Karl Renner

Der Bankerott des Kleinbürgersozialismus

(1. Juni 1911)


Der Kampf, Jg. 4 9. Heft, 1. Juni, S. 437–441.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Politische Windstille vor dem Sturm – so erschien uns vor einigen Monaten das politische Leben in Oesterreich. [1] Ein lähmender Gleichgewichtszustand drückte auf uns und gab dem Regime Bienerth den Charakter der Unerschütterlichkeit. Aber unter der Oberfläche der Tagespolitik, im wirtschaftlichen Unterbau der Gesellschaft, konnten wir auf bedeutsame Neugestaltungen hinweisen, die wir auf die Umschichtung aller Klassen zurückführten. In dem letzten Jahrzehnt sind Bürger und Bauern in Oesterreich ökonomisch anders geworden. Der siegreich vordringende Kapitalismus hat Oesterreich endgültig industrialisiert und selbst die Landwirtschaft seinen Wirtschaftsgrundsätzen unterworfen; in dem Spiegel des allgemeinen Wahlrechts, im Wettkampf aller Klassen um den Einfluss auf den Staat, haben die bürgerlichen Klassen sich selbst erkennen gelernt und die überlieferten kleinbürgerlichen und bäuerlichen Vorstellungen, die im christlichen Sozialismus programmatisch festgelegt waren, allmählich überwunden. Die ökonomische Umschichtung der Klassen müsse so folgerten wir, früher oder später eine politische Umwälzung des Parteiensystems zur Folge haben. Es fehlte nur der äussere Anstoss. So bald dieser eingetreten, weiche die Windstille wieder dem Sturm.

Wie ein ahnungsloses Kind, das lächelnd mit einem blinkenden Taster spielt und eine furchtbare Explosion hervorruft, hat Bienerth durch die Parlamentsauflösung den Sturm entfesselt. Die Neuwahlen sollten nach Bienerths Annahme nur ein klein wenig ändern, das Parteiensystem des Parlaments sollte qualitativ dasselbe bleiben, nur sollten die Nationalen und Christlichsozialen quantitativ ein paar Mandate den Sozialdemokraten abgewinnen und Bienerths alte Mehrheit stärken. Also ein Rechenexempel, das ein Volksschüler lösen kann, das war die politische Weisheit dieser Nenwahlen. Aber leider hat Bienerth die Grundregel des politischen Philisters ausseracht gelassen, die da lautet: es kommt immer anders als man gemeint hat. Es ist anders gekommen: die Wahlen haben die Rechenmaschine der politischen ABC-Schützen, die da ein paar schwarze und blaue Kügelchen hinzugeben und ein paar rote wegnehmen wollten, grausam zerstört und anstatt des gelungenen Rechenexempels die gewaltige Katastrophe der grössten Partei, der eigentlichen österreichischen und habsburgischen Staatspartei ergeben! Und wie angedonnert standen Bienerth und seine Bewunderer da und begriffen zum erstenmal im Leben, dass es sonderbarerweise in der Politik doch nicht so einfach sei – wie bei der Aepfelfrau!

Der grösste Stolz der österreichischen Reaktion, ihre kühnste Eroberung dreier Jahrzehnte, die römisch-klerikale dynastische Partei der Reichshauptstadt, die „Reichspartei“ geköpft und zerschlagen! Man erzählt von einem römischen Kaiser, der nach der Vernichtung seiner Kerntruppen in Verzweiflung seine Kleider zerrissen und gerufen habe: Varus, gib mir meine Legionen wieder! So mögen wohl die Herren der Kamarilla am 20. Juni gejammert haben: Bienerth, Bienerth, wo hast du unsere Barrierestöcke?! Allein, die Klage ruft die Toten nicht zurück.

Der Unverstand der Herrschenden ist indessen nicht zu bedauern, sondern eher zu begrüssen: Wirkt er doch als Beschleuniger der Entwicklung, indem er das, was sonst langsam faulte und fiele, rasch stosst und stürzt. Und so hat Bienerth das grosse historische Verdienst, eine tragende Säule des österreichischen Staates, der Regierung und der Dynastie eingerissen zu haben: den christkatholischen Kleinbürgersozialismus. Dessen Zusammenbruch ist für die Arbeiterklasse von höchster Bedeutung.

Als der grosse Krach des Jahres 1873 die österreichische Gesellschaft mit Schrecken erfüllte, erhob sich in ihr ein mächtiger Widerstand gegen den Kapitalismus und Liberalismus, gegen das „Manchestertum“. Gegen das herrschende Grossbürgertum erstand die Rebellion der Kleinbürger. Die Hofkreise, der Adel, die Bureaukratie und die Hierarchie nährten diese Rebellion und Vogelsang und die Seinen gaben ihr die Ideologie des „christlichen Sozialismus“.

Beinahe vierzig Jahre hat diese Ideologie auf die bürgerliche Welt Oesterreichs gewirkt; wir können heute mit historischer Ruhe auf ihre Wirksamkeit zurückblicken. Unwahrhaft und ungerecht ist es, in ihr, nach Art der Neuen Freien Presse, bloss die Kulturschande des Antisemitismus zu sehen, falsch ist es, diese Bewegung als nichts anderes zu beurteilen, denn als römischen Klerikalismus oder Ultramontanismus, lächerlich geradezu wäre es, sie als politische Reaktion schlechtweg zu bezeichnen, da sie ja den ganzen Sumpf der politischen Indolenz des Mittelstandes aufgerührt und zur Demokratisierung Oesterreichs mehr beigetragen hat als jemals der Liberalismus, auch in seinen besten Zeiten – man denke nur an die Wahlreform. Diese Schlagwörter treffen je eine wichtige Begleiterscheinung des christlichen Sozialismus und haben also ihre begrenzte Berechtigung, aber sie treffen nicht den Kern dieser Bewegung, geschweige sie erschöpfend zu charakterisieren.

Dieser Kleinbürgersozialismus ist zugleich Antisemitismus und Verjudung des Volksgeistes, zugleich Klerikalismus und Gefährdung der kirchlichen Hierarchie (man denke an die Tiroler Altkonservativen) – die Los von Rom-Bewegung ist ja nur ein anderer Ast auf demselben Zweig der Kleinbürgerpolitik – er ist zugleich Reaktion und Rebellion, Demokratie und doch zugleich die schlimmste Gefährdung der Demokratie, er ist der fleischgewordene Widerspruch aller politischen Methoden und dennoch eine im Grunde sehr einfache Sache:

Die historisch überlieferten „Stände“ geraten bei uns in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in das zersetzende Feuer der kapitalistischen Entwicklung und widerstreben ihrer Auflösung und Umbildung im Namen der anderthalbtausendjährigen christlichen Gesellschaftsordnung. Diese Gesellschaftsordnung mit ihren tausendfachen Bindungen erscheint gegenüber der Anarchie des Kapitalismus als soziale Ordnung, somit als Sozialismus.

Heute, wo diese Umbildung vollzogen ist, lässt sie sich schlagend veranschaulichen:

Im Jahre 1860 war der Grossgrundbesitzer noch Standesherr, sein Wirtschaftsbetrieb rangierte neben seinem Adel, neben seiner Stellung im Staat und Landtag in zweiter Linie. „Ein Windischgraetz macht keine Geschäfte“, hiess es damals. Der bürgerliche Grossgrundbesitzer galt als Eindringling, die feudale Politik war „grosse“ Staatspolitik (Zentralismus, Föderalismus u. s. w.) – heute ist Dr. Schreiner neben dem Fürsten Auersperg der als gleichberechtigte „Agrarier“ – Vieh- und Fruchtpreise sind der Inhalt ihrer Politik. Sie stehen fest und ganz auf der Basis dieser kapitalistischen Gesellschaftsordnung und repräsentieren nichts als die nationalökonomische Kategorie „Grundrente“, alle anderen Dinge sind ihnen Hekubal

Früher stand der „Bauer“ als Untertan tief unter ihnen, heute ist er als „Grundbesitzer“ umschmeichelter agrarischer Bundesbruder. 1860 war der Bauer, wenigstens in seiner Einbildung, noch König auf seiner Scholle, der in erster Linie für den Eigenbedarf wirtschaftete. Sein Hof war sein Reich. Bauernfideikommisse für die Grossen, erbliche Heimstätten für die Kleinen sollten diese Zwergreiche in den Zwergdynastien erblich machen, wie den Gutsbesitz in den Adelsfamilien Kredit nehmen hiess damals Schulden machen, Kreditgeben Wucher, Kauf und Verkauf Schacher. 1911 aber sind diese Art Bauern Marktlieferanten, ihr Reich von ehedem ist aufgelöst in walzende Parzellen, mit denen man schachert und der Gottessegen der Ernte von früher ist heute Ware, mit it der man wuchert. Bewusst, ja mit leidenschaftlicher Freude stehen die agrarischen Grossbauern auf dem Boden des kapitalistischen Schachers und Wuchers.

Der Bürger der Städte aber war vor Jahrzehnten Handwerksmeister im eigenen Hause, wenn schon nicht König in seinem Reiche, so doch selbständiger, unabhängiger Gebieter seiner Gesellen und Versorger seiner individuell gekannten Kunden, durch ererbtes Handwerk und Vermögen sein eigener Herr. Heute aber scheidet sich das Bürgertum in alle Grade grösster, mittlerer und kleiner „Unternehmer“, die auf der einen Seite einer gespenstischen Allgemeinheit von Abnehmern, dem Warenmarkt ausgeliefert sind und auf der anderen Seite vom Arbeitsmarkt jeweils die nötige Anzahl „Hände“ beziehen. Der Bürger von ehedem ist nicht mehr patriarchalischer Macht haber, sondern simpler Warenlieferant und noch simplerer Arbeitgeber, blosser Profitmacher, aber das aus voller Leidenschaft kapitalistischer Instinkte.

Die kapitalistischen Schichten haben die Eierschalen ihrer ständischen Herkunft abgestreift, die alten Gesellschaftsformen haben ihre Romantik abgestreift, der Kapitalismus seine Schrecken. Die Methoden des „jüdischen" Schachers und Wuchers sind die Normalmethoden des christlichen Herrenvolkes geworden. Der Kapitalismus atomisiert auch nicht mehr, er organisiert; das Unternehmertum hat sich für den Warenmarkt in Kartelle, für den Arbeitsmarkt in Arbeitgeberverbände organisiert. Welche Armseligkeit stellt der alte Zunftmeister dar gegen ein modernes Kartellmitglied, welche Herrengewalt verleiht der Arbeitgeberverband im Vergleich zur Zunft!

Der christliche Sozialismus drückt das ohnmächtige Sichsträuben des kleinen Mannes gegen den Kapitalismus aus, solange dieser neu ist, das vergebliche Widerstreben der ehemals Selbständigen, der eigenherrlichen Existenzen gegen ihre Einreihung in den Waren-und Arbeitsmarkt, gegen ihre Umprägung in die blosse ökonomische Kategorie Profit und Rente. Sobald die Markt-, Geld- und Kreditwirtschaft als allgemein geltende Tatsache sich durchgesetzt und das bürgerliche Bewusstsein durchdrungen hat, wird er sinnlos. Damit hat die christlichsoziale Heilslehre von ehedem so absolut ausgespielt, dass sie seit einem Jahrzehnt nicht einmal mehr in der Agitation eine Rolle gespielt hat, dass der Versuch Weiskirchners, in den Stichwahlnöten noch einmal die alten Akkorde vom mobilen Kapital anzuschlagen, wirkungslos blieb. Die Uebergangsepoche ist abgeschlossen – der Landwirt ist Agrarkapitalist, der Gewerbsmann Industriekapitalist, jeder bewusst und entschlossen es zu sein. Alle jene aber, die in dieser Uebergangszeit unter den Hammer gekommen, alle die im Sturm der Konkurrenz zu Zwergwirten verkümmert sind, sind Proletarier geworden, bewusste und entschlossene Proletarier. Aus dem Konkurs des christlichen Sozialismus gehen drei Klassen hervor: Industrielle, Agrarier und Proletarier. Für uns als Partei gilt es, die Adepten des kleinbürgerlichen Sozialismus, welche den arbeitenden Schichten angehören, ob des Irrtums nicht zu verspotten, sondern über den notwendigen Zusammenbruch ihrer Ideologie zu belehren und zum wahren Sozialismus herüberzuführen.

Dass dieser historische Irrtum zum Schluss in allgemeinem Spott und Gelächter zugrunde gehen musste, ist nicht verwunderlich. Vor 20 Jahren begriff das jeder, wenn der Bürger dem Bauersmann seinen Hof, der Bauer dafür dem Bürger sein Gewerbe als Lebensnahrung und Basis der Familie garantieren, wenn der Handwerker im Gesellen den künftigen Meister, der Bauer den Taglöhner zum Landwirt erziehen wollte. Es war damals schon ein Irrtum, aber ein eben noch möglicher. Heute aber, in der entwickelten Konkurrenz aller gegen alle, bricht der Streit los. Heute hasst der christliche Bürger den ebenso christlichen Kunschak, beschimpft Kunschak den engherzigen Bürger, heute flucht der christliche Bürger und Arbeiter über den ebenso christlichen Bauern, der in die Stadt übergreift, um ihr die Preise zu diktieren. Nicht wegen der Kleinheit und Schlechtigkeit der Führer endigt diese Bewegung in gegenseitigem Krakeel, der unausweichliche Krakeel hat sich seine Leute erzogen. Gerade diejenigen, welche am ehrlichsten geglaubt haben, die Idealisten, sind die verbissensten Krakeeler, die jeden anderen des Verrates an der Idee beschuldigen. Die Weltkinder der Bewegung, die schon längst hinter das Geheimnis der tauben Nuss gekommen sind, haben natürlich als geborene Zyniker sofort mit beiden Händen zugegriffen, um ihr Schäflein ins Trockene zu bringen, bevor das Schiff untergehe. Sie haben zum Krakeel den Skandal hinzugefügt. Aber nicht die Schlechtigkeit der Führer hat die schuldlose Partei vernichtet, die Nichtigkeit dieser Parteibildung hat die Korruption erzeugt.

Wir Sozialdemokraten haben schon im Anbeginn der Bewegung ihr das Horoskop gestellt, dass sie wie alle Kleinbürgerei in der Politik ausgehen werde gleich dem Hornberger Schiessen. Verwunderlich ist nur, dass sie bei uns zu solcher Macht gelangen konnte, da sie sonst überall nicht über kleine Anfänge hinausgekommen ist (Stöcker, Boulanger u. s. w.). Es gibt Leute, welche diesen Aufstieg der überragenden Persönlichkeit Luegers zuschreiben. Es wird kein Jahrzehnt mehr dauern und die Welt wird Lueger so einschätzen, wie er es verdient. Vereinfacht wurde dieser staunenerregende Aufstieg durch den Fünfguldenzensus, der durch ein halbes Menschenalter die Politik geradezu dem Kleinbürger auslieferte. Durch die Mauer des Zensus dem Proletariat unangreifbar, infolge des Handelskammern- und Grossgrundbesitzerprivilegs von diesen Kreisen nicht beirrt, lebte und tobte sich der kleine Mann bei uns nach Herzenslust aus und ward in der christlichsozialen Partei der Beherrscher des Staates. Unter dem allgemeinen Wahlrecht mitten hineingestossen zwischen Grosskapital und Proletariat und in Gefahr, politisch wie zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben zu werden, schrie er entrüstet über den Verrat am Handwerk auf und schlug wie toll und grotesker denn ein Hanswurst um sich. So kam die Partei zum Schluss auf ihres Wesens Kern, auf den Heilinger.

Und dennoch gab es eine Möglichkeit, die Partei aus dem Wirrsal widerstreitender Interessen herauszuführen und neu zu gestalten. Wäre Lueger wirklich ein Staatsmann gewesen, oder hätte Liechtenstein oder Gessmann oder irgend einer der Epigonen politisches Ingenium, kraftvolle Persönlichkeit und politischen Ernst besessen, so hätte er aus den verwirrten Massen die Partei der konservativen Demokratie geschaffen, die in unserem Parteiensystem, in unserem Staate fehlt. Einen Anlauf hiezu nahmen die Christlichsozialen unter Beck, wie denn überhaupt dieser Staatsmann die konservative Demokratie in Wort und Tat überaus prächtig darstellte. Sein Regime breitete auch vielen Glanz gerade über diese Partei. Hätte sie seine Reden zu ihrem Programm gemacht und nach ihnen gehandelt, hätte sie sich seiner Führung anvertraut, vielleicht stünde es heute um sie anders. Aber ihre Führer waren zu klein, Bede nur zu begreifen, sie selbst waren es ja, die Bede stürzten und Bienerth einführten – die Entwicklung gab ihnen die rechte Strafe, indem sie Bienerth zu ihrem Totengräber machte. Statt dieses Ausweges wählten sie vielerlei Abwege: Als konservative österreichische Partei mussten sie sich national zurückhaltend und transigent verhalten, durften sie dem Nationalismus keine Konzessionen machen – aber sie liefen dem Deutschen Nationalverband nach, liefen mit ihm um die Wette, um doch zum Schlüsse von ihm treulos verlassen zu werden. Als konservative Partei mussten sie die Sozialreform ernst nehmen – denn es ist eine Grundregel des Konservatismus, die Bismarck meisterhaft gehandhabt hat, den Bourgeois in ständiger Furcht vor dem roten Gespenst zu erhalten und ihm dadurch Sozialreformen abzunötigen, welche den Anhang der konservativen Parteien in den Massen erhalten. Niemals durften sie ein Ministerium der reinen Staatsnotwendigkeiten wie Bienerth dulden, das den Massen keine Konzession macht. Denn solche Ministerien reiben die Parteien auf, auf die sie sich stützen. All das begriffen sie nicht, denn sie waren staats-, national- und sozialpolitisch völlig ideenlos. Sie gaben sich Gessmann zum Führer – sie machten dadurch den unermüdlichsten, gespicktesten Quartiermeister zum Feldherrn, wahrscheinlich nur, weil sie keinen Feldherrn hatten.

Es scheint vielleicht verwunderlich, dass jene altkonservativen Kreise, die früher einmal Oesterreich regiert haben, ihnen keine politischen Talente beistellten. Und jene Konservativen besassen immer Talente. Um nichts aber ist es heute jammervoller bestellt als um diese Kreise. Die Feudalherren, die Kirchenfürsten, die hohen Bureaukraten – das gab vor Jahrzehnten ein reiches Reservoir von Staatsmännern. Von Leo Thun und Rauscher bis zu Schönborn und Steinbach zählen wir viele bedeutende konservative Begabungen. Aber heute? Diese Herren, welche da den obersten Staatswillen auf Schleichwegen beeinflussen, haben heute nicht mehr die Dynastie, das Reich, die Staatsgewalt im Herzen: Sind sie Grundherren, so denken sie in erster Linie an Vieh- und Kornpreise; sind sie Kirchenfürsten, so denken sie an den Kirchenstaat und die Kongrua; sind sie Bureaukraten, so denken sie an ihre parlamentarischen Protektoren oder spekulieren auf Gouverneursposten. Die wenigen hohen Talente, die uns aus früheren reichlicher bedachten Zeiten überkommen sind, treten das Pflaster, nachdem sie abgenützt worden. Was da heranwächst und sich breit macht, was sich da insbesondere im Herrenhaus staatsmännisch zu spreizen anhebt, ist politische Unzulänglichkeit untersten Grades. Wäre es denn sonst denkbar, dass ein Bienerth (mitsamt seinem Einbläser Aehrenthal) im Herrenhause politische Lorbeeren pflückt, ein Mann, der es verstanden hat, Wolf und Klofac zu den zwei Angelpunkten zu machen, um die sich Oesterreichs Politik dreht!

Indessen, die Fehler jener Kreise sind unsere Gelegenheiten, sie dienen uns mehr als es politische Tugenden vermöchten. Wir sind Bienerth ernsthaft gram, weil er an der abermaligen Vereitelung der Altersversicherung schuld trägt. Aber in der Torheit dieser Reichsratsauflösung liegt die versöhnende Nebenwirkung, dass sie uns in wenigen Tagen den angefaulten Körper der christlichsozialen Partei aus den Städten weggeräumt hat, wozu wir normalerweise sehr viele Jahre gebraucht hätten. Ein neuer Kampf setzt ein, der Kampf mit den Erben. Von nun ab sind die sogenannten Deutschnationalen die gebietende Partei des Parlaments, als Sieger ziehen sie in das Haus ein, in ihre Hände ist das Schicksal des Parlaments und der deutschen Nation in Oesterreich gelegt. Vier Jahre waren wir an das Marterholz des Volkshauses geheftet: Brutale Klassenwahlen haben uns jeder Verantwortung entbunden, mögen denn die Triumphatoren aus Böhmen zeigen, was sie können. Die eine hohle Ideologie, die des christlichen Sozialismus, ist zerstört, nun kommt die zweite, hohlere an die Reihe, die Ideologie des nationalen Radikalismus. Das gibt neuen frischfröhlichen Kampf, wir treten ihn an mit der Zuversicht, die uns Sozialdemokraten am all er stärksten aus Niederlagen erwächst. Wie oft hat uns Lueger in Wien von 1896 an besiegt, wie oft und wie gründlich! Und heute? Was anderen eine verlorene Schlacht scheint, war uns allezeit nur eine strenge Kampfschule und das Beispiel der Triumphe und des Sturzes der Christlichsozialen beruhigt uns sehr. Wir wissen, wie rasch wir ausgelernt sind. Auch die Sieger von heute werden bald ihren Meister an uns finden!

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Anmerkung

1. Siehe Kampf, 4. Jahrgang, Heft 5.


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024