Otto Rühle

Die Grundlagen der Ehe

(15. Februar 1925)


Aus: Die Aktion, 15. Jg, Heft 2/3, 15. Februar 1925, S. 93-6.
Transkription u. HTML-Markierung: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.


 

Untersuchen wir die Ehe der privatwirtschaftlichen Epoche, an deren Ausgang wir heute stehen, auf ihre soziologischen und psychologischen Grundlagen, so gelangen wir zu einer Reihe recht interessanter Feststellungen, die hier übersichtlich zusammengefaßt werden sollen. Es geschieht dies in der Absicht, einen Mechanismus aufzudecken, der von der bürgerlichen Gesellschaft mit Geflissentlichkeit und Geschick unter ideologischer Verhüllung gehalten wird — einer Verhüllung, der auch weite proletarische Schichten in naiver Gutgläubigkeit und kleinbürgerlicher Sentimentalität zum Opfer fallen.

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Die heutige Einehe hat zur Voraussetzung und zum Anlaß ihrer Entstehung das Privateigentum. Der Mann, Privateigentümer geworden, kaufte sich eine Privatfrau und sicherte sich seine Besitzrechte durch einen Privatvertrag. Die Frau wurde daraufhin sein Privateigentum, das er nach Belieben benutzen, verleihen, verschenken, verspielen, verkaufen konnte.

Es war nicht die Sexualität, die den Mann zur Ehe trieb. In der Sippe, wo das Gemeinschaftsprinzip seine Geltung auch auf das Gebiet des Geschlechtsverkehrs — mehr oder weniger modifiziert — ausstrahlte, standen ihm Frauen genug zu Gebote. Der Mann brauchte Kinder. Kinder, die sein Eigentum waren und seinen Privatbesitz erben sollten. Bisher hatte immer nur die Mutter Kinder gehabt. Die Kinder hatten ihren Namen getragen, nach ihrer Sippe, der sie zugehörten, geerbt. Jetzt verlangte auch der Vater Kinder. Er wollte seiner Vaterschaft gewiß sein, um der Vererbbarkeit seines Privateigentums gewiß sein zu können. Denn der Sinn des Privateigentums war, — mochte er ihm zum Bewußtsein kommen oder nicht — daß es erhalten blieb, weil seine Existenz einen allgemeinen sozialökonomischen Entwicklungsfortschritt bedeutete.

Um Kinder zu bekommen, die seine Kinder waren, mußte der Mann eine Frau haben, die, indem er sie dem allgemeinen Geschlechtsumgange entzog, seine alleinige Frau war. Ob er selbst noch mit anderen Frauen Sexualverkehr hatte, war gleichgültig, sobald dafür Sorge getragen war, daß nur die Kinder der Privatfrau, der gesetzlich, rechtlich, offiziell annerkannten Frau Erbrecht besaßen. Damit war die Einehe geschaffen, wenigstens für die Frau — und für diese allein besteht sie auch heute noch. Sie wird bestehen, solange es Privateigentum und Erbfolge in seinem Sinne gibt. Das ist die erste soziologische Voraussetzung und Grundlage der heutigen Ehe.

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Die zweite ergibt sich aus dem sozialökonomischen Interesse, das die Frau an der Einehe hatte.

Auch bei ihr war es nicht Liebe oder Sexualität, die zur Ehe führten. In der Sippe war sie sexuell durchaus auf ihre Rechnung gekommen, denn ein mehr oder weniger großer Kreis von Männern stand ihr zur Verfügung. Und war sie Mutter geworden, hatte sie in der Gemeinschaft materielle Versorgung für sich und das Kind gefunden.

Aber die Gemeinschaft zerfiel, das Privateigentum sprengte die alte Kommune. Damit verlor auch die Frau im Falle der Mutterschaft ihren Rückhalt. Sie brauchte in der Zeit der Arbeitsunfähigkeit und erhöhten Schutzbedürftigkeit eine ökonomische Sicherstellung. Diese konnte nur der Mann geben, der Privateigentümer geworden war. Ein Gemeinschaftsverband bestand nicht mehr; der Staat, der an die Stelle der Sippe getreten war, trug den Charakter eines Herrschaftsapparats, keines Versorgungsapparats. So mußte sich die Frau an den Einzelmann halten, eine

Einzelehe eingehen, eine Einzelfamilie bilden helfen. Für den Vorteil materieller Versorgung zahlte sie den Kaufpreis sexueller Unterwerfung. Denn die Sexualität war, obwohl nicht Voraussetzung der Ehe, so doch bald wichtiger Bestandteil ihres Wesens, lebenswichtige Funktion, infolge des Umstandes, daß der Mann Kinder als Erben brauchte.

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Zu den soziologischen Grundtatsachen der Ehe treten zwei psychologische, die, wenngleich sie sich auf beide Ehepartner beziehen, abzuleiten sind aus der Rolle, die der Mann als Kulturrepräsentant im Zeitalter der Privatwirtschaft spielt.

Der Mann als Privateigentümer wurde Organisator, Verwalter, Kommandeur der gesamten kulturellen Sicherungsmaschinerie, die sich in Staat, Gesetzgebung, Kriegführung, Herrschaft, Religion, Moral usw. funktionell äußerte und psychologisch als Machtstreben manifestierte. Der Mann wurde Machthaber. Sein Geltungsbedürfnis nahm zu. Alle seine Leistungen verfolgten unbewußt das Ziel, sich stets von neuem die Überlegenheit zu beweisen. Die Überlegenheit über das andere Geschlecht.

Auf einem Gebiet freilich ist das weibliche Geschlecht dem männlichen über: auf dem der sexuellen Leistungsfähigkeit. Zufolge ihrer physiologischen Beschaffenheit und ihrer passiven Rolle beim Sexualakt vermag die Frau eine größere Anzahl von Beilagern zu bestehen, als der anders gebaute und auf Aktivität eingestellte Mann. Die Minderleistung und Minderleistungsfähigkeit hat sich in der Psyche des Mannes in ein Minderwertigkeitsgefühl umgesetzt. Die moderne psychologische Forschung hat uns bisher ungeahnte Aufschlüsse darüber vermittelt, welch gewaltige Rolle das Minderwertigkeitsgefühl der Menschen als Ansporn und Antrieb zu Ausgleichsleistungen, zu Kompensationen, in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit gespielt hat und noch spielt.

Weil der Mann seelisch nicht ertrug, daß die Frau ihm sexuell überlegen war, eine gesteigerte Konkurrenz mit ihr auch keine Aussicht auf Sieg hatte, half er sich durch einen beliebten Trick: er verschob den Kampfplatz, überbot die sexuelle Vormachtstellung der Frau durch sein sozialökonomisches Übergewicht und entwertete die Sexualität im öffentlich-kulturellen Bewußtsein. Das Mittel hierzu war ihm die Ehe.

Mit dem ganzen Gewicht der maskulinen Kultur im Hintergrunde war der Mann in der Ehe zunächst Oberhaupt, Autorität, Potentat. Das tat seinem Ehrgeiz, seiner Eitelkeit, seinem Geltungsbedürfnis wohl. Sodann machte er sein Sexualbedürfnis zum Maßstabe des Sexualverkehrs. Die Frau hatte sich den Sexualwünschen des Mannes unterzuordnen, diente nur als Mittel, als Gefäß. Ihre selbständige Sexualpersönlichkeit wurde ausgelöscht. Da sie wirtschaftlich vom Manne abhängig und sozial ihm unterworfen war, mußte sie sich in die unwürdige Rolle fügen; aber seelisch protestierte sie dagegen mit der Abwehrwaffe sexueller Empfindungslosigkeit.

Nicht genug, daß der Mann Herr im Hause und im Ehebett war, er mußte auch, wollte er seines Triumphes ganz sicher sein, die Sexualität entwerten. Je niedriger er sie einschätzte, desto weniger konnte die Frau sich auf ihre sexuelle Überlegenheit ihm gegenüber stützen. Er ließ es sich in der Tat etwas kosten, die Sexualität in einen Mist zu verwandeln. Sie wurde tierische Lust, viehische Begierde, Sünde, Schweinerei, Teufelswerk. Die ganze Ideologie wurde durch diese Verzerrung, Verfälschung und Besudelung der Sexualität für Jahrtausende vergiftet und verpestet. Und unzählige Frauen fielen dem von Männern ausgebrüteten Wahn der Teufelsbuhlschaft zum Opfer, weil die „Herren der Schöpfung“ um ihre „gottgewollte“ Überlegenheit zitterten.

Man wende nicht ein, daß ja die Männer selbst unter dieser seelischen Verirrung schwer zu leiden gehabt hätten, daß die Verschmutzung und Herabsetzung des Sexuallebens ebensosehr von Männern als von Frauen als ein Greuel und eine Schmach empfunden worden sei. Einmal haben die Männer, als das begünstigte Geschlecht, unzählige Möglichkeiten, sich trotz der Herabwürdigung der Sexualität alle Annehmlichkeiten und Beglückungen ebendieser Sexualität, wenn auch heimlich (was den Reiz erhöht), zu sichern — zum anderen zeigt die Psychologie an tausend Beispielen, welche Entsagungen, Opfer, Qualen ein Mensch auf sich zu nehmen imstande ist, wenn er nur das Eine zu erreichen hoffen darf: daß er zu Ansehen kommt, daß sein Prestige gewahrt ist, daß seine Überlegenheit gesichert bleibt.

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Nun hat aber die Frau schließlich auch ein Sicherungsbedürfnis, das, in Machtstreben umgesetzt, sich Geltung zu verschaffen sucht. Aus einem freien Menschen war sie Sklavin geworden, vom Manne wirtschaftlich und sozial abhängig; und sie ist es mehr oder weniger bis auf den heutigen Tag. Durch das Gefühl des Unterdrücktseins entstand zunächst das Gefühl der Minderwertigkeit, sodann der Drang nach Kompensation. Die Dauer dieses Zustand es führte schließlich zu tatsächlicher, geistiger und seelischer Minderwertigkeit, die freilich das.. Bedürfnis nach Ausgleich nicht geringer werden ließ. Es entwickelten sich bei der Frau Sklaventugenden: Demut, Gehorsam, Anschmiegsamkeit, Nachgiebigkeit, Gefälligkeit; und Sklavenlaster: List, Schlauheit, Verlogenheit, Unverläßlichkeit, Falschheit. Ein Ziel wurde überragend, nämlich dem Manne überlegen zu sein, ihn in seine Gewalt zu bekommen. War das sozial nicht möglich, so eben sexuell. Die Frau konzentrierte ihre gesamte Kampfenergie auf den einen Punkt, in dem sie — trotzalledem! — dem Manne überlegen war: auf die Sexualität. Abgedrängt von der Anteilnahme am ökonomischen, politischen, kulturellen Leben, entfaltete sie alle verdrängten und unterdrückten Freiheits- und Herrschaftstriebe im Geschlechtlichen, wurde sie Geschlechtswesen. Und da die Sexualität durch den Mann in die Ehe verbannt war, bekam die Sexualität in der Ehe durch die Frau die starke Überwertung, die sie heute kennzeichnet.

Diese psychologischen Erkenntnisse geben uns den Schlüssel in die Hand, der den geheimnisvollen Mechanismus der Psychologie der Ehe öffnet: Um der männlichen Machtrolle willen, die sozialökonomisch im Privateigentum untermauert ist, muß die Sexualität, vor der Öffentlichkeit diskreditiert, in die Ehe verbannt bleiben. Um der weiblichen Machtrolle willen aber hat die Sexualität in der Ehe, und schließlich darüber hinaus in der Öffentlichkeit, trotz ihrer Diskreditierung eine starke Überwertung erfahren. Gäbe es noch keine Ehe, die Klassengesellschaft müßte sie erfinden, um einen Kerker für die (in erster Linie weibliche) Sexualität zu haben. Und gäbe es noch keinen Ehebruch, auch er müßte erfunden werden als Mittel des Protestes der (infolge ihrer Überwertung doppelt aufgestachelten) Sexualität gegen ihre Gefangenschaft. . Der Rivalitätskampf der Geschlechter ist so ein ewiger Kampf für und gegen die Ehe, der erst sein Ende findet, wenn die soziale Unterjochung des einen Geschlechts durch das andere aufgehört hat. Damit ist dann auch die Ehe im heutigen Sinne erledigt; sie wird Neigungsbund, reine Liebespaarung werden.

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Die Soziologie hat das Verdienst, daß sie alle äußeren Tatbestände und Beziehungen ermittelt, aus denen heraus ein gesellschaftliches Problem dem Verständnis nahe gebracht werden kann. Aber ihre Resultate bleiben unbefriedigend, solange sie nicht ergänzt und unterstützt werden durch die Resultate der Psychologie, die den Weg in das Innere aller menschlichen Dinge erschließt.

Sexualität und Ehe sind menschliche Dinge, und der Mensch ist so beschaffen, daß er all und jedes Erlebnis — auch das der Sexualität und Ehe — nur durch seine Seele erlebt.



Zuletzt aktualisiert am 28.12.2008