Otto Rühle

Andere Verhältnisse und Andere Menschen

(18. April 1925)


Aus: Die Aktion, 15. Jg, Heft 7/8, 18. April 1925, S. 174-6.
Transkription u. HTML-Markierung: Thomas Schmidt für das Marxists’ Internet Archive.


 

Dieser Artikel hätte schon vor Jahren geschrieben werden müssen.

Vielleicht hätte er manche überflüssige Diskussion erspart.

Denn ich erlebe seit Jahr und Tag (was andere Redner ebenso erleben), daß in beinahe jeder Versammlung ein überzeugter Parteigänger auftritt — heute wohl immer ein KPD-Genosse — und kategorisch erklärt: Was der Referent sagt und will und tut, ist an sich gut und schön. Aber im Grunde hat das alles keinen Zweck. Erst müssen die Verhältnisse besser geworden sein, dann werden auch die Menschen besser werden. Neue Verhältnisse kriegen wir einzig und allein durch die Revolution. Alles andere ist Zeit- und Kräftverschwendung, Ablenkung, Opportunismus, Konter-Revolution.

Dieses geläufige Sprüchlein findet meist volle Zustimmung bei denen, die durch die herkömmliche Schule der Parteidenkweise gegangen sind. Es entspricht ja auch dem landläufigen Schema 'der von den Parteien zu einem greulichen Mechanismus verballhornten materialistischen Geschichtsauffassung. Aber es ist völlig unwissenschaftlich im Sinne des Marxismus; und birgt außerdem die große Gefahr, einen Fatalismus zu züchten, der den Klassenkampf lähmen muß.

So fordert es jedesmal zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung heraus.

*

Erst, müssen die Verhältnisse anders werden . . .

„Verhältnisse“ — das sind nicht sinnlich wahrnehmbare Dinge; nicht greifbare Gegenstände, die man messen, wägen, aufteilen, her- oder wegtragen kann; nicht Objekte außer uns. Auch nicht geheimnisvolle Mächte über den Wolken; nicht Instanzen, die unser Schicksal bestimmen, oder irgendwie metaphysische Gewalten in einer mystischen Sphäre oder Region.

„Verhältnisse“ sind — wie das Wort ganz richtig sagt — Beziehungen, Verbundenheiten, Ordnungen, nach denen sich die Verhaltungsweisen der Menschen regeln.

Es gab eine Zeit, in der die Wissenschaft ausschließlich oder vorwiegend darauf gerichtet war, das Verhältnis der Menschen zu Gott zu ermitteln. Das wirtschaftliche und soziale Leben des damaligen Menschen war geregelt durch das Lehensverhältnis. Bauer und Handwerker waren gebunden mittels der Scholle, die sie gegen Zins geliehen hatten, an die Übermacht des Grundherrn. Da stellte sich auch ihr Verhältnis zu Gott in ihrem Bewußtsein als eine Art Lehensverhältnis dar. Der Himmel ist die eigentliche Heimat. Das Leben auf Erden ist nur ein Lehensdienst. Gott ist der höchste Grundherr. Die Theologie kleidete diese Gedanken wissenschaftlich ein und gab damit Aufschluß über das Verhältnis des Menschen zu Gott.

Später kam der Kapitalismus. Der Unternehmer war weniger an den künftigen Wonnen eines fernen Jenseits als vielmehr an den Profitaussichten eines nahen Diesseits interessiert. Er brauchte Eisen, Kohle, Baumwolle, Maschinen, Chemikalien, um Waren auf den Markt werfen zu können. Brauchte also Physik, Chemie, Technik, Mathematik. Ihm war es wichtig, Aufschluß zu erhalten über sein Verhältnis zur Natur. So wurden die Naturwissenschaften der Angelpunkt aller wissenschaftlichen Orientierung des bürgerlichen Zeitalters.

Das klassenbewußte Proletariat erstrebt den Sozialismus. Das heißt: eine Neuregelung der Beziehungen der Menschen zur Arbeit, zu den Arbeitsmitteln und zum Arbeitsertrag. Arbeit selbst ist, wie Wirtschaft, Tauschwert, Kapital, Gesellschaft, Kultur usw., Ausdruck eines Verhältnisses. Alle Beziehungen der Menschen untereinander, sagt Marx, sind das Abbild der Beziehungen, die sie im Produktionsprozeß zueinander haben. Es handelt sich also beim Sozialismus um die Beziehungen von Mensch zu Mensch. Darüber Aufschluß zu geben ist die Aufgabe der Gesellschaftswissenschaft (Soziologie, Marxismus).

Verhältnisse, von denen wir meinen, daß sie sich ändern müssen, sind demnach: Besitzverhältnisse, Produktionsverhältnisse, Verteilungsverhältnisse, Ernährungsverhältnisse, Verwaltungsverhältnisse, Gesellschaftsverhältnissse, Kulturverhältnisse, Bildungsverhältnisse.

Alles Beziehungen von Mensch zu Mensch.

In der feudalen Welt sah man noch nicht das gesellschaftliche Verhältnis des Menschen, sondern nur sein himmlisches, religiöses Verhältnis. Aber ein Partner des Verhältnisses war der Mensch.

In der kapitalistischen Welt kommt das Verhältnis zur Natur ebenfalls nur mit Hilfe des Menschen zustande. Er ist keineswegs unbeteiligt.

Und nun erst gar in der proletarischen Denkwelt! Da stellt der Mensch beide Partner des Verhältnisses. Denn dieses heißt nicht mehr: Mensch — Gott, auch nicht mehr Mensch — Natur, sondern Mensch — Mensch. Die Verhältnisse müssen anders werden . . . Was heißt das also?

Das heißt: Die Beziehungen von Mensch zu Mensch im Rahmen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Ordnung müssen sich ändern.

*

Beziehungen erlebt der Mensch durch sein Bewußtsein.

Auch hier ist die Sprache eine deutliche Dolmetscherin: bewußt gewordenes Sein.

Der Proletarier fühlt sich erst dann in seiner Beziehung zur proletarischen Klasse, wenn er zum Klassenbewußtsein erwacht ist.

Das Bewußtsein also weckt ihn zum Klassenangehörigen, Klassenkämpfer.

Ohne Klassenbewußtsein existiert für ihn weder Klasse noch Klassenkampf.

Wie ohne Bewußtsein für ihn weder Vergangenheit noch Zukunft, weder Geschichte noch Entwicklung, weder Kapitalismus noch Sozialismus existieren würde.

Die Verhältnisse, in denen er lebt, werden ihm zum wirklichen Erlebnis lediglich durch sein Bewußtsein.

Änderungen der Verhältnisse gewinnen historische Bedeutung erst und allein, wenn sie Bewußtseinsinhalt geworden sind.

Erst durch das menschliche Bewußtsein erlangen die sogenannten Verhältnisse geschichtsbildende Kraft.

Erst vom Menschen, der sie bewußt erlebt, werden sie in den Dienst der Entwicklung gestellt.

Es gibt keine Stelle außerhalb des menschlichen Bewußtseins, von der die Änderung ausginge oder vollzogen würde. Der Mensch selbst vollzieht sie.

Es ist der Mensch, der die Verhältnisse ändert.

*

Natürlich ändert er sie nicht willkürlich. Sein Wille ist gebunden an die Notwendigkeiten, die sein Erlebnis bedingen. Ist determiniert.

Aber trotz alledem ist es der Mensch, der die Verhältnisse ändert.

Jedes neue Bewußtseinserlebnis wird ihm zum Antrieb eines neuen Wollens.

Je mehr neue Erlebnisse in den Kreis des Bewußtseins treten, desto stärker wird der Wille vom Neuen beherrscht. Schließlich erscheinen Forderungen, Postulate, Ziele als Ausdruck des neugeformten Willens. Die stärkste Manifestation des Willens ist die Tat.

Keine neue Tat ohne neuen Willen. Und kein neuer Wille ohne vorgegangenes neues Bewußtseinserlebnis.

Die revolutionäre Tat ist nur denkbar als Resultat des revolutionierten Bewußtseins.

Ohne revolutionäre Gehirne keine Revolution.

*

Jede neue Tat, jedes neue Erlebnis vermittelt natürlich sofort wieder innern neuen Bewußtseinsinhalt, schafft eine neue psychische Situation.

Ihre Reflexe erscheinen im menschlichen Gehirn.

Es ist das Sein, das so unser Bewußtsein bestimmt. Diese Marxsehe Grundeinsicht besteht durchaus zu Recht.

Aber Marx hat nie behauptet, daß das ökonomische Moment das einzig bestimmende sei. Wer diese Auslegung vertritt, verwandelt jenen Satz — nach Engels — in eine „nichtssagende, abstrakte, absurde Phrase“. Politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen und deren Weiterentwicklung, wissenschaftliche und pädagogische Erkenntnisse usw. wirken ebenso auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe „und bestimmen in vielen Fällen vorwiegend deren Form“.

Für Marx kam es nur darauf an, als letzte Instanz des Bewußtseins das sozialökonomische Sein festzustellen. Die Wechselbeziehung zischen Sein und Bewußtsein, Lebenstatsachen und Erkenntnissen hat er nie in Zweifel gezogen.

Wir stehen also vor dem Ergebnis: Die Menschen machen die Geschichte und werden von ihr gemacht. Das Sein bestimmt das Bewußtsein und wird von diesem bestimmt. Die Verhältnisse verändern die Menschen und werden von diesen verändert. Die Revolutionierung der Hirne führt zur revolutionären Tat, und die revolutionäre Tat hat die weitere Revolutionierung der Hirne zur Folge. Immer als wechselseitiger Vorgang, als Hin- und Widerspiel im Flusse der Bewegung gedacht.

Als dialektischer Prozeß.

*

Unsere bisherige, aus der bürgerlichen Logik übernommene Denkweise verleitet uns immer zu der Fragestellung: Was ist richtig, verändern die Verhältnisse die Menschen, oder umgekehrt? Entweder — oder? Wir müssen dialektisch denken lernen, dann lautet die Antwort: sowohl — als auch! Die Geschichte, sagt Marx in der Heiligen Familie, tut nichts, „sie besitzt keinen ungeheuren Reichtum“, sie „kämpft keine Kämpfe“! Es ist vielmehr der Mensch, der wirkliche, lebendige Mensch, der das alles tut, besitzt und kämpft; es ist nicht etwa die „Geschichte“, die den Menschen als Mittel braucht, um ihre — als ob sie eine aparte Person wäre — Zwecke durchzuarbeiten, sondern sie ist nichts, als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen.

Es ist ein aussichtsloser Fatalismus, auf die Revolution zu warten, um dann mit einem Male — Deus ex machina (Gott aus der Maschine!) — neue Menschen mit neuen Ideen in Empfang zu nehmen.

Dieser kindliche Glaube an die mit einem Zauberschlage alle Schwierigkeiten lösende große Revolution ist ein Überrest bürgerlicher Revolutionsromantik aus dem Barrikadenzeitalter, die in der Revolution noch einen Explosivakt, einen Putsch oder Staatsstreich sieht, nicht aber das, was sie heute wirklich ist: nämlich ein gewaltiger, weitschichtiger historischer Ablaufsprozeß, ein in tausendfältigem Wechselspiel der Potenzen und Positionen von Menschen erlebtes und bewegtes Stück Geschichte.

Dieser Prozeß wird von uns lediglich durch das Mittel unseres Bewußtseins erlebt. Der Spießer erlebt ihn als Weltuntergang, der Proletarier als Weltauferstehung. Je nachdem, ob man mit einem alten oder einem neuen Denkapparat ausgestattet ist. Der Spießer wird durch sein psychisches Erlebnis bestimmt, konterrevolutionär zu handeln. Dem klassenbewußten Arbeiter ist es Anlaß, am revolutionären Kampfe teilzunehmen. Für jeden kommt die Direktive seines Verhaltens aus dem Bewußtsein.

Denn in seinem Bewußtsein (oder sagen wir besser — ohne Dualist zu sein —. in seiner Seele) erlebt der Mensch die Verhältnisse.

*

Ein weiser Rabbi wurde gefragt: Woher kommt das

Huhn?

Antwort: Aus dem Ei.

Und woher kommt das Ei?

Antwort: Aus dem Huhn.

Will sagen:

Die Verhältnisse machen den Menschen, aber der Mensch macht die Verhältnisse.

Der Mensch ist Subjekt und Objekt zugleich.



Zuletzt aktualisiert am 17.2.2009