Karl Renner

Nach Innsbruck

(1. Dezember 1911)


Der Kampf, Jg. 5 3. Heft, 1. Dezember 1911, S. 103–109.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Auch wenn man sie im Kalender rot anstriche, blieben Parteitage nur Tage im Kalender – wer einen Umsturz der Dinge, wer den augenblicklichen Wandel der Tatsachen von ihnen erwarten wollte, wäre abergläubisch. Parteitagsbeschlüsse schaffen Tatsachen nicht in die Welt und nicht aus der Welt. Was sie zunächst vermögen, ist die Klärung der Auffassung, die einheitliche Ausrichtung unserer Meinungen und die Einigung unseres Wollens. Erst die Menschen, die im Denken eins sind, kommen zu gleichem Wollen, erst der einheitliche Massenwille gestaltet Dinge um und schafft Tatsachen. Auf diesem langen schwierigen Weg wird die geschichtliche Tat der Masse geboren. Und so sind sozialdemokratische Parteitage nicht die Geburts-, sondern die Empfängnisstunden für die Aktionen des Proletariats.

In diesem Verstand können wir auf Innsbruck mit froher, ja stolzer Genugtuung zurückschauen. In der kritischesten Lage der österreichischen Sozialdemokratie, auf dem strittigsten Boden österreichischer Politik, auf dem tiefsten Grunde der Enttäuschung, mitten im Sturm der Leidenschaften, im ärgsten Wirbel aller Zweifel an der Bewährbarkeit eines Hauptgrundsatzes unseres Handelns haben wir deutschen Sozialdemokraten die höchsten Güter der Partei, die zugleich die Grundfesten jeder menschlichen Vereinigung und die Grundbedingungen ihres Wirkens sind, glänzend behauptet: Einheit und Prinzip. „Behauptet“ sagt zu wenig: Wir sind allesamt erst so recht innerlich zusammengewachsen, wir alle, die Widerstrebenden, Kritischen, die wir als Zweifler und Klageführende gekommen, sind in den drei Stunden der Rede Adlers, in der Wärme seines Wortes und in dem Lichte seines Erkennens zusammengeschmolzen in eine wahre Gemeinde ; und niemals äusser der denkwürdigen revolutionären Reichskonferenz von 1907 waren wir also in jeder Faser eins.

Niemals war auch das Prinzip der Internationalität, die tatbereite Erkenntnis von der Notwendigkeit der proletarischen Gemeinbürgschaft aller Zungen in uns so lebendig als jetzt, da wir als Nation allein ratschlagten, da wir als Nation herausgefordert waren. Was wäre denn näher gelegen als Herausforderung mit Herausforderung zu beantworten? als die nationale Ungebundenheit zu nationalistischem Sonderwollen zu nutzen? Der tschechische Separatismus hatte die politische und wirtschaftliche Internationale zerschlagen, wir waren frei in unseren Entschlüssen. Konnten wir nicht unserem verletzten Ehrgefühl Luft machen und angetanen Schimpf mit Schimpf vergelten? Wir waren als Nation provoziert – konnten wir nicht im Feuer der Leidenschaft dahin gelangen, uns als deutschnationale Arbeiterpartei zu konstituieren?

Auch nicht die Versuchung hiezu hat den Parteitag oder nur einen einzigen Redner angefochten. Kein hartes Wort fiel gegen das tschechische Proletariat und alle Erregung ward gemeistert durch das Streben, alles zu begreifen, den traurigen Irrtum der tschechischen Arbeiter in den unglückseligen Gestirnen zu lesen, unter denen sie geschichtlich herangewachsen – worauf im Grunde Leuthners Rede hinausläuft. Das ungewöhnlich hohe Niveau der Verhandlungen, ihr intelektueller Standard soll dadurch nicht in erster Linie betont sein, sondern die politische Selbstbeherrschung, die auf Seite des Charakters der Partei liegt. Weder die Lockungen der nationalistischen Bourgeoisie noch der Verdruss über die unbeschreibliche Kampfesart derer, die bisher an unserer Seite standen, haben die deutschen Parteigenossen um Haaresbreite von ihrem reinen Wollen abgebracht. Und rein ist auch ihr internationales Bekenntnis geblieben von jedem nationalistischem Anhauch.

Ein Lächeln des Mitleids wird daher die deutschen Genossen überkommen, wenn sie das armselige „Missverständnis“ Anton Nemec’ lesen: „Die deutschen Sozialdemokraten hätten die nationale Assimilation in ihr Programm aufgenommen!“ Oder: „Sie haben mit Deutschnationalen Bündnisse geschlossen, um zu zeigen, dass sie die besten Deutschen seien!“ Oder: „Sie wollen den deutschen Charakter Oesterreichs verteidigen“! Der arme Nemec, der einst bessere Tage hatte, leidet politisch an der Krankheit, die man menschlich Hysterie nennt und die des eigenen Geistes Zerfahrenheit den Mitmenschen leiht; so dichtet er das separatistische Bündnis mit Stransky und den Separatistentraum eines slawischen Oesterreich, um dessen Königskrönungen und Ministerschlüssel sie sich mühen, uns Deutschen an. War denn nur von all diesen Dingen auf dem Parteitag die Rede?

Ja doch – Leuthner hat eine Rede gehalten, deren ungewohnter Ton zunächst nicht verstanden wurde, und Hartmann hat Anträge gestellt, die abgelehnt wurden; beide Aktionen haben kaum eine merkliche Wirkung auf den Parteitag gehabt. Aber hindert das etwa das Separatistenblatt, die Sache so zu verdrehen, als wäre der Parteitag unter dem dominierenden Einfluss von Hartmann und Leuthner gestanden? Ach nein! Sie sprechen sogar davon, dass ein „Hartmann-Kultus“ die Partei ergreife, dass unser Hartmann, der freilich mit dem Katheder in gewisser örtlicher, wenn auch nicht gehaltlicher Beziehung steht, die Partei in das Lager des Kathedersozialismus führe! Nein – uns deutschen Sozialdemokraten ist nicht mehr zu helfen, wir sind die verlorenen Söhne des echten Sozialismus, dessen letzte Zuflucht Vaněk und Tusar geworden sind!

Durchsichtig ist dabei die Taktik der Separatisten: Sie suchen aus unseren Reihen sich Opfer, denen sie deutschnationalen Chauvinismus andichten können, woraus sie ein Doppeltes erhoffen: erstens soll unser angeblicher Chauvinismus den ihrigen als Abwehr rechtfertigen, zweitens vermögen sie so ihren Anhängern einzureden, dass sie selbst die besseren Internationalen seien, als die national verseuchten „deutschen Genossen“. Es ist schade, dass Leuthner und Hartmann selbst die Handhabe bieten, einen separatistischen Publico als Schaustück deutschen Chauvinismus vorgeführt zu werden. Leuthner, der sich uns in den letzten Sozialistischen Monatsheften als „ruppiger Drauflosdenker ohne schulgerechte Beinbewegungen, jedoch mit geschämig im Gefieder geborgenen Schwanenfuss der Eitelkeit vorstellt und Wahrheiten voller Gräten serviert, die uns im Halse stecken bleiben sollen, auf dass wir husten“, hat in dieser seiner blendenden Stilkunst den Separatisten manche Redewendung geliefert, die ihnen die Verunglimpfung des deutschen Proletariats erleichtert. Er müht sich die Psychologie des Tschechentums, ihr ureigenstes Wesen und Sonderdenken zu erklären, das Gedankengeflecht, das ihre Köpfe umstricke, aufzulösen und erklärt so seine Innsbrucker Rede, die er in den Monatsheften zum Teil zitiert. Hiebei meint er bloss die obligaten Rosinen, wie „Klassenkampf, Klassengegensatz etc.“ in dem servierten Backwerk vergessen zu haben, sonst hätte es als prinzipiell garniert auch gemundet! Dabei ist die zitierte Erklärung die tschechische Psychologie und das besondere Tschechentum zu charakterisieren so wenig geeignet, dass man bei seiner Schilderung der tschechischen Erweckung [1] bloss das Wort Tschechen durch Deutsche und das Wort Deutschenhass durch Franzosenhass ersetzen braucht, um die landesübliche Erklärung der Entstehung der deutschen Nationalliteratur und Nationalkultur um die Wende des 18. Jahrhunderts zu erhalten. So beweist er wider Willen, dass ein Nationalismus so schlecht und so gut ist wie der andere. Seine Ausführungen über die nationalen Gedankenkeime, die den tschechischen Arbeiter schon im Kindesalter und insbesondere in der Volksschule umgeben, gelten heute ganz genau so für die deutsche Jugend, für die Deutschen in den Sudetenländern überhaupt. Nationalistische Wandaufschriften [2] sind dort in gleicher Weise in tschechischen wie in deutschen Schulen die Regel. Wenn Leuthner sagt, das Tschechentum stelle eine fertige Staatsnation ohne Staat dar, so hindert ihn bloss eine gewisse Einseitigkeit der Beurteilung zu erkennen, dass heute auch Polen, Italiener und nicht am wenigsten wir Deutsche in Oesterreich ganz dasselbe darstellen. Würde er das erkennen, so könnte er nicht speziell zu Lasten des einen buchen, was unser aller trauriges Erbteil ist, nämlich dass viele Staatsnationen verurteilt sind, mit einem Staat vorlieb zu nehmen, also alle um den einen Staat konkurrieren und also allesamt den Vorzug geniessen, jede der anderen antipathisch zu sein – welch ein Irrtum zu meinen, darin liege die spezifische Differenz des Tschechentums! Die oberflächlichste Allgemeinheit in der „Geschehensreihe“ sieht also Leuthner als das Spezifische und Konkrete an und gelangt so auf das Niveau der deutschen und tschechischen Nationalisten, die in voller Gleichwertigkeit und mit voller Gleichberechtigung einander seit Jahrzehnten dieselben Vorwürfe des Byzantinismus und Hochverrats, der Herrschsucht und Eroberungspolitik, der Germanisierung und Slawisierung machen. Da ist jeder der Eroberer, jeder der Unterdrücker, jeder der Dulder und – jeder will die wahre Gleichberechtigung.

Es kann nicht die Aufgabe des Sozialisten sein, diese Phraseologie einzulernen und nachzuleiern, sondern sie aufzulösen in ihren realen Grund, in die allseitige Konkurrenz der Nationen um Boden, Besitz, Macht und um den Staat vor allem. Tut er das, so muss er zu dem konkreten Schluss kommen: Entweder gelingt es den Nationen, sich in die Staatsmacht zu teilen oder sie müssen den Staat zerreissen. Man kann das eine oder das andere schliessen und wird sich im ersten Fall „gesamtstaatlich österreichische“, im anderen irredentistische Vorstellungen von dem Ausgang des österreichischen Jammers machen. Nur die völlige Konfusion über das Verhältnis von Staat und Nation wird hier von einem gesamtstaatlich-österreichisch gefärbten Kosmopolitismus einzelner Genossen reden, der dem wahren Internationalismus unterschoben werde. Die Not der realen Völkergemeinschaft, die den real gegebenen Staat Oesterreich unter sich teilen muss, wäre sicherlich ein heiteres Objekt souveränen Spotts, wenn diese Not nicht eben vor allem unsere Not wäre und zum zähen Hemmnis für den Aufstieg des österreichischen Proletariats, für die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat würde. Das geistreichste Herumgerede ändert nichts an der trivialen Tatsache: Entweder schlägt eine europäische Verwicklung dieses Reich in nationale Stücke – dann ist unser Boden der Schauplatz, dann tragen wir die Opfer dieses Krieges und sind wir um dieses Los, das der Irredentist ersehnt, wirklich nicht zu beneiden; oder aber diese Völker bleiben beisammen. Ist das Zusammenbleiben ihr Los, so können sie das entweder wie zänkische Weiber ertragen, indem sie das Unabänderliche ewig tatlos bekeifen und ihre Tage in ergebnislosem Gezänk verbringen oder sie können wie Männer sich in die Umstände fügen, sich miteinander schlecht und recht einrichten und das Erreichbare schöpferisch vollbringen. Das erste tut der österreichische Nationalist, das letzte der „österreichische Internationale“. Dieser kann wohl noch den Irredentisten achten, der doch weiss was er will und den Mut der Konsequenz hat. Aber das end

und fruchtlose weibische Gekeif und Gezänk unserer Nationalisten aller Zungen hat nicht den leisesten Anspruch auf Respekt, zumal bei einem Sozialdemokraten. Denn für ihn steht doch wohl die harte, wenn auch triviale Tatsache fest: Die Reaktionäre aller Zungen nähren diesen Zwist, sie spielen den nationalen Kampf direkt gegen den sozialen aus, sie wälzen den Block des Nationalismus auf den Weg des Sozialismus, um den Aufstieg des Proletariats zu hemmen. Dem nüchternen Denken des Arbeiters wird der scharfsinnigste Geist die Einsicht nicht wegspotten: Das national zerklüftete Proletariat wird in Oesterreich niemals die Macht haben, die Staatsgewalt zu bestimmen, geschweige denn zu erobern. Nationaler Kampf – das ist Verhinderung sozialer Reformen, ist Rechtlosigkeit, ist Hunger, ist Massenverelendung.

Welch unrealistische Auffassung liegt in Leuthners Redewendung: Der deutsche Arbeiter habe einen „Boden“, eine „Kulturhöhe“, eine „Kulturtradition" zu verteidigen. Wohl sind wir nicht mehr so arm, dass wir nicht einiges zu verteidigen hätten, etwa das Koalitionsrecht, das Wahlrecht, das Versammlungsrecht etc. Aber gegen das Gran des Errungenen steht eine ganze Welt, die erst zu erobern ist! Welchen Boden besitzen wir? Nichts ist der Arbeiter in der Gemeinde, nichts im Lande! Nichts besitzt er von der Kulturhöhe als das Recht, seine Kinder in die klerikalisierte niedere Schule zu schicken. Unwahr ist es, dass man ihm eine deutsche Kulturtradition vererbt habe. Das geistige Erbe, das ihm die Nation in der Schule vermittelt, besteht in der biblischen Geschichte, in patriotischen Lesestücken und letzter Tage auch in einigen nationalistischen Phrasen. Die Kulturtraditionen der deutschen Arbeiter sind weit eher das Kommunistische Manifest und Lassalles Arbeiterprogramm, die Kulturgemeinschaft mit dem Arbeiter im Reich stellten nicht Barbarossa und Bismarck, sondern Bebel und Liebknecht her. Alles, alles ist uns noch zu erobern. Und darin steht uns der tschechische, polnische, italienische Arbeiter gleich. Ja, wir sind gleichberechtigt, weil alle gleich rechtlos, wir sind gleichwertig, weil im heutigen Wirtschaftssieben in gleicher Weise gewertet – als Mietware. Wie vieles auch in den letzten Jahrzehnten besser geworden, es ist kaum ein Ansatz dessen, was wir brauchen. Und so ist die Notwendigkeit des gemeinsamen Kampfes in der Gemeinsamkeit der Not begründet und wird sich durchsetzen – gegen oder selbst durch die Separatisten.

Das ist der grosse gefährliche Fehler Leuthners: Wir haben Streit mit den tschechischen Separatisten zunächst in zwei Fragen: über die Gewerkschaften und Minoritätsschulen. Dieser konkrete, begrenzte Streit wird von ihm ausgeweitet und aufgebauscht und in ihn die Phraseologie und Argumentationsweise des Kampfes der Nationen auf der ganzen Linie hereingetragen, bis die gewaltige Masse der gemeinsamen Interessen verschwindet. So macht er den Fehler ganz, den die tschechischen Separatisten, wie wir hoffen, nur zum Teile machen.

Die deutschen Nationalisten suchen in Oesterreich ihren Staat, die tschechischen auch; die Deutschen meinen ihn darin zu besitzen, die Tschechen zu erobern. Es irren ja beide: Keiner hat ihn, keiner wird ihn allein haben – sie werden allezeit nur Mitbesitzer sein können, weil es nur ein internationaler Staat oder gar keiner sein kann. Die Deutschen konstruieren in Gesamtösterreich ihren Staat hinein, die Tschechen wollen ihn aus Gesamtösterreich herauskonstruieren, aus dem Ganzen herausschneiden. Das ist die spezifisch tschechische politische Methode bis auf die jüngste Zeit.

Warum sind wir mit den Separatisten in Streit? Diese politische Methode der Staatsgründung üben sie nicht einmal gegenüber dem Staat, wo sie sich mit der Mitregierung, mit dem gemischten Kabinett begnügen. Sie haben sie auf die Gewerkschaften angewendet, wo sie selbst die gemischte Kommission verwerfen. Sie tragen ihre Politik, ihr Staatsrecht in die Gewerkschaften und sagen, eine andere Ordnung sei unerträglich! Sie haben in Brünn politisch auf den Nationalitätenbundesstaat kompromittiert – aber in den Gewerkschaften halten sie den Nationalitätenbundesstaat für unmöglich, da sind sie Sonderbündler.

Der separatistische Unverstand schreit aus diesen Tatsachen. Gewerkschaften sind Vereinigungen zu einem einzigen konkreten Zwecke, wo die straffste Kampfdisziplin not tut, sie sind eine kämpfende Armee und können nicht achterlei Kommando haben. Also muss gerade dieses Gebiet von aller staatsrechtlichen Konstruktion frei bleiben. Wenn Hartmann gelegentlich sagt: Der Klassenkampf wird aber in Regimentern geführt, die eine eigene Regimentssprache haben, so hat er für den politischen Kampf ganz recht: Dort marschiert auch die Bourgeoisie in deutschen, tschechischen etc. Regimentern, will sagen Parteien auf, und dahier die Waffe das Wort ist, sind die Regimenter mit den verschiedenen Regimentssprachen schon hergestellt in unseren getrennten Parteiorganisationen. Wie steht es damit im Gewerkschaftskampf? Hier ist der Kampfboden die Werkstatt, die Branche, der Industriezweig und die Waffen sind hüben die arbeitenden Hände, drüben das Kapital. Hier kommt es auf die Zunge nicht an, sondern auf die Hand, auf den Geldsack. In einer Kürschnerwerkstatt in Wien arbeiten Deutsche, Tschechen und Polen zusammen – sie müssen ein Regiment sein. Schneider von Wien und Prossnitz arbeiten für einen Konfektionär – sie müssen ein Regiment sein oder sie sind ein in Auflösung begriffener Haufe und geschlagen vor der Schlacht.

Ich bin Föderalist durch und durch, bin für das Staatsrecht der Nation, auch der Deutschen in Oesterreich, ich finde dafür tausend Gründe – aber für Föderalismus und Staatsrecht in den Gewerkschaften finde ich auch nicht einen Grund. Was die Tschechen politisch wollen, müssen sie wollen – das will ich als Deutscher auch für die Deutschen: Staatsrechtliche Organisation und Konstitution der Nation. Nicht diese Willensrichtung ist ihnen vorzuwerfen, am wenigsten sind sie als bisher staatslose Nation deshalb zu höhnen. Aber was sie wollen, was sie auf dem Boden des Staates, bei der Regierung, von der deutschen Bourgeoisie nicht erreichen können, das wollen sie auf dem Boden der Gewerkschaft, das wollen sie von uns. Hier liegt die Unmöglichkeit, wie auch Leuthner konstatiert. Die Gewerkschaft ist als Objekt nicht imstande das zu leisten, und wir sind nicht im Besitze des Staates, um ihnen einen Staat zu konzedieren. Wir haben keine Kronen zu vergeben. Was wir auf diesem Boden vermögen, ist gemeinsam mit ihnen uns Brot und Arbeit zu sichern oder aber – getrennt geschlagen zu werden.

Die andere Frage, die uns trennt, betrifft die Minoritätsschulen, und hier machen die Separatisten gerne Hartmann zu ihrem Zielpunkt. Die Frage ist im Kampf ausführlich erörtert worden und neben vielen anderen hat auch Hartmann sich geäussert – er ist auch damals ziemlich einsam geblieben. In seinem Bericht über Innsbruck wiederholt er seine Auffassung: „Die proletarische Lösung könne nur die der allgemeinen Zweckmässigkeit sein. Einer solchen stünden die nationalen Minderheiten entgegen, wenn sie künstlich gegen die natürliche Assimilation geschützt werden. Diese Assimilation sei im Interesse der Majorität wie der Minoritäten. Hier in Wien werde man aus den leidigen Kämpfen nur herauskommen, wenn sich die tschechische Bevölkerung wenigstens in der zweiten Generation assimiliere etc.“

Hartmann ist Rationalist und glaubt an die allgemeine Zweckmässigkeit. Der Glaube ist alt. Auch Kaiser Josef hat daran geglaubt und in einem Erlass als heilsam für das Reich und jeden einzelnen hingestellt, wenn alle Bewohner Oesterreich-Ungarns Deutsche werden. Fatalerweise hatten die anderen eine andere Auffassung von der Zweckmässigkeit und haben recht behalten. Die allgemeine Zweckmässigkeit fordert auch Regen, wenn Dürre herrscht, und den nationalen Frieden, wenn die Völker aufeinanderschlagen. Mit mehr Recht führt jede Nation die spezielle Zweckmässigkeit der Volksschule an, die bezweckt, dass die Kinder in der Schule möglichst rasch und viel lernen, und das tun sie in der Muttersprache. Man sieht: Aus den Gründen der Zweckmässigkeit werden Menschen, die verschiedene Zwecke haben, sich nicht einigen.

Die Folgerung: Es soll regnen, da Dürre herrscht, ist die Logik der Bittprozession. Wir haben gelernt, dass Dürre und Regen, dass Regen nach der Dürre durch naturgesetzliche Notwendigkeit bestimmt sind, an der Gebete und Flüche nichts ändern. Es gibt Sozialisten, die auf die Assimilation fluchen wie Bauern über die Dürre – das sind die Separatisten; es gibt solche, die auf sie hoffen wie Bauern auf den Regen, – zu ihnen gehört Hartmann. Die Assimilation ist nicht geeignet als Parteiprogramm, ob man dafür oder dagegen ist. Sie vollzieht sich gesellschaftlich ohne und gegen den Willen der Betroffenen.

Hunderttausende Deutsche sind nach Amerika ausgewandert und anglikanisiert worden, obwohl sie drüben volle Schulfreiheit besassen. Selbst Eltern, welche mit allen Mitteln ihre Kinder beeinflussten, erlebten, dass diese Yankees wurden. Heute wandern zahlreiche Italiener, Polen, Slovaken hinüber und wollen Yankees werden, aber es gelingt ihnen nicht.

Die Assimilation ist, wenigstens nach meiner und Bauers Auffassung, ein gesellschaftlicher Naturprozess, der sich ohne menschlichen Eingriff vollzieht. Ein Naturprozess ähnlich jenem, der dem in Waldregionen versetzten Feldhasen eine dunkle, dem in Schneeregionen versetzten eine weisse Farbe gibt. Assimilation ist Umweltwirkung. Nur in diesem Sinne sprechen Bauer und ich von Assimilation und es wird den Lügenkünsten oder dem leichtfertigen Missverständnis der Separatisten uns in dieser wissenschaftlichen Auffassung zu erschüttern nicht gelingen.

Durch Gesetz und Verwaltung kann man die Assimilationstendenz verstärken oder schwächen, wenn auch mit sehr geringem Erfolge. Soweit dies geschieht, liegt Entnationalisierung vor, nicht mehr Assimilation. Die Entnationalisierungsbestrebungen Josefs II., der Franzosen in Elsass, der Preussen in Polen, der Magyaren in Ungarn sind gescheitert, die Yankees dagegen haben nie entnationalisiert und dennoch haben sich Millionen ihnen assimiliert. Die Entnationalisierung erweist sich als kostspieliges und vergebliches Unterfangen – ich kenne in der weiten Welt kein einziges sozialdemokratisches Programm oder Organ, das sich zur Entnationalisierungspolitik bekannte.

Zur Assimilation kann man sich nicht bekennen, ebensowenig als man Regen oder Dürre ins Programm aufnehmen kann. Man kann sie erforschen – das ist alles. Durch eine Reihe vorzüglicher Aufsätze aus allen Gebieten Oesterreichs sind wertvolle Forschungsergebnisse von uns veröffentlicht worden, die zeigen, dass die Assimilation vom Mischungsverhältnis, von der Klassenstruktur und Siedlungsweise der Einwanderer abhängt und dass, was die Schulstunden in der Kindheit dazutun oder wegnehmen können, nur wenig ist und in einigen Jahren verloren geht.

Sei dem wie immer. Bauer und ich haben aus dieser Ueberzeugung von jeher den Standpunkt vertreten, dass jeder obrigkeitliche Eingriff in die nationalen Verhältnisse vom Uebel ist. Von jeher haben wir das Recht des nationalen Bekenntnisses als Sache der persönlichen Freiheit, als sogenanntes individuelles Grundrecht behandelt. Eine andere Auffassung ist mit der notwendigen Freiheit des einzelnen und mit der sozialistischen Ideenwelt ganz unvereinbar. Es ist auch in Parteikreisen niemals dagegen Widerspruch erhoben worden, ich glaube dass auch Hartmann kaum protestieren kann. Da der Innsbrucker Parteitag übrigens die Minoritätsschulfrage gar nicht behandelt und Hartmann allein die Frage berührt und auch bloss gestreift hat, wird es allen Verdrehungskünsten der Separatisten nicht gelingen, das Bild dieser Tagung zu entstellen und in einen chauvinistischen Konvent umzulügen.

Nichts stand auf der Tagesordnung als die Gewerkschaftsorganisation und ihre Untergrabung durch den Separatismus samt den bösen Folgen der Untat, der Spaltung der tschechoslawischen Partei und samt dem guten Erfolge, der Anerkennung der tschechischen Partei. Wohl aber kam, insbesondere durch die markigen Worte Huebers, der Parteitag zum Bewusstsein des tiefen Zusammenhanges der proletarischen Politik mit der proletarischen Massenaktion in der Gewerkschaft, des Zusammenhanges zwischen den internationalen Aufgaben der Partei und dem internationalen Bestände der Gewerkschaftsbewegung: Auf die Dauer kann die politische Solidarität nicht ohne die ökonomische, die ökonomische nicht ohne die politische Solidarität der Arbeiter aller Nationen bestehen. Aus dieser Erkenntnis heraus, die die Kernfrage der Sozialdemokratie in Oesterreich erfasst, kam Hueber zur Forderung, der nächste Parteitag möge unser Nationalitätenprogramm beraten. Doch diese Rede Huebers führt uns über Innsbruck hinaus, führt uns dem nächsten Parteitag entgegen, ihre Besprechung wird die Vorberatung dieses Kongresses eröffnen. Die Reden Leuthners und Hartmanns, die den Rahmen der Beratung sprengten, können so als Dokumente dafür gelten, dass uns der Gewerkschaftsstreit dahindrängt, tiefer zu ackern und vor allem das seit Brünn (1899) brachliegende Feld unseres nationalen Programms neu. zu bestellen. Alle die ernsten Versuche, das im Verein mit den Tschechoslawen zu tun, sind an ihrer nationalistischen Konfusion gescheitert. Nun sind wir allein und frei, nicht nur gewerkschaftlich, sondern auch politisch ungebunden: Als Arbeiterschaft deutscher Nation in Oesterreich werden wir beschliessen und auch hierin wird unser Beschluss nicht nationalistisch, nicht separatistisch, sondern international im reinsten Sinne sein. Dafür bürgt die äussere Notwendigkeit und die innere Erziehung unserer proletarischen Massen.

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Anmerkungen

1. Etwa von den Worten „Jede Ideologie hat dauernd das Gepräge“ bis zu „Gegensatz gegen das Deutsche“.

2. Zum Beispiel: „Deutscher Knabe, gedenke dass du ein Deutscher bist!“ und ähnliche.


Zuletzt aktualisiert am 6. April 2024