L. Sedov

Rotbuch über den Moskauer Prozess


Wozu brauchte Stalin diesen Prozess?


Stalin muss wohl sehr gewichtige Gründe gehabt haben, diesen Prozess zu veranstalten, diese Morde zu verüben. Sogar eine ganze Reihe von auf verschiedenen Ebenen liegenden, doch eng zusammenhängenden Gründen. Stalin betrachtete diesen Prozess gewiss als einen sehr schlauen und geschickten Zug, der in aller Augen sehr deutlich den Beginn einer neuen Periode bezeichnen sollte, einer Periode noch grösserer Machtsteigerung der stalinistischen Bürokratie und der endgültigen Vernichtung der Opposition. Seinerzeit, als Trotzki sich noch in der USSR befand, d.h. in den Händen der Thermidorclique, die damals Trotzki noch nicht auf die Guillotine zu zerren wagte, glaubte Stalin, das beste Mittel, den unversöhnlichen Bolschewiken loszuwerden, sei eine sorgfältig eingefädelte Operation mit schließlicher Ausweisung ins Ausland. Er hat sich getäuscht, und es bedarf keines besonderen Scharfblickes, um zu begreifen, wie dieser Fehler ihn heute quält. Heute, wo die Opposition immer wieder aufersteht und wächst, lässt er kaltblütig Bolschewiki, ehemalige Führer der Partei und der Komintern, Helden des Bürgerkriegs erschießen. Aber auch diesmal täuscht er sich, und sehr bald wird er es feststellen müssen. Dies kaltblütig vollzogene, fürchterliche Verbrechen wird auf das Haupt seines Urhebers zurückfallen.
 

Innenpolitische Gründe

Der Sozialismus ist erbaut, die Klassen sind vernichtet – so lautet die offizielle Doktrin des Stalinismus. „Der Sozialismus ist erbaut“, doch noch nie hat die Sowjetunion soviel Ungleichheit gesehen wie heute, fast zwanzig Jahre nach der Oktoberrevolution: Löhne von 100 Rubel bis zu 8 und 10.000 Rubeln. Die einen wohnen in elenden Baracken und gehen in ausgetretenen Schuhen, die anderen reisen in Luxusautos und wohnen in Prunkgemächern. Die einen rackern sich ab, um sich und ihre Familie zu ernähren, die anderen haben Auto, Dienstboten, ein Landhaus bei Moskau usw. „Die Klassen sind vernichtet“, aber was hat das Dasein eines Trustdirektors mit dem eines Handlangers, das eines Marschalls mit dem eines Kolchosbauern gemein? Selbstverständlich, eine gewisse Ungleichheit wäre auch heute noch unvermeidlich, doch die ganze Frage ist die, dass diese Ungleichheit jedes Jahr zunimmt, immer ungeheuerlichere Ausmasse annimmt und für Sozialismus ausgegeben wird.

Auf den verschiedensten Gebieten wird das Erbe der Oktoberrevolution liquidiert. Der revolutionäre Internationalismus wird ersetzt durch Vaterlandskult im Geiste des übelsten Patriotismus. Das Vaterland aber, das ist vor allem die Obrigkeit! Grade, Orden, Titel sind wieder eingeführt. Die Offizierskaste mit einem Marschall an der Spitze ist wiederhergestellt. Die alten kommunistischen Arbeiter sind in den Hintergrund gedrängt, die Arbeiterklasse ist in Schichten gespalten, die Bürokratie setzt auf den „parteilosen Bolschewiken“, den Stachanowisten, d.h. auf die Arbeiteraristokratie, auf den Meister, und vor allem auf den Spezialisten und Verwalter. Die alte kleinbürgerliche Familie ist wieder zum Leben erweckt und wird auf spießigste Weise idealisiert; trotz den allgemeinen Protesten ist die Abtreibung verboten worden, was unter den schweren materiellen Bedingungen, bei der primitiven Kultur und Hygiene der Versklavung der Frau gleichkommt, d.h. einer Rückkehr zur Voroktoberzeit. Widerrufen ist auch der Erlass der Oktoberrevolution über die neue Schule. Die Schule wird nach dem Vorbild des zaristischen Russland reformiert: die Uniform für Schüler ist wieder eingeführt, nicht nur um damit ihre Selbständigkeit zu zügeln, sondern auch um die Beobachtung außerhalb der Schule zu erleichtern. Dem Zeugnis des Schülers ist wieder die Note für Betragen zugrunde gelegt: der Kurs geht also auf den gehorsamen, unterwürfigen, und nicht den lebendigen und selbständigen Schüler. „Die Ehrerbietung vor dem Älteren“ und die „Ehrung der Uniform“ gelten als die Haupttugend der Jugendlichen. Man hat ein ganzes Institut von Inspektoren zur Beobachtung von Betragen und Gesittung der Jugend eingerichtet.

Die „Gesellschaft der Alten Bolschewiki“ und die „Gesellschaft der Politischen Sträflinge“ sind aufgelöst. Sie erinnern zu sehr an die „verdammte“ revolutionäre Vergangenheit.

In der Wirtschaft vollzieht sich ein scharfer Rechtskurs; der Markt, das Rentabilitätssystem, der Stücklohn sind wiedereingeführt. Von der administrativen Vernichtung der Klassen ging die Stalinführung über zum Kurs auf die Wohlhabenderen; in diesem Zeichen verläuft eine Differenzierung zwischen den Kolchosen und innerhalb der Kolchosen.

„Der Sozialismus ist erbaut“ ..., aber im Lande gibt es eine Unzahl von Prostituierten, und die Prostitution wächst! Die Prostituierte ist meistens eine schlecht bezahlte Arbeiterin oder Angestellte, oder auch eine aus dem Dorf in die Stadt gezogene ehemalige Kolchosbäuerin. Das Übel des obdachlosen Kindes ist noch längst nicht ausgerottet.

„Der Sozialismus ist erbaut“, das heißt, der Staat sollte absterben und auf jeden Fall müsste die Rolle des Zwangs immer geringer werden. Das Umgekehrte geschieht. Noch nie war die Repression so allgemein und so heftig, und diese Repression, die früher gegen die Klassenfeinde des Proletariats gerichtet war, – ist es heute gegen das Proletariat selbst, denn gegen dieses verteidigt die neue herrschende soziale Schicht, die Bürokratie, ihre materiellen Privilegien. Rechtsmäßiger- oder unrechtsmäßigerweise eignet sich die Bürokratie einen gewaltigen Teil des Nationaleinkommens an. Sie hat etwas zu verteidigen! Die verfressene und wohlbestallte Sowjetbürokratie verteidigt wütend ihre Privilegien, ihr „bequemes, frohes Leben“ gegen die rechtlosen Massen.

Aber gleichzeitig bessert sich, wenn auch ungemein langsam – viel langsamer, als die Ungleichheit wächst – die materielle Lage der Massen. Das gibt ihnen ein gesteigertes Selbstvertrauen, und führt nicht zur Stärkung, sondern zur Schwächung der politischen Positionen der Bürokratie. Der Arbeiter, der einige Jahre zuvor ganz und gar mit der Heranschaffung des täglichen Brots beschäftigt war, häufig 14 und sogar 16 Stunden pro Tag arbeitete – in zwei Schichten –, war einzig und allein bestrebt, wenigstens seinen Hunger zu stillen und die Familie zu ernähren. Die Besserung der Wirtschaftslage hat ihm die Möglichkeit gegeben aufzuatmen und seine Bedürfnisse gesteigert. Zuerst möchte er sich besser kleiden, einen Mantel haben, ins Kino gehen. Doch das ist nur der Beginn. Beim Arbeiter tritt dann das Bedürfnis nach Lektüre, nach Kultur hervor, er beginnt daran zu denken, oder sogar danach zu trachten, bewusst am Produktionsprozess teilzunehmen, seine Interessen wahrzunehmen, und bald – oh Schrecken! – will er aktiv an der Politik teilnehmen. Das kann Stalin natürlich nicht zulassen. Das fürchtet er auf den Tod.

Die Unzufriedenheit des Arbeiters, sein Streben nach aktivem politischen Leben, seine „oppositionellen“ Proteste gegen die soziale Ungleichheit, diesen ganzen Komplex schroffer Gegensätze, die den Sowjetstaat zerreissen, will Stalin durch Polizeirepression übertönen! Und um die Repression noch unbarmherziger zu machen, bedarf Stalin des „Terrorismus“. Stalin betäubt, erschrickt die Masse und erleichtert sich dadurch das blutige Handwerk. Das da erwartet Euch, sagt Stalin, und weist auf Sinowjews und Kamenews Leichen, wenn Ihr es wagt, an meiner Unfehlbarkeit zu zweifeln, wenn Ihr Euch weigert, stumme Sklaven der Bürokratie zu werden.

Galt in der Vergangenheit jede Unzufriedenheit, jeder Protest für „Trotzkismus“, so hat Stalin durch die Moskauer Morde „Trotzkismus“ mit „Terrorismus“ gleichgesetzt, jeder, der unzufrieden, oder bloß kritisch gestimmt ist, ist ein „Trotzkist“! Das heißt nunmehr: „Terrorist“. Nicht Konzentrationslager und Gefängnis drohen ihm, sondern standrechtliche Erschießung.

Stalin hat endgültig den Weg der physischen Vernichtung aller aktiv Unzufriedenen, in erster Linie der Linksoppositionellen, beschritten. Die Vorpostenkämpfer gegen die Bürokratie, die einzigen proletarischen Revolutionäre, die in den Massen wurzeln, die Bolschewiki-Leninisten, sind die größte Gefahr für Stalin. Sie wird man in den Konzentrationslagern und Isolatoren für „Terroristen“ erklären, d.h. reif für die Erschießung. In der gesamten USSR finden jetzt ohne Zweifel „Gerichtsverfahren“ und Erschießungen statt, wozu der Moskauer Prozess das Signal gab. Furchtbare, schaurige Wirklichkeit.

Mit den Moskauer Morden schlägt Stalin auch auf den eigenen Apparat, vor allem auf die dünne Schicht des Apparats, die noch aus alten Bolschewiki besteht, denn in diesem Teil ist eine starke, wenn auch heimliche Unzufriedenheit zu beobachten. Zum blinden Vollstrecker der Befehle der Stalinspitze geworden, verliert der ehemalige Revolutionär jegliche Perspektive, seine Rechte sind reduziert out das Recht zur Verzückung vor dem „Vater der Völker“; aber er kennt besser als die anderen diesen Borgia-Stalin, den heimtückischen Usurpator, den kalten Mörder, den Totengräber der Revolution. Und um seinen eigenen Apparat in der Hand zu haben, – jedenfalls den Teil, der noch irgendwie mit der Oktoberrevolution verbunden ist, bleibt Stalin heute nichts anderes übrig, als ihn immer mehr zu terrorisieren.

Durch die Moskauer Morde will Stalin auch politisch die Linke Opposition und Trotzki persönlich vernichten, gegen den der Prozess in der Hauptsache gerichtet ist. Trotzki ist der Hauptangeklagte, wenn er auch nicht auf der Anklagebank sass. Ihn bemüht sich Stalin mit Schmutz und Blut zu besudeln. Die Quellen der Beschimpfung und der Zeitungshetze sind erschöpft. Mit den Leichen der Erschossenen will Stalin der vergiftetsten, dreckigsten, gemeinsten Verleumdung neues Gewicht verleihen. Hätte er Sinowjew, Kamenew und die anderen nicht erschossen, so wäre der Prozess als klägliche Komödie und nicht als furchtbare Tragödie erschienen. Erst bestärkt durch die Morde bekamen die Verleumdungen des Moskauer Prozesses Kraft und konnten sie die Weltöffentlichkeit aufrütteln.

Mit seinen Erschießungen zeigt Stalin – und will er zeigen –, dass die bonapartistische Bürokratie im Kampf um die von ihr usurpierte Macht und im Kampf um ihre Privilegien vor nichts zurückschrecken wird. Die Arbeiterklasse muss sich das fest einprägen.

Doch diese Morde zeugen auch davon, wie unsicher die Lage der Bürokratie ist. Nicht aus Kraftüberschuss nimmt man zu solch blutigen Prozessen Zuflucht. Um ihre Stellung zu festigen, muss die Bürokratie – Stalin – das auch ohnehin schon völlig terrorisierte Land zu neuen ganz unerhörten Formen wahnwitziger Willkür und Blutgerichte treiben. Allein, das ist eine Sackgasse. Ein Ausweg daraus ist – in dem Masse wie dieser Ausweg von der Bürokratie abhängt – nur in weiterer, noch tieferer Reaktion zu finden. Durch den Versuch, Trotzki politisch zu töten, und durch die Hinrichtung der alten Bolschewiki will Stalin sich alle Auswege zur Reaktion hin freimachen.

Die Kriegsgefahr verstärkt nur noch den bonapartistischen Charakter des Stalinismus. Nicht auf die Initiative und den Mut der Arbeiterklasse im Kampf für das Ideal des Kommunismus wird Stalin im Falle des nahen Krieges setzen, sondern auf die privilegierte Offizierskaste, auf die blinde Unterwerfung der eingeschüchterten, rechtlosen „Untergebenen“ unter die allmächtigen „Vorgesetzten“.

Die Erschießung der alten Bolschewiki, welch ein Vorspiel zur „demokratischsten Verfassung der Welt“! Mögen die, die da Illusionen hegen, wissen – sagt Stalin gleichsam –, die Demokratie der Verfassung besteht darin, dass den Wählern und Kongressen das Recht gegeben wird, für mich zu stimmen. Wer aber nicht für Stalin, d.h. nicht für die Bürokratie und ihre Privilegien stimmt, der ist ein Trotzkist, folglich ein Terrorist und binnen 24 Stunden zu erschießen. Die stalinsche Verfassung ist eine heuchlerische Hülle zur Deckung des plebiszitären Regimes.

Es gibt vielleicht noch einen Grund, der Stalin zum Mord an den alten Bolschewiki trieb. Das ist die Furcht der Bürokratie vor dem Terror – selbstverständlich keinem organisierten Terror, wie man es im Moskauer Prozess wahrhaben wollte, den gibt es in der USSR nicht –, sondern vor vereinzelten Terroristen, hervorgegangen aus der verzweifelnden und jede Perspektive verlierenden Jugend. Doch kaum sind die terroristischen Tendenzen in der USSR stark. Jedenfalls gab es in den zehn Jahren bürokratischer Herrschaft nur ein gegen die Stalinspitze gerichtetes und von einem dieser jungen Kommunisten verübtes politisches Attentat: die Ermordung Kirows. Weitaus wahrscheinlicher ist, dass die Bürokratie künstlich diese Gefahr übertreibt in der Absicht, ihre Strafgerichte über Andersdenkende und Unzufriedene zu rechtfertigen und zu erleichtern.

So ist es im Innern des Landes, wie aber außerhalb?
 

Außenpolitische Gründe

Stalin bricht nicht nur blutig mit dem Bolschewismus, mit allen seinen Traditionen und seiner Vergangenheit, er bemüht sich auch, den Bolschewismus und die Oktoberrevolution in den Schmutz zu zerren. Er tut das im Interesse sowohl der internationalen wie der inneren Reaktion. Sinowjews und Kamenews Leichen sollen der Weltbourgeoisie Stalins Bruch mit der Revolution beweisen, ihm als Bescheinigung seiner Zuverlässigkeit und Reife als nationaler Staatsmann dienen. Die Leichname der alten Bolschewiki sollen der Weltbourgeoisie beweisen, dass Stalin tatsächlich seine Politik radikal gewandelt hat, dass die Leute, die in die Geschichte als Führer des revolutionären Bolschewismus, als Feinde der Bourgeoisie eingehen, auch seine Feinde sind. Trotzki, dessen Name untrennbar mit dem Lenins verknüpft ist als Führer der Oktoberrevolution, Trotzki, der Schöpfer der Roten Armee und Organisator des Sieges, – Sinowjew und Kamenew, Lenins unmittelbare Schüler, der eine Vorsitzender der Komintern, der andere Stellvertreter Lenins und Mitglied des Politbüros, – Smirnow, einer der ältesten Bolschewiki, Sieger über Koltschak – heute sind sie erschossen, und darin darf die Weltbourgeoisie das Symbol einer neuen Ära erblicken. Das ist das Ende der Revolution, sagt Stalin. Die Weltbourgeoisie kann und darf jetzt mit Stalin als mit einem ernsten Verbündeten, als mit dem Führer eines nationalen Staats rechnen. [1]

Dies ist der Hauptzweck des Prozesses auf außenpolitischem Gebiet. Doch das ist nicht alles, längst nicht alles. Die deutschen Faschisten mit ihrem Gekreisch: der Kampf gegen den Kommunismus sei ihre historische Mission, befinden sich in der letzten Zeit deutlich in erschwerter Lage. Stalin hat den Kurs auf die Weltrevolution längst aufgegeben. Er betreibt eine „vernünftige“ nationale Politik, eine thermidorianische Reform folgt der anderen. Den Faschisten und anderen erbitterten Feinden des Kommunismus fällt es immer schwerer, Stalin mit seiner nationalistischen Dritten Internationale als Quelle revolutionärer Gefahren und Erschütterungen hinzustellen. Mit umso größerem Eifer verbreiten sie daher die Verleumdung, die Vierte Internationale sei nichts anderes als eine Filiale der Dritten auf der Grundlage der Arbeitsteilung. Die einen stützen danach die thermidorianische Politik Stalins in der USSR, die anderen (die Vierte Internationale) entfachen die Revolution im Westen, wobei sie sich als Stalins Feinde ausgeben, während sie in Wirklichkeit nur seine Helfershelfer sind. [2]

Diese Lügen sind für Stalin ein weiterer Beweggrund, seine Morde zu verüben und Trotzki faktisch zur Erschießung zu verurteilen zum Beweis, dass er, Stalin, weder mit der Revolution, noch mit der revolutionären Vierten Internationale etwas gemein hat.

Statt internationaler Revolution: Völkerbund, Block mit der Bourgeoisie. Es lebe Pilsudski-Polen! Stalin würde ohne Bedenken auf Kosten der deutschen und internationalen Arbeiterklasse auch mit Hitler verhandeln. Das hängt lediglich von Hitler ab! Diese ganze internationale Politik des Stalinismus treibt die Arbeiterklasse immer weiter von den Parteien fort, die sich gottweiss warum noch kommunistisch nennen. In der europäischen Arbeiterklasse und insbesondere unter den kommunistischen Arbeitern wächst das Misstrauen und die Unzufriedenheit mit der stalinistischen Politik. An und für sich würde das Stalin nicht sehr stören, wenn er nicht fürchten müsste, dass die fortgeschrittenen Arbeiter den Weg zur Vierten Internationale finden. Stalin versteht sehr wohl, wie sehr ihm dadurch auch in der USSR Gefahr droht. (In dieser Beziehung ist er, in Parenthese gesagt, viel weitblickender als gewisse spießige Kritiker, die die Trotzkisten für „Sektierer“ ohne Perspektiven halten.) Darum ist Stalin bemüht, die Vierte Internationale zu kompromittieren, Trotzki durch die Beschuldigungen des Terrorismus und der Verbindung mit der Gestapo politisch zu töten, und diesen Beschuldigungen „Ueberzeugungskraft“ zu verleihen durch die Erschießung alter Bolschewiki ... Mit Blut und Schmutz will Stalin den fortgeschrittenen Arbeitern den Weg in die Reihen der Vierten Internationale versperren. Das ist ein weiterer Zweck des Moskauer Prozesses.
 

„Süße Rache“

Neben den politischen Gründen ist auch ein rein persönlicher im Spiel: Stalins unstillbarer Rachedurst, der einen Bestandteil all seiner Taten bildet und auch bei der Konstruktion des letzten Amalgams keine geringe Rolle spielte.

In einem der letzten Briefe, den L.D. Trotzki vor seiner Internierung in Norwegen schrieb, erzählt er folgende Episode:

Im Jahre 1924 saßen Stalin, Dsershinski und Kamenew an einem Sommerabend um eine Flasche Wein herum (ich weiß nicht, ob es die erste war), und plauderten über alle möglichen Dinge, bis sie auf das Thema kamen, was jeder von ihnen am liebsten habe. Ich erinnere mich nicht, was Dserzhinski und Kamenew, von dem ich diese Geschichte weiß, genannt haben. Stalin aber sagte: das beste im Leben ist es, das Opfer richtig auszuwählen, alles gut vorzubereiten, schonungslose Rache zu üben und dann zu Bett zu gehen!!

In dem gleichen Brief zitiert Trotzki mit Krupskajas Worten eine Bemerkung Lenin; über Stalin, die noch nie veröffentlicht wurde:

Im Herbst 1926 sagte mir Krupskaja in Anwesenheit von Sinowjew und Kamenew: „Wolodja (das war der Rufname von Wladimir, also Lenin) sagte von Stalin: ‚Ihm fehlt die elementarste Ehrlichkeit!‘ Und sie wiederholte: ‚Verstehen Sie? Die einfachste menschliche Ehrlichkeit‘.“ Ich habe noch nie diese Worte veröffentlicht, weil ich der Krupskaja keinen Schaden zufügen wollte. Jetzt aber, wo sie sich hilflos im offiziellen Fahrwasser bewegt und keine Stimme des Protestes gegen die ekelhaften Verbrechen der herrschenden Clique erhebt, halte ich mich für berechtigt, diese Worte Lenins der Öffentlichkeit zu übergeben“.

(In jenem Augenblick kannte Trotzki noch nicht den elenden und, so peinlich das zu sagen ist, abscheulichen Artikel Krupskajas über den Prozess.)

Erinnern wir an einige andere Aussprüche Lenins über Stalin. Im März 1923 bereitete sich Lenin auf den Kampf gegen Stalin auf dem XII. Parteikongress vor; durch seine Sekretärin Fotijewa ließ er Trotzki mitteilen: Nicht mit Stalin in Verhandlungen treten, denn „Stalin wird ein faules Kompromiss schließen und betrügen“.

So ein „Kompromiss“ schloss Stalin vor dem Prozess mit Sinowjew. Kamenew usw.: gebt mir euer Geständnis, und ich gebe Euch das Leben. Und er betrog! Und wie er betrog!

Noch früher hatte Lenin von Stalin gesagt: „Dieser Koch wird nur scharfe Speisen bereiten“. Lenin, wenn er auch Stalins Tendenzen richtig vorausfühlte, hat ja doch nicht im entferntesten geahnt, wie weit dieser Cesare Borgia unserer Tage gehen würde.

Grobheit, Illoyalität, Heimtücke, Skrupellosigkeit in der Wahl der Mittel, das sind Stalins hervorstechendste Charakterzüge. Diese persönlichen Züge des „Chefs“ sind die Züge der ganzen leitenden bonapartistischen Clique geworden. Und diesen Menschen nennt die „Prawda“ „licht, kristallrein“. Der menschlichen Niedrigkeit sind wahrlich keine Grenzen gesetzt!

Stalin, der in Apparatkreisen für einen „gewiegten Dosierer“ gilt, beginnt die Kontrolle über sich zu verlieren. Damit beschleunigt er das Ende seines Absolutismus. Der Aufschwung der revolutionären Arbeiterbewegung im Westen, und von dort aus auch in der USSR, wird mit dem Korruptionsregime der bonapartistischen Clique aufräumen.


Anmerkungen

1. Otto Bauer packt der Schrecken bei dem Eindruck, den die Moskauer Erschießungen auf die aufrichtigen, liberalen und sozialistischen Freunde der USSR machen. Für Stalin ist das eine überholte Etappe. Diese Freunde sind ihm jetzt nur wenig nützlich. Er sucht viel „solidere“ Freunde und Verbündete für den Kriegsfall: die französische, englische, amerikanische Bourgeoisie usw.

2. Zu diesem Zweck setzten z.B. die deutschen Faschisten vor kurzem Gerüchte von einer Geheimtagung der Dritten und Vierten Internationale in Breda, von der Finanzierung der Vierten Internationale durch Stalin und ähnlichen Unfug in die Welt.




Zuletzt aktualisiert am 7.07.2009