialdemokratie, zum Kampfe entschlossen und ihm mutig entgegenschauend, hat darum auf ihrem Parteitage als die allerwichtigste Aufgabe behandelt die einheitliche und schlagfertige politische Organisation der ganzen Arbeiterschaft. Der Parteitag hat nicht nur dem Heere der Industrieproletarier eine einfachere und geschlossenere Verfassung gegeben, er hat an die erwachsenen Männer die Reihen der Frauen und Jugendlichen, an die industriellen die ländlichen Proletarier angegliedert, er hat durch die entschiedene, freudige Mitarbeit der Leiter unserer Gewerkschaften die politische und wirtschaftliche Organisation des Proletariats noch inniger zusammengeschweisst. Dieser Parteitag, unvergesslich durch Inhalt und Geist seiner Verhandlungen, wird unvergänglich sein in seinen Wirkungen: Er hat die deutsche Arbeiterklasse Oesterreichs physisch und geistig neu gerüstet zu allen Kämpfen, die bevorstehen.


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024