N. Riasanoff

Der Achtstundentag und die alte Internationale

(1. Mai 1911)


Der Kampf, Jg. 4 8. Heft, 1. Mai 1911, S. 355–361.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


In keiner Gegenwartsforderung der Arbeiterklasse tritt der Klassenstandpunkt des Proletariats, sein prinzipieller Gegensatz zu der ganzen bürgerlichen Gesellschaft so scharf hervor, in keiner verschwinden so vollkommen alle nationalen Unterscheidungen wie in der Forderung des Achtstundentages. Auch historisch trägt sie von Anfang an einen internationalen Charakter.

Der Kampf um die Verkürzung des Arbeitstages beginnt zugleich mit der Entwicklung der Grossindustrie, die in ihrem grenzenlosen Heisshunger nach Profit alle moralischen und physischen Schranken des althergebrachten Arbeitstages über Bord wirft. Zuerst wurde dieser Kampf in England, dem Mutterland der kapitalistischen Grossindustrie, begonnen. Den englischen Arbeitern, in dieser Beziehung den wahren Preisfechtern der modernen Arbeiterklasse, ist es endlich gelungen, die Regelung des Arbeitstages durchzuführen. Im Anfang kämpften die Arbeiter einer Fabrik, dann die Arbeiter eines Arbeitszweiges in einer Gegend. Endlich zentralisierten sich diese lokalen Kämpfe zu einem nationalen, zu einem Klassenkampf innerhalb des ganzen Landes. „Nach einem dreissigjährigen, mit der bewunderungswertesten Ausdauer geführten Kampfe setzte die englische Arbeiterklasse, indem sie eine flüchtige Spaltung zwischen der Aristokratie des Grundbesitzes und des Geldes ausnutzte, die Zehnstundenbill durch. Die bedeutenden physischen, moralischen und intellektuellen Vorteile, die hieraus den Fabriksarbeitern erwuchsen und in den halbjährlichen Berichten der Fabriksinspektoren chronologisch verzeichnet werden, sind jetzt allseitig anerkannt ... Dieser Kampf für die gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit wütete um so heftiger, als er nicht bloss ein Schrecken für die Habsucht war, sondern auch ein direkter Eingriff in den grossen Kampf zwischen der blinden Regel der Gesetze von Angebot und Nachfrage, welche die politische Oekonomie der Bourgeoisie ausmachen, und der durch soziale Fürsorge geregelten sozialen Produktion, dem Inbegriff der politischen Oekonomie der Arbeiterklasse. Und deshalb war die Zehnstundenbill nicht bloss ein grosser praktischer Erfolg, sie war der Sieg eines Prinzips: Zum erstenmal am hellen, lichten Tag unterlag die politische Oekonomie der Bourgeoisie der politischen Oekonomie der Arbeiterklasse.“ Aber schon Anfang der Sechzigerjahre wurde es klar, dass der Kampf um eine weitere Verkürzung des Arbeitstages, die notwendig geworden ist, nur dann auf einen Erfolg rechnen kann, wenn der kürzere Arbeitstag das Gemeingut des gesamten europäischen Proletariats wird, wenn er im internationalen Massstabe durchgekämpft und durchgeführt wird. Diese Erkenntnis war unter anderem eine der Hauptursachen, die zur Gründung der Internationalen Arbeiterassoziation geführt haben.

Den mächtigsten Anstoss gab die grosse Streikbewegung Ende der 1850er und Anfang der 1860er Jahre. Ebenso wie der grandiose Streik der Kohlenarbeiter von Staffordshire im Jahre 1842, der dank dem Einfluss und der Agitation der Chartisten den grössten Teil von England und Schottland erfasste, die Zehnstundenbill vorbereitete, so sind die gewaltigen Bauarbeiterstreiks der Jahre 1859 bis 1861 der Ausgangspunkt der Neunstundentagbewegung.

Zu jener Zeit veröffentlichte das Streikkomitee eine Erklärung, die klar und präzis, frei von jeder Sentimentalität, die Begründung des Kampfes um die Verkürzung des Arbeitstages gab. Im Kapital finden wir diese Erklärung in der Form eines Dialogs zwischen dem Kapitalisten und dem Arbeiter. Marx sagt, dass das Plädoyer des Arbeiters halb und halb auf diese Erklärung hinausläuft. Hören wir also diese Aussprache des Arbeiters, die noch jetzt als ein vortreffliches Agitationsmittel dienen kann:

„Die Ware, die ich dir verkauft habe, unterscheidet sich von dem anderen Warenpöbel dadurch, dass ihr Gebrauch Wert schafft und grösseren Wert, als sie selbst kostet. Dies war der Grund, warum du sie kauftest. Was auf deiner Seite als Verwertung von Kapital erscheint, ist auf meiner Seite überschüssige Verausgabung von Arbeitskraft. Du und ich kennen auf dem Marktplatz nur ein Gesetz, das des Warenaustausches. Auch der Konsum der Ware gehört nicht dem Verkäufer, der sie veräussert, sondern dem Käufer, der sie erwirbt. Dir gehört daher der Gebrauch meiner täglichen Arbeitskraft. Aber vermittels ihres täglichen Verkaufspreises muss ich sie täglich reproduzieren und daher von neuem verkaufen können. Abgesehen von dem natürlichen Verschleiss durch Alter u. s. w. muss ich fähig sein, morgen mit demselben Normalzustand von Kraft, Gesundheit und Frische zu arbeiten wie heute. Du predigst mir beständig das Evangelium der „Sparsamkeit“ und „Enthaltung“. Nun gut! Ich will wie ein vernünftiger, sparsamer Wirt mein einziges Vermögen, die Arbeitskraft, haushalten und mich jeder tollen Verschwendung derselben enthalten. Ich will täglich nur so viel von ihr flüssig machen, in Bewegung, in Arbeit umsetzen, als sich mit ihrer Normaldauer und gesunden Entwicklung verträgt. Durch masslose Verlängerung des Arbeitstages kannst du in einem Tage ein grösseres Quantum meiner Arbeitskraft flüssig machen, als ich in drei Tagen ersetzen kann. Was du so an Arbeit gewinnst, verliere ich an Arbeitssubstanz. Die Benützung meiner Arbeitskraft und die Beraubung derselben sind ganz verschiedene Dinge. Wenn die Durchschnittsperiode, die ein Durchschnittsarbeiter bei vernünftigem Arbeitsmass leben kann, 30 Jahre beträgt, ist der Wert meiner Arbeitskraft, den du mir einen Tag in den anderen zahlst, 1/365×30 oder 1/10960 ihres Gesamtwertes. Konsumierst du sie aber in 10 Jahren, so zahlst du mir täglich 1/10960 statt 1/3650 ihres Gesamtwertes, also nur ⅓ ihres Tageswertes, und stiehlst mir daher täglich ⅔ des Wertes meiner Ware. Du zahlt mir eintägige Arbeitskraft, wo du dreitägige verbrauchst. Das ist wider unseren Vertrag und das Gesetz des Warenaustausches. Ich verlange also einen Arbeitstag von normaler Länge und ich verlange ihn ohne Appell an dein Herz, denn in Geldsachen hört die Gemütlichkeit auf. Du magst ein Musterbürger sein, vielleicht Mitglied des Vereines zur Abschaffung der Tierquälerei und obendrein im Geruch der Heiligkeit stehen, aber dem Ding, das du mir gegenüber repräsentierst, schlägt kein Herz in seiner Brust. Was darin zu pochen scheint, ist mein eigener Herzschlag. Ich verlange den Normalarbeitstag, weil ich den Wert meiner Ware verlange wie jeder andere Verkäufer.“

Der Streik, der viele Wochen dauerte, endete mit dem Sieg der Arbeiter. In den Londoner Baugewerben wurde ein Normalarbeitstag fixiert (9½ Stunden), der später noch mehr herabgesetzt worden war.

Wir müssen uns vergegenwärtigen die Zeit der Reaktion, die nach 1848 einsetzte, um den grossen Eindruck zu begreifen, den diese Streikbewegung nicht nur in England, sondern auch auf dem Kontinent hervorgerufen hat. Sie war ein Beweis, dass der Zustand der Apathie, in dem sich zusammen mit den kontinentalen Arbeitern auch die englischen befanden, aufzuhören begann. War doch im Jahre 1858, vor nicht mehr als einigen Monaten, im Kampfe mit dem Indifferentismus der Arbeiter das People’s Paper (Volkszeitung) eingegangen, das von dem talentvollen Publizisten und Redner des Chartismus in den Fünfzigerjahren, Ernest Jones, mit Hilfe von Marx und seiner Freunde herausgegeben wurde. Wenn man von dem „Tode“ des Chartismus reden kann, so ist es das Jahr 1855, wo er scheinbar für immer vom politischen Schauplätze verschwunden ist.

Diese Streikbewegung gab wieder der englischen Arbeiterklasse die führende Rolle in der europäischen Arbeiterbewegung zurück, die sie nach der Niederlage des Chartismus verloren hatte. Sie hat neues Leben in die Gewerkschaftsbewegung hineingebracht, sie hat neue Führer der Gewerkschaftsbewegung in den Vordergrund gestellt, Applegarth, Cremer, Odger, die in engem persönlichen Kontakt mit alten Mitgliedern des Kommunistenbundes, mit Lessner und Eccarius, standen. Aus dieser Bewegung ist eigentlich der Londoner Trades Council hervorgegangen, der sich an der Spitze der gesamten englischen Arbeiterbewegung der Sechzigerjahre befand; in ihm haben die deutschen Arbeiter von Anfang an eine bedeutende Rolle gespielt. Während dieser Streikbewegung wurden die Beziehungen mit den Pariser Arbeitern wieder angeknüpft. Diese Bewegung rief lebhaftes Interesse der Pariser und Berliner Arbeiter an der Londoner Weltausstellung hervor, das in der Sendung von Arbeiterdelegationen zum Ausdruck kam. In Verbindung mit dem politischen Aufschwung der Sechzigerjahre, der durch die Krise des Jahres 1857/58 eingeleitet war und durch eine Reihe von wichtigen politischen Ereignissen genährt wurde – durch den Kampf der Nordstaaten der Union gegen die Negersklaverei und den von ihm verursachten Baumwollhunger, der die Textilindustrie nicht nur Englands, sondern auch des europäischen Kontinents lahmlegte, den Italienischen Krieg 1859 und den Zug Garibaldis nach Neapel, den Aufstand in Polen – hat diese Streikbewegung den Boden vorbereitet, auf dem die Internationale Arbeiterassoziation emporgewachsen ist und sich so schnell entwickelte.

Es war auch kein Zufall, dass es eben Marx war, der der neuen Bewegung ein Programm und Organisationsstatut gegeben hat. Ohne Marx und die anderen deutschen Kommunisten hätte der neue Versuch einer internationalen Vereinigung eben so plötzlich und schnell geendet, wie die früheren Versuche der französischen Republikaner und Sozialisten in den Fünfzigerjahren. Marx war es, der sich am eifrigsten bemühte, um den Arbeitern des europäischen Kontinents und den amerikanischen Arbeitern die Bedeutung des Kampfes um die Verkürzung der Arbeitszeit klarzumachen, der die theoretische Begründung dieses Kampfes im Gegensatz zu der bürgerlichen Oekonomie und dem Proudhonismus, die feindlich oder verständnislos diesem Kampf gegenüberstanden, in seinen Vorträgen und Schriften gab. Mit nie ermüdender Aufmerksamkeit verfolgte er diese neue Wiedergeburt der englischen Arbeiterbewegung, nicht nur indirekt – durch Lessner und Eccarius – stand er in Zusammenhang mit den jungen Führern des neuen Trade-Unionismus; auch persönlich war er mit den meisten von ihnen bekannt, noch bevor die Internationale Assoziation am 28. September 1864 gegründet war.

Zwei Jahre rastloser Tätigkeit vergingen, ehe es Marx und seinen Kollegen gelungen ist, den ersten Kongress der Internationale einzuberufen. In der Inauguraladresse und in der Denkschrift des Generalrats für den Genfer Kongress hat Marx in bisher noch nicht übertroffener Weise alle wirklich revolutionären, aus dem Klassenkampf selbst entspringenden Forderungen der Arbeiterklasse formuliert. Insbesondere in der Denkschrift behandelt er sie ausführlich, er befürwortet unter anderem die Veranstaltung einer internationalen Arbeitsstatistik, Beschränkung der Kinderarbeit und Einführung eines rationellen Schulunterrichts, Organisation der Gewerkschaften u. s. w. Wir geben hier nur den Passus wieder, mit dem Marx die Forderung der gesetzlichen Verkürzung der Arbeitszeit und die Bedeutung eines Normalarbeitstages begründet:

„Wir betrachten die Beschränkung der Arbeitszeit als eine Vorbedingung, ohne die sich alle weiteren Versuche zur Verbesserung und Befreiung fruchtlos erweisen werden. Sie ist nötig, um die körperliche Energie und Gesundheit der Arbeiterklasse wiederherzustellen, das heisst des grossen Körpers jeder Nation. Sie ist nicht weniger nötig, um den Arbeitern die Möglichkeit geistiger Entwicklung, gesellschaftlichen Umgang, soziale und politische Tätigkeit zuruckzugeben.

Wir schlagen vor, dass acht Stunden die gesetzliche Grenze des Arbeitstages bilden. Diese Beschränkung wird bereits allgemein verlangt von den Arbeitern der Vereinigten Staaten Amerikas und die Stimme des Kongresses wird sie zur allgemeinen Fahne der Arbeiterklasse der Welt erheben.

Zur Nachricht der Mitglieder auf dem Kontinent, deren Erfahrungen in der Fabriksgesetzgebung von kürzerer Dauer sind wie die der britischen Arbeiter, fügen wir hinzu, dass irgend ein Gesetz für die Beschränkung der Arbeitszeit sich fruchtlos erweisen und von den Vertragschliessenden verletzt werden wird, wenn die Tageszeiten, zwischen denen die acht Arbeitsstunden liegen müssen, nicht bestimmt sind. Die Länge jener Periode muss sich beschränken auf die acht Stunden Arbeit und auf die Unterbrechungen für Mahlzeiten. Zum Beispiel wenn die verschiedenen Unterbrechungen für Mahlzeiten eine Stunde betragen, so muss die gesetzliche Periode des Tages auf neun Stunden festgesetzt werden, sage von 7 Uhr morgens bis 4 Uhr abends, oder von 8 Uhr morgens bis 5 Uhr abends u. s. w.

Nachtarbeit ist nur ausnahmsweise zu erlauben in solchen Geschäften oder Zweigen von Geschäften, die von der Gesetzgebung ausdrücklich angeführt werden; die Tendenz muss sein, alle Nachtarbeit zu beseitigen.

Diese Beschränkung der Arbeitsstunden bezieht sich bloss auf volljährige Leute, Männer und Weiber; letztere jedoch sind mit aller möglichen Strenge von aller Nachtarbeit auszuschliessen und jeder Sorte von Arbeit, in der der Anstand zwischen beiden Geschlechtern verletzt wird oder ihr Körper giftigen oder in sonstiger Weise verderblichen Wirkungen ausgesetzt sind.

Wir schlagen vor, unter volljährig alle Personen zu verstehen, welche das 18. Lebensjahr erreicht oder überschritten haben.“

Marx’ Befürchtunge haben sich vollends bestätigt [1]: den Delegierten aus den Ländern des Kontinents schien die Forderung eines Achtstundentages zu weit zu gehen, utopisch, schwer durchzusetzen in den zurückgebliebenen Verhältnissen des Kapitalismus Deutschlands, Frankreichs, der Schweiz und den anderen Ländern des Kontinents. Einige Delegierte glaubten sogar, dass nach Annahme der Resolution kein Mitglied der Assoziation eine Arbeitsstelle mit mehr als acht Stunden Arbeitszeit annehmen dürfte.

Die französische Delegation hat die folgende Resolution vorgeschlagen: in den gegebenen Verhältnissen ist der zehnstündige Arbeitstag vollends ausreichend, um alles, was für das Leben notwendig ist, zu sichern. Und es ist viel wichtiger, ein Minimum des Arbeitslohnes festzustellen, das genügend ist, um die Dienste zu entlohnen, die das Individuum der Gesellschaft erweist.

Wie es zu erwarten war, haben diese Argumente den stärksten Widerstand bei den Delegierten des Generalrats gefunden.

Odger, der Vorsitzende des Generalrates, verteidigte mit Energie und Geschick den Vorschlag des Generalrates. Er sagte:

„Es ist schwer, ein Lohnminimum zu bestimmen, aber vor der Verminderung der Arbeitszeit auf acht Stunden dürfen wir keinen Anstand nehmen. Acht Stunden Arbeit sind mehr als genügend, um alle Lebensbedürfnisse des Arbeiters zu bezahlen und um seinen Anteil in der gesellschaftlichen Produktion zu bestimmen. Vergessen Sie nicht, dass Robert Owen, der berühmte Kommunist, schon längst, an der Hand der Tatsachen, bewiesen hat, dass, wenn jedes Mitglied der Gesellschaft seinen Teil der Arbeit macht, würden drei Stunden Arbeitszeit zur Erzeugung des ganzen gesellschaftlichen Reichtums genügen. Seit Owen hat die Technik gewaltige Fortschritte gemacht, die gesellschaftliche Entwicklung hat die Tendenz, die menschliche Arbeit noch weiter zu verkürzen. Bis jetzt haben sich die Arbeiter, die höhere Löhne bekommen, wenig um das Schicksal der anderen bekümmert. In der Zukunft müssen wir das Gegenteil tun. Es ist hauptsächlich das Los der Arbeiter von geringen Löhnen und längster Arbeitszeit, womit wir uns befassen, um die Solidarität unter allen zustandebringen zu müssen. Eben deshalb muss die Verminderung des Arbeitstages als Standarte der Arbeiter der ganzen Welt aufgenommen sein.“

Cremer, der Sekretär des Generalrates, sprach sich im gleichen Sinne aus:

„Wir müssen auf das energischeste den Achtstundentag fordern. In Nordamerika haben wir jetzt eine grosse Bewegung in den Reihen der Arbeiterklasse für die achtstündige Arbeitszeit. Die Aufmerksamkeit des amerikanischen Proletariats ist auf unsere Assoziation aus dem Hauptgründe gelenkt, dass die Arbeiter jenseits des Atlantischen Ozeans überzeugt sind, dass wir sie in ihrem Kampfe unterstützen werden. Wir haben kein Recht, sie zu verlassen, indem wir weniger als sie fordern. Uebrigens je mehr wir fordern, desto mehr bekommen wir. In der letzten Zeit haben die Bauarbeiter gestreikt, um eine Verkürzung der Arbeitszeit durchzusetzen, um statt der jetzt gesetzlichen zehn Stunden nur neun zu arbeiten und man hat 9½ erlangt. Hätte man acht Stunden verlangt, so hätte man wohl schon jetzt neun Stunden erhalten. Es sei deshalb notwendig, dass der Achtstundentag die Losung der Arbeiterklasse aller Länder werde.“

Johann Philipp Becker erklärte im Namen der deutschen und deutsch-schweizerischen Delegation, dass die Achtstundenarbeitszeit schon längst und in motivierter Weise auf ihrem Programm stünde, dass sie aber, um die Verhandlungen nicht unnütz, besonders wegen der dadurch notwendigen Verdolmetschung in verschiedene Sprachen, zu verlängern, auf dessen Verlesung Verzicht leisteten und sich völlig dem Vorschlag des Generalrates anschlössen. Der Magdeburger Delegierte, Bütter, wollte zusammen mit den französischen beweisen, dass der Zehnstundentag viel mehr den Verhältnissen der deutschen Industrie entspricht, dass es besser ist, den Unternehmern zu überlassen, die Zeit zu bestimmen, wann es möglich wird, den Achtstundentag einzuführen. Uebrigens war auch er bereit – zwar nur im Prinzip – die Wünschbarkeit eines kürzeren Arbeitstages anzuerkennen.

Am energischesten hat sich gegen die Resolution des Generalrates der Pariser Delegierte Fribourg gewendet. Im Namen der französischen Delegation erklärte er, dass sie gar nicht eine dermassen bedeutende Verkürzung fordern. Es ist nur wichtig, dass die Arbeit keinen schädlichen Einfluss auf die naturgemässe Entwicklung der Fähigkeiten und Neigungen der Arbeiter ausübt. Eine bestimmte Regel in dieser Frage sei eine Sache der Unmöglichkeit.

Und da verschiedene Delegierte trotzdem noch einige Bedenken äusserten, weil sie glaubten, dass ein Achtstundentag nicht durchführbar ist, nahm Odger wieder das Wort, er zeigte, in welch haarsträubender Weise die Arbeitskraft früher von den Fabrikanten missbraucht wurde. Er hob mahnend hervor, dass, wenn die europäischen Arbeiter, auf jede geistige Entwicklung verzichtend, sich die Barbarei einer längeren Arbeitszeit gefallen liessen, die Arbeiter Nordamerikas jede Gemeinschaft mit ihnen ablehnen müssten und wohl darauf bedacht sein würden, einen erhöhten Eingangszoll gegen die Konkurrenz der Produkte der weissen Sklaverei zu erwirken. Im Namen der Eintracht und Solidarität müsse man die acht Stunden als Prinzip annehmen.

Es nahmen noch einige Delegierte das Wort, unter anderen Karl Bürkli, der scharf die Missstände in den grossen Industriebezirken der Schweiz tadelte und entschieden auf Annahme des Vorschlages des Generalrates drang.

Nach diesen Erörterungen hat auch die französische Delegation nachgegeben und den Achtstundentag im Prinzip angenommen. Sie hat in diesem Sinne eine Resolution vorgeschlagen, die in den ersten zwei Punkten jede Arbeitsverlängerung, welche den Menschen an der Entwicklung seiner Fähigkeiten hindert, als natur- und sozialwidrig verdammt und die Arbeitszeit von acht Stunden für hinreichend erklärt, und in dem dritten ein Minimum des Arbeitslohnes empfiehlt.

Die Resolution des Generalrates wurde dann mit der französischen einstimmig angenommen. Die Forderung des Achtstundentages ist das gemeinsame Programm der Arbeiterklassen aller Länder geworden.

Kaum zwei Wochen vor dem Genfer Kongress fand auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans, in Baltimore, der Kongress der Nationalen Arbeiterunion statt. Wie der europäische behandelte er die Gewerkvereine, die Streiks, die Frauen- und Kinderarbeit u.&mbsp;s. w. Obwohl nicht so streng wissenschaftlich und präzis als die Resolution der Internationale stimmten seine Resolutionen mit ihnen im wesentlichen überein. Insbesondere frappant ist die Aehnlichkeit in der Frage der Verkürzung der Arbeitszeit. Der Arbeiterkongress zu Baltimore (16. August 1866) erklärte:

„Das erste und grosse Erheischnis der Gegenwart, um die Arbeit dieses Landes von der kapitalistischen Sklaverei zu befreien, ist der Erlass eines Gesetzes, wodurch acht Stunden den Normalarbeitstag in allen Staaten der amerikanischen Union bilden sollen. Wir sind entschlossen, alle unsere Macht aufzubieten, bis dies glorreiche Resultat erreicht ist.“

„Die Aehniichkeit der Vorgänge auf den beiden Kongressen – sagt der Geschichtschreiber des Sozialismus in den Vereinigten Staaten, Genosse M. Hillquitt – kann nur durch die Aehniichkeit der Lage der Arbeiter auf beiden Seiten des Ozeans erklärt werden; sonst bestand damals nur geringe Verbindung zwischen den beiden Körperschaften.“

Das erste trifft zu, das zweite nicht. Wie aus dem Briefwechsel und den Protokollen des Generalrates zu ersehen ist, befand sich schon damals ein Bevollmächtigter des Generalrates in den Vereinigten Staaten. Peter Fox, eines der rührigsten Mitglieder des Generalrates in den Jahren 1864 bis 1866, war ein amerikanischer Bürger und Sekretär für Amerika, Marx selbst, wie auch Eccarius, unterhielten einen regen Briefwechsel mit verschiedenen einflussreichen amerikanischen Arbeitern. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die Verhandlungen der Londoner Konferenz (1865), die das Programm des Genfer Kongresses vorbereitet hat, den Amerikanern bekannt waren.

Wie dem auch sei, ob die Resolutionen beider Kongresse nur auf einer natürlichen Uebereinstimmung der Ansichten oder auch auf einer Art von, Verabredung beruhen, es geschah beinahe gleichzeitig auf beiden Seiten des Atlantischen Ozeans, in dem jungen Amerika, das eben erst der schwarzen Sklaverei den Todesstoss versetzte, und in dem alten Europa, wo die weissen Lohnsklaven sich zu ihrem Emanzipationskampf rüsteten, dass „an die Stelle des prunkvollen Katalogs der unveräusserlichen Menschenrechte“ die Magna charta eines gesetzlich beschränkten Arbeitstages, die Forderung des Achtstundentages proklamiert wurde!

Anfang der Siebzigerjahre ging die alte Internationale, nachdem sie beinahe zehn Jahre der Sammelpunkt der europäischen und der amerikanischen Arbeiterbewegung war, zu Ende. Aber ihr Tod war nur scheinbar. Statt zu sterben, ist sie aus ihrer ersten Periode, wo der theoretische Charakter der Arbeiterbewegung noch sehr unklar war, wo statt internationaler Arbeiterparteien meistens nur Sektionen der Internationale existierten, in eine höhere getreten, in der ihre Prinzipien bald wieder aufgepflanzt wurden. Wenn nach dem Deutsch-Französischen Krieg und der Niederlage der Kommune kaum mehr als zehn Jahre erforderlich waren, um aus der europäischen Arbeiterbewegung eine noch viel stärkere Macht zu machen, einen Faktor, der die moderne Geschichte beherrscht, so war es das gewaltige Propagandawerk der alten Internationale, das den neuen Aufschwung vorbereitete.

Als die neue Internationale im Jahre 1889 auf dem internationalen Kongress zu Paris eine Heerschau ihrer Kräfte hielt und neue Waffen für den Emanzipationskampf des Proletariats schmiedete, war es wieder die Forderung des Achtstundentages, die auf den Schild erhoben wurde und durch die Maidemonstration unterstützt wurde.

Seitdem ist die Forderung des Achtstundentages in Fleisch und Blut des internationalen Proletariats übergegangen. Nicht nur im parlamentarischen Kampfe der politischen Organisationen der Arbeiterklasse um die weitere Ausgestaltung der Arbeiterschutzgesetzgebung, sondern auch in dem unaufhörlichen Kampfe der wirtschaftlichen Organisationen der Arbeiterklasse, der Gewerkschaften, steht der Kampf um die weitere Verkürzung der Arbeitszeit in der allerersten Linie.

In 45 Jahren, die seit dem ersten Kongress der Internationale zu Genf verflossen sind, hat der Kapitalismus gewaltige Fortschritte gemacht. Die Maschinerie ist jetzt in alle Produktionszweige eingedrungen. Sie hat auch die Landwirtschaft erobert. Die Intensität der Arbeit ist ins Masslose gestiegen. Raffinierteste Methoden werden angewandt, um aus der menschlichen Arbeitskraft das grösstmögliche Quantum der Mehrarbeit auszupressen. So ist jetzt in der Entwicklung des Kapitalismus wieder ein Wendepunkt eingetreten, in dem eine allgemeine Verkürzung der Arbeitsstunden – auch im internationalen Massstabe – unvermeidlich wird, wo sie nicht mehr eine moralische und soziale Forderung wird, sondern die unumgängliche Vorausbedingung alles weiteren technischen Fortschritts bilden wird. Es drängt sich schon jetzt die Frage auf, ob schon der Achtstundentag eine nicht übermässige Arbeitsleistung der Arbeiter fordert. Gibt es doch schon Produktionszweige, in denen die Arbeitszeit auf 7 und 6½ Stunden reduziert ist.

So ist die Forderung des Achtstundentages, die, als sie von der Internationale vor 45 Jahren aufgestellt ward, noch als „utopisch“ verschrien wurde, jetzt eine Minimalforderung geworden. Nur ein Arbeitstag, der höchstens acht Stunden beträgt, kann den Arbeitern ihr „Recht auf Faulheit“ sichern, auf einige Stunden Zeit zu menschlicher Bildung, zu geistiger Entwicklung, zur Erfüllung sozialer Funktionen, zum freien Spiel der physischen und geistigen Lebenskräfte. Nur durch den Achtstundentag wird das Proletariat instand gesetzt, seine Klassenorganisation vollends zu entwickeln und ieine Gesellschaft ins Leben zu rufen, wo es keine Klassen geben wird, wo die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist!

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Anmerkung

1. Wir haben ausser den Berichten im Vorbote 1866 und Internationale Courier 1867 auch das handschriftliche Protokoll des Genfer Kongresses in französischer und deutscher Sprache und die Protokolle des Generalrates vom Oktober 1864 bis September 1866 benützt.


Zuletzt aktualisiert am 18. Dezember 2023