L. Sedov

Rotbuch über den Moskauer Prozess


Attentate, die es nicht gab


Neben allgemeinem Gerede vom Terror, der Übergabe von „Instruktionen“, allen möglichen „terroristischen“ Auffassungen usw., werden im Prozess immerhin einige konkrete „Anschläge“ erwähnt. Nehmen wir einen nach dem anderen.
 

Das Attentat des Paares Berman-Jurin/Fritz David auf Stalin

Nachdem Berman-Jurin und Fritz David im März 1933 in Moskau angekommen waren [1], beschlossen sie, zum 13. Kominternplenum (Dezember 1933) ein Attentat auf Stalin zu. organisieren. Berman-Jurin sagt: der „Plan war gescheitert“, weil Fritz David für Berman-Jurin, „der auf Stalin schießen sollte“ [2], keine Eintrittskarte bekommen konnte. Fritz David gibt eine andere Version zum Besten: „Die Pläne scheiterten, weil Genosse Stalin auf dem XIII. EKKI-Plenum nicht anwesend war“. [3]) Das ähnelt ein wenig der Geschichte mit dem geborgten Topf: erstens, sagt jener, habe ich ihm den Topf heil zurückgegeben, zweitens war er schon entzwei, und drittens habe ich ihm den Topf gar nicht geborgt. Das Dritte scheint hier zu fehlen, aber in Wirklichkeit existiert auch dies. Die Eintrittskarte war nicht da, Stalin war nicht da, aber ... auch der Versuch, ein Attentat zu verüben, war nicht da.

Doch Fritz David und Berman-Jurin ließen sich von diesem Misserfolg den Mut nicht rauben. Die Sache ist die, dass sie ja „zwei konkrete (!) Pläne für einen Anschlag auf ... Stalin ausgearbeitet“ hatten. [4] Es blieb ihnen der zweite Plan: ein Attentat auf Stalin während des 7. Weltkongresses der Komintern.

Dieser Plan war ohne Zweifel glänzend, obendrein antsprach er Trotzkis „Direktiven“, wonach Stalin nicht nur einfach getötet werden sollte, sondern unbedingt mit Musikbegleitung, Ovationen, „vor einem internationalen Forum“ [5], wie Berman-Jurin erzählt. Nur hatte unseres Erachtens dieser Plan doch einen wesentlichen Nachteil. Der bis dato letzte Kominternkongress (der sechste) fand 1928 statt. Von 1928 bis 1933 waren schon mehr als fünf Jahre verflossen, und von einem neuen Kongress war nichts zu hören. Unter Verletzung der Kominternstatuten verschob Stalin den Kongress von Jahr zu Jahr, mit dem Vorsatz, ihn womöglich überhaupt nie einzuberufen. In der Propaganda der ausländischen Linken Opposition spielte all diese Jahre hindurch die Frage der Nichteinberufung des Kominternkongresses eine große Rolle. Trotzki schrieb beispielsweise im Dezember 1934 (ähnliche Zitate kann man zu Dutzenden finden): „Die herrschende Stalingruppe hat im Wesen bereits längst darauf verzichtet, mit der Komintern zu rechnen. Einer der deutlichsten Beweise dafür ist Stalins Weigerung, einen internationalen Kongress einzuberufen“. (Bulletin der Opposition, Nr.41)

Berman-Jurin und Fritz David wurden von Trotzki hinübergeschickt, demselben Trotzki, der glaubte, der Kongress würde überhaupt nicht einberufen werden, der gleichzeitig aber, wie Berman-Jurin erzählt, diesem vorschlug, „das Attentat auf dem Kongress zu verüben“! Und siehe da, statt zu handeln ... warten unsere „Terroristen“ auf den Kongress. Warten ein Jahr, warten zwei Jahre, und endlich nach zweieinhalb Jahren haben sie es erreicht. Nach einer Pause von sieben Jahren – 1928–1935 – wird der 7. Kongress schließlich einberufen. Man mag erwidern: sie mussten zwar lange warten, dafür aber haben sie sich wenigstens tüchtig vorbereitet und „einen konkreten Plan ausgearbeitet“. Erteilen wir dem Prozessbericht das Wort: „Auf dem Kominternkongress konnte nur Fritz David eindringen, da es ihm nicht gelang, für Berman-Jurin eine Karte zu verschaffen. Nach seinen Worten konnte Fritz David den Terrorakt darum nicht ausführen, weil es ihm unmöglich war, an Stalin heranzukommen.“ [6] Er, Fritz David, „saß in einer Loge, in der Loge waren viele Menschen, und es bestand keine Möglichkeit zu schiessen“. [7]

Offenbar hatte sich Fritz David eingebildet, man werde ihm den Präsidentenstuhl geben, und es werde auf dem Kongress nicht „viele Menschen“ geben ...

Damit ist die Geschichte aus. Aber wieso, fragt man sich, hat die GPU all das erfahren? Oder gingen diese „Terroristen“ etwa selbst zur GPU, um ihre Misserfolge zu beichten? Und hätten sie nicht diesen Fehler begangen, so wären sie heute höchstwahrscheinlich nicht nur noch am Leben, sondern würden mit nicht geringerem Erfolg ein neues Attentat gegen Stalin vorbereiten, sagen wir für den 8. Kominternkongress, im Jahre 1940 oder 1945.

Und so sieht der einzige „konkrete“ Attentatsversuch gegen Stalin aus! Übrigens nimmt offenbar selbst das Gericht diese GPU-Geschichte nicht sehr ernst, denn im Urteil wird sie mit keinem Wort erwähnt.
 

Terrorist Olberg verübt ein Attentat auf Stalin

Wie Berman-Jurin und Fritz David hat auch Olberg für seine terroristische Tätigkeit von Trotzki „Instruktionen erhalten“. Ebensowenig wie Berman-Jurin und Fritz David hat Trotzki Olberg je von Angesicht gesehen (wenn er von ihm auch, zum Unterschied von den ersten beiden, gehört hat, allerdings nur Schlechtes). [8]

Olberg macht drei Reisen in die Sowjetunion. Nachdem er 1932 die „terroristischen Instruktionen“ erhalten hätte, fuhr er Ende März (!) 1933 in die Sowjetunion und verblieb dort bis Juli 1933; anderthalb Monat „verbarg“ er sich gottweisswarum in Moskau, und reiste dann ab nach Stalinabad, wo er als Geschichtslehrer eine Stellung fand. Stalinabad, das von Moskau und somit von allen Führerpersönlichkeiten einige 4.000 und etliche Kilometer entfernt liegt, erkor sich Olberg als den für seine terroristische Aktivität offenbar geeignetesten Ort. Doch bald musste Olberg nach Prag zurück, „da er keinerlei Dokumente über seine Militärdienstpflicht hatte“. Zum zweitenmal reiste Olberg in die Sowjetunion im März 1935, verbrachte dort aber höchstens ein paar Tage, da er nur ein Touristenvisum besaß. Im Juli 1935 reist Ölberg zum drittenmal in die USSR. Die letzten beiden Male fuhr Olberg auf den bekannten Pass der Republik Honduras (das einzige in der Affäre offiziell erwähnte Beweisstück). „Nach kurzem Aufenthalt in Minsk reiste er (Olberg) nach Gorki, setzte sich mit den Trotzkisten Jelin und Fedotow in Verbindung und erhielt bald Arbeit im Pädagogischen Institut in Gorki, wo er bis zum Tage seiner Verhaftung blieb“. [9]

Liest man diese unglaubliche Geschichte, möchte man meinen, dass es in der USSR keine GPU gibt! Wyschinski bekundet große Neugier in Bezug auf Olbergs Honduraspass, fragt, ob seine Eltern in Honduras waren, oder vielleicht die Großmutter. [10] Man fragt sich bloß, wieso die GPU seinerzeit ein gleiches Interesse nicht auch für Olbergs Reisen gezeigt hat. Jeder, der eine Ahnung davon hat, unter welchen Umständen in der USSR Visa erteilt werden, und wie scharf die GPU selbst „solide“ Ausländer beobachtet, der wird zugeben, wie unglaubhaft diese ganze Geschichte ist. Da kommt ein Mensch zugereist (und nicht zum erstenmal), mit einem exotischen und wenig soliden Pass der Hondurasrepublik, spricht kein Wort einer amerikanischen Sprache, sondern ... russisch. Einen verdächtigeren Ausländer kann man sich schwerlich vorstellen. Indes, Olberg reist nicht nur ungehindert ein, aus und wieder ein, sondern erhält sogar eine Stellung als Lehrer in einem pädagogischen Staatsinstitut! Wir gestatten uns, ganz kategorisch zu versichern: Olberg konnte das Visum für die Einreise in die USSR erhalten, dorthin reisen und dort Arbeit bekommen nur unter Beihilfe der Sowjetbehörden, und zwar auch der GPU.

Doch kehren wir zu Olbergs „terroristischer“ Aktivität zurück. Drei Jahre vergingen – von 1932 bis 1935 –, von dieser Aktivität aber ist nichts zu vernehmen. Kaum jedoch in Gorki angekommen, im Juli 1935, „erfuhr Olberg von Fedotow, dass schon vor seiner Ankunft Kampftrupps organisiert worden waren. Es blieb Olberg nur noch übrig, den eigentlichen Plan des Anschlags auszuarbeiten“. [11]

Weisen wir darauf hin, dass weder Jelin noch Fedotow (der niemand anderer ist als der Direktor des Pädagogischen Instituts, wo Olberg Lehrer war!) vor Gericht weder als Angeklagte noch als Zeugen zitiert werden. Weisen wir ferner darauf hin, dass, hätte es in Gorki tatsächlich von Fedotow organisierte terroristische „Kampftrupps“ gegeben, es gänzlich unverständlich wäre, wozu Fedotow Olberg brauchte. Ein undefinierbarer junger Mann, ohne jede Ahnung von terroristischer und überhaupt konspirativer Arbeit, soll eine bereits von weitaus erfahreneren Leuten ausgebildete Terrororganisation leiten, „einen Plan ausarbeiten“! Worin aber bestand denn dieser Plan eigentlich? „Der Terrorakt sollte am 1. Mai 1936 in Moskau verübt werden“, [12] das ist alles, was wir aus dem Prozessbericht erfahren. Von wem? wo? auf welche Weise? davon wird nichts gesagt. „Was verhinderte die Durchführung dieses Plans?“ fragt Wyschinski. „Die Verhaftung“, [13] antwortet Olberg.

Das ist die Geschichte dieses „Attentats“. Das hindert übrigens den Soldschreiberling von der Prawda, L. Rowinski, nicht, am 22. August mitzuteilen, dass „die Terror- und Spionagetätigkeit Olbergs brodelnd war ... Er hat nicht nur terroristische Spionagegruppen organisiert, sondern die Terroristen auch im Schießen und Bombenwerfen unterrichtet.“ Doch weder vom Schießen noch vom Bombenwerfen ist im Prozessbericht die Rede. Wir gestatten uns, daran zu zweifeln, dass stud. pol. V. Olberg je eine andere Bombe gesehen hat, als die, die ihm Stalin durch den Prozess bereitet hat.
 

Lurie Nr.1 und Lurie Nr.2 verüben ein Attentat auf Woroschilow im Besonderen, und auf andere „überhaupt“

N. Lurie versichert, er habe sich seit 1927 trotzkistisch betätigt, d.h. rund neun Jahre lang. Leider hat nur niemand etwas davon gewusst. Kein einziger Trotzkist in irgendeinem Land ist, weder 1927 noch später, N. Lurie je begegnet. Auf alle Versuche, über N. Lurie Auskunft zu erhalten, wurde uns allenthalben dieselbe Antwort zuteil: unbekannt. Leider befindet sich unter unseren Adressaten nicht die GPU, sie hätte gewiss interessante Auskünfte erteilen können, insbesondere darüber, wann denn N. Luries „Tätigkeit“ begann, 1927 oder in einem anderen Jahr.

Den Beginn seiner Terroraktivität schildert N. Lurie folgendermaßen: „Anfang 1932 sagte mir Moissej Lurie, dass es Zeit sei (!!), nach der USSR zu reisen und sich dort terroristisch zu betätigen“. [14] Schon dieser frischfröhliche Ton allein ist Gold wert. Genug des Billardspielens, sagt er, „es ist Zeit“, zum Abendbrot zu gehen, will sagen, sich „terroristisch zu betätigen“. In Moskau trifft Lurie einen gewissen Konstant und einen gewissen Lipschitz, die er „deutsche Trotzkisten“ nennt, die aber ebenfalls kein einziger wirklicher Trotzkist kennt. (Nebenbei gesagt, weder Konstant noch Lipschitz sind vors Gericht gestellt oder als Zeugen vorgeladen. So war es auf diesem „mustergültigen“ Prozess eben an der Ordnung!)

Lurie „erzählte Konstant von der Anweisung über den Terror“. Im gleichen frischfröhlichen Tone antwortet Konstant Lurie, „das sei für ihn keine Neuigkeit“ [15] (das wusste er offenbar schon aus seiner Kindheit.)

Im August 1932 bekam die Gruppe N. Lurie von einem gewissen Franz Weiz (einem Agenten der faschistischen Geheimpolizei, nach den Worten des Prozessberichts) den Auftrag, ein Attentat auf Woroschilow zu verüben. In der Voruntersuchung hatte N. Lurie ausgesagt, die Vorbereitung dieses Attentats in Moskau habe „vom Herbst 1932 an bis Ende 1933“ gedauert. [16] Bei der Vernehmung aber sagte derselbe N. Lurie aus, dass er bereits im Juli 1933 nach Tscheljabinsk übersiedelt sei. Wenn N. Lurie im Juli 1933 nach Tscheliabinsk übersiedelte, fragt man sich, wie konnte er dann bis Ende 1933 in Moskau ein Attentat vorbereiten?

Wahrscheinlich um dies wieder wettzumachen, gibt N. Lurie vor Gericht eine neue Version zum Besten: „Wir haben uns damit (mit der Vorbereitung des Anschlags auf Woroschilow) von September 1932 bis zum Frühjahr 1933 beschäftigt.“ [17]

Bis Frühjahr oder bis Ende 1933? Das Gericht geht natürlich stillschweigend über diesen Widerspruch hinweg. Welche Pfuscharbeit die Voruntersuchung doch lieferte!

Worin nun aber besteht eigentlich die Vorbereitung des Attentats? Das Trio N. Lurie, Konstant und Lipschitz, das vor Gericht aus unerforschten Gründen einzig durch N. Lurie vertreten ist, beobachtet die Ausfahrten Woroschilows, das Auto „ist jedoch viel zu rasch gefahren. Auf ein raschfahrendes Auto zu schießen, ist aussichtslos“. [18] Nachdem sie sich überzeugt hatten, dass das Auto zu rasch fuhr, unterließen diese Unglücksraben von Terroristen die weitere Beobachtung der Autofahrten Woroschilows. Auf die Frage des Gerichtsvorsitzenden, was sie dann taten, erwidert N. Lurie, dass sie ihre Aufmerksamkeit auf die Beschaffung von Sprengstoffen lenkten, um den Terrorakt mittels einer Bombe auszuführen. Das Gericht macht keinen Versuch klarzustellen, ob Sprengstoff beschafft wurde wo, wann, wie, ob eine Bombe hergestellt wurde, usw. Damit ist die Sache zu Ende. Im Juli 1933 reist N. Lurie nach Tscheljabinsk, um dort als Arzt zu arbeiten. Aber auch vom fernen „Tscheljabinsk stellt N. Lurie seine terroristische Aktivität nicht ein.“ Er wartet ja darauf, dass irgendein Führer, Kaganowitsch oder Ordshonikidse, nach Tscheljabinsk komme. Doch sowohl Kaganowitsch wie Ordshonikidse fahren gleichsam absichtlich nicht nach Tscheljabinsk, jedenfalls begegnet N. Lurie dort niemandem von ihnen und begeht folglich auch kein Attentat. [19]

Das hindert Moissej Lurie nicht, auszuführen, „wie er einen Anschlag gegen den Gen. Ordshonikidse organisierte (!) ... Zu diesem Zweck wies M. Lurie den sich nach den Tscheljabinsker Traktorenwerken begebenden N. Lurie an, die etwaige Anwesenheit des Gen. Ordshonikidse in den Werken zur Realisierung des Terroraktes auszunutzen!“ [20]

Zweieinhalb Jahr verbringt N. Lurie in Tscheljabinsk mit vergeblichem Warten auf Ordshonikidse oder Kaganowitsch. Aber, wie das Sprichwort sagt, kommt der Berg nicht zu Mohamed, so geht Mohamed zum Berge: N. Lurie reist nach Leningrad. Auf der Durchreise durch Moskau erteilt ihm M. Lurie im Januar 1936 den Auftrag, „auf der Mai-Demonstration in Leningrad auf Shdanow zu schießen“. [21] Wozu Shdanow getötet werden sollte, ist unmöglich zu verstehen. Auf der Mai-Demonstration marschiert N. Lurie im Demonstrationszug, machte aber keinen Versuch zu schießen. Auf die Frage des Gerichtsvorsitzenden [22]: warum?, antwortet er: „Wir sind zu weit ab vorbeimarschiert“. [23] Und all dies dumme Zeug wird im Prozess als Attentate serviert!
 

Weiteres Attentat auf Woroschilow

Im Prozess war noch von der Vorbereitung eines weiteren Terroraktes gegen Woroschilow die Rede, das angeblich zwei hohe Militärpersonen, beide bekannte Helden des Bürgerkriegs, ausführen sollten: D. Schmidt und Kusmitschew. Beweise werden selbstverständlich keine angeführt. Weder Schmidt, noch Kusmitschew, noch die anderen terroristischer Tätigkeit beschuldigten Militärpersonen – Putna, Esterman, Gajewski – werden vorgeladen. Zur „terroristischen“ Aktivität Schmidts und Kusmitschews werden drei Angeklagte vernommen. Reingold sagte aus: „Ich weiß von Mratschkowski und Dreitzer, dass im Sommer 1933 ... eine trotzkistische Gruppe aus Militärpersonen organisiert wurde, bestehend aus Schmidt, Kommandeur einer Brigade der Roten Armee, Kusmitschew, Stabschef eines Truppenverbandes und einer Reihe (!) anderer Personen“. [24] Mratschkowski sagt aus, die Sache habe ein Jahr später stattgefunden. „Mitte 1934 berichtete mir Dreitzer, dass er gleichzeitig die Ermordung Woroschilows vorbereite; zu diesem Zweck sollte Dmitrij Schmidt unterwiesen werden ...“ [25] Dreitzer selbst erklärte bei seiner Vernehmung in der Staatsanwaltschaft, „zur Verübung des Terroraktes zog ich Esterman und Gajewski und 1935 Schmidt und Kusmitschew heran. Die letzteren übernahmen es, Woroschilow zu ermorden“. [26]

Somit widersprechen alle drei Aussagen (und andere Aussagen gibt es in dieser Sache nicht) einander radikal: 1933, 1934, 1935. Sie müssen daher als grobe Lügen verworfen werden.

* * *

Vor Gericht werden noch andere Attentate genannt, doch diese letzteren sind schon nichts weiter als leere Behauptungen. Sinowjew sagt z.B., „dass ihm zwei Versuche eines Attentats auf das Leben des Gen. Stalin bekannt seien, an denen Reingold, Dreitzer und Pikel beteiligt gewesen seien“. [27] Weder Dreitzer, noch Reingold sprechen von diesen „Versuchen“. Pikel dagegen sagt aus, „dass von Bogdan im Herbst 1933 ein neuer (?) Attentatsversuch gegen Gen. Stalin durchgeführt wurde“. [28] Er „macht des weiteren Ausführungen über die Vorbereitung des Terroraktes gegen den Gen. Stalin im Jahre 1934. Die Teilnahme Pikels bestand hier darin, dass er Bakajew mit Radin in Verbindung brachte“ [29] (letzterer steht ebenfalls nicht vor Gericht). Bakajew teilt ebenfalls mit, „dass im Oktober 1934 in Moskau unter Kamenews, Jewdokimows, sowie seiner eigenen, Bakajews, Leitung in Anschlag auf Stalin vorbereitet wurde ... Der Anschlag misslang“. [30] Und das ist alles.

Das Gericht nimmt teilnahmslos all diese Erklärungen zur Kenntnis, ohne den geringsten Versuch zu machen, Umstände, Charakter, Zeit, Ort usw. dieser „Anschläge“ aufzuklären. Das Fehlen jeglichen Details über diese Anschläge gestattet uns nicht, näher darauf einzugehen. [31]

Bemerken wir abschliessend, dass es in der Anklageschrift heisst: „dass das vereinigte trotzkistisch-sinowjewistische Zentrum in dieser Zeit eine Reihe von terroristischen Gruppen organisiert und eine Reihe praktischer Massnahmen zur Ermordung der Gen. Stalin, Woroschilow, Shdanow, Kaganovitsch, Kirow; Kossior, Ordshonikidse und Postyschew vorbereitet hat“. [32]

Vorstehend haben wir uns bemüht, sehr sorgfältig sämtliche Angaben über die Attentate zu sammeln und in ein System zu bringen, die im Prozessbericht verstreut sind. Macht man N. Luries Reise nach Tscheljabinsk zu einem „Anschlag auf Ordshonikidse und Kaganowitsch“, und seine Reise nach Leningrad zu einem „Anschlag auf Shdanow“, so bleiben immer noch „Postyschew, Kossior usw.“ Von Attentaten auf sie ist in dem ganzen Prozess nicht ein Wort zu finden. Das hat das Gericht nicht gehindert, ins Urteil folgenden Passus aufzunehmen: Die Gerichtsverhandlung hat auch festgestellt, dass das trotzkistisch-sinowjewistische terroristische Zentrum ... Terrorakte gegen die Gen. Kossior und Postyschew durch die ukrainische Terroristengruppe vorbereitete, die unter Leitung des Trotzkisten Muchin tätig war“. [33] Die ukrainische Terroristengruppe und auch der blosse Name ihres Führers Muchin sind im Prozess zum erstenmal überhaupt erst im Urteil genannt! Der Fall Muchin und seine Gruppe wurden offenkundig im letzten Augenblick improvisiert, um Postyschew und Kossior nicht zu beleidigen.

* * *

Ziehen wir die Bilanz auf Grund der gerichtlichen Angaben selbst: kein einziges Attentat hat es gegeben, nicht einen einzigen Attentatsversuch. Staatsanwalt Wyschinski ist nichtsdestoweniger der Meinung, alles sei so klar, dass er sich „von der Verpflichtung entheben kann ... das Material der gerichtlichen Untersuchung ... einer Analyse zu unterziehen“. [34] Und er fügt hinzu: „Die Hauptsache in diesem Prozess besteht darin, dass sie (die Angeklagten) ihre konterrevolutionäre Idee in die konterrevolutionäre Tat umgesetzt haben, ihre konterrevolutionäre Theorie in terroristische Praxis: sie sprechen nicht nur vom Schießen, sondern sie schießen – sie schießen und morden!“ [35]

Schießen also auch? Im Prozess jedenfalls ist eins mit keinem Wort erwähnt worden, nämlich dass irgendeiner der Angeklagten geschossen hätte. Es gab „Instruktionen“, „Gespräche“, „Vorbereitung“, „Versuche“, „Leute wurden bestimmt“, der Terror wurde bald „forciert“, bald „eingestellt“ – in Worten hat es das alles gegeben. Schüsse aber hat es keine gegeben. Kein einziges Attentat, kein einziger wirklicher Attentatsversuch ist vom Gericht festgestellt worden. Bald ist, wie ausgerechnet, der Abstand zum Schießen zu groß, bald marschiert der Terrorist zu weit vorbei, bald fährt das Auto zu rasch, bald ist der Terrorist in Stalinabad oder Tscheljabinsk, und Stalin wie zufällig in Moskau.

Dabei befanden sich gerade diese „Terroristen“ in außerordentlich günstiger Lage. Die gewöhnlichen Schwierigkeiten von Terroristen – Zugehörigkeit zu einer anderen sozialen Schicht, schlechte Kenntnis derer, gegen die der Anschlag verübt werden soll, Unmöglichkeit, in ihr Milieu einzudringen – all dies fehlte hier ganz.

Sinowjew, Kamenew, Smirnow, Mratschkowski. Bakajew und andere Abtrünnige der Opposition verkehrten in den Kreisen des Apparats. Sie hatten Zugang zum Kreml, zu jeder Behörde, einige sogar zu Stalins Sekretariat. Mratschkowski z.B. ist persönlich bei Stalin zum Empfang gewesen. [36] Es hätte ihm, so sollte es scheinen, nicht viel kosten sollen, auf Stalin seinen Revolver zu entladen. Die terroristischen Möglichkeiten der meisten der erschossenen bekannten Bolschewiki waren fast unbegrenzt. Obendrein halfen ihnen dabei vom Ausland her Trotzki, und in der USSR Dutzende, wenn nicht Hunderte von Leuten; es unterstützte sie überdies eine so mächtige Organisation wie die Gestapo! Und das Resultat? Null, null! Wenn es keine Morde gab, so nur darum, weil keine der erschossenen oder in den Prozess verwickelten Personen Morde vorbereitet hat, weil niemand von ihnen auch nur auf den Gedanken kam, im Terror einen Ausweg aus der stalinistischen Sackgasse zu suchen.

Ohne Kirows Ermordung hätte sich Stalin niemals entschlossen, all diese irsinnigen Lügen über den „Terror“ in Umlauf zu bringen. darum erst verband er künstlich die Realität – die Ermordung Kirows durch Nikolajew, ein Mord, mit dem kein Angeklagter dieses Prozesses irgendetwas zu tun hatte – mit all den anderen Erfindungen. Auf dieser künstlichen Verbindung beruht die zentrale Polizeikombination des Moskauer Prozesses. Die Realität des Kirowmordes musste auch den anderen nicht existierenden Attentaten einen Anschein von Realität verleihen.


Anmerkungen

1. Es ist sehr charakteristisch, dass fast alle von Trotzki „hinübergeschickten“ Terroristen: Berman-Jurin, Fritz David, Moissej, Lurie usw. im März 1933 in der Sowjetunion eintrafen. Ist das etwa damit zu erklären, dass sie in Wirklichkeit nicht von Trotzki, sondern von Hitler „hinübergeschickt“ wurden, als dieser in Deutschland mit Stalins und all seiner Berman-Jurins Hilfe die Macht ergriffen hatte? Während die deutschen revolutionären Arbeiter ins Konzentrationslager wanderten, fuhren die Leute des Stalinapparats, unter anderen auch Berman-Jurin, Fritz David usw., nach Moskau.

2. Prozessbericht, S.96.

3. Ebendort, S.116.

4. Ebendort, S.116.

5. Ebendort, S.26.

6. Ebendort, S.116.

7. Ebendort, S.96.

8. Siehe S.34/36.

9. Prozessbericht, S.91.

10. Ebendort, S.90.

11. Ebendort. S.92.

12. Ebendort, S.92.

13. Ebendort, S.92.

14. Ebendort, S.102.

15. Ebendort, S.103.

16. Ebendort, S.28.

17. Ebendort, S.104.

18. Ebendort, S.104.

19. Nichtsdestoweniger heisst es im Urteil, „Nathan Lurie ...versuchte (?), ...ein Attentat auf das Leben der Gen. Kaganowitsch und Ordshonikidse auszuführen“. Derselbe Nathan Lurie wird im Urteil beschuldigt, ein Attentat auch auf Stalin vorbereitet zu haben. Im Prozessbericht steht von einem Attentat auf Stalin kein Wort!

20. Ebendort, S.108.

21. Ebendort, S.105.

22. Der Gerichtsvorsitzende macht während des ganzen Prozesses keinen Versuch, die Widersprüche aufzuklären, die in der Verhandlung genannten Personen vorzuladen uzw., usw. Er zeigt aber plötzlich mächtiges Interesse für den Revolver, den N. Lurie hatte: ein Browning? Was für einer, ein mittlerer? Welch alberne Komödie!

23. Ebendort, S.106

24. Ebendort, S.36.

25. Ebendort, S.36.

26. Ebendort, S.36.

27. Ebendort, S.76.

28. Ebendort, S.63/64. In der deutschen Ausgabe des Prozessberichtes steht als Druckfehler „1935“ anstelle von „1933“ und „Anschlag versuchen sollte“ anstelle von „Attentatsversuch ... durchgeführt wurde“.

29. Ebendort, S.64.

30. Ebendort, S.60.

31. Wir lassen einen nun schon ganz, und gar anekdotischen Fall beiseite. Der „Terrorist“ Jakowlew, der mit der Safonowa der einzige Zeuge auf dem Prozess war (warum Zeugen, und nicht Angeklagte, ist unverständlich), sagte, Kamenew habe ihn beauftragt, eine Terroristengruppe ... in der. Akademie der Wissenschaften zu organisieren! (Prozessbericht, S.70).

32. Ebendort, S.37.

33. Ebendort, S.183.

34. Ebendort. S.161.

35. Ebendort, S.132.

36. Von diesem Empfang sagt Safonowa, dass „Mratschkowski, der uns (der Safonowa und I.N. Smirnow) über seine Unterredung mit Stalin erzählte, erklärte, der einzige Ausweg sei, Stalin zu ermorden“. (Prozessbericht, S.77). Wenn all dies nicht von vorn bis hinten erfunden ist (I.N. Smirnow bestreitet glattweg die Darstellung der Safonowa), so verlief die Geschichte wahrscheinlich folgendermaßen: Mratschkowski war, als er vom Besuch bei Stalin nach Hause kam, von diesem Besuch äußerst enttäuscht – darin liegt nichts Verwunderliches und hat tüchtig auf Stalin geschimpft. Damit „begründete“ dann Safonowa nachträglich die Anklage wegen Terror. Selbstverständlich ist das nur eine Hypothese.




Zuletzt aktualisiert am 7.07.2009