L. Sedov

Rotbuch über den Moskauer Prozess


Zur Einführung


Die drei großen Moskauer Prozesse der Jahre 1936–38 sind eines der augenfälligsten Symptome der Degeneration des ersten Arbeiterstaates. Die Liquidation der führenden Bolschewiki der erster Periode der UdSSR ist die sichtbare Spitze des Eisbergs jener umfassenden Liquidation kommunistischer Kader während der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre. Den „Säuberungen“ fielen nicht nur 98 Mitglieder des auf dem XVII. Parteitag gewählten ZK und mehr als die Hälfte der 1.956 Delegierten zum Opfer, sondern sie führten auch zur Deportation und teilweisen Erschießung einiger Millionen Menschen. (Chruschtschow, Bericht an den XX. Parteitag der KPdSU, 1956). Dieser systematische Versuch, jede tatsächliche oder vorgebliche Opposition auszuschalten, ist nicht auf revisionistische Weise mit „Verbrechen Stalins“ oder auf maoistische Weise mit „Fehlern Stalins“ zu erklären. Vielmehr ist es notwendig, die sozialen und historischen Bedingungen für die Entstehung des bürokratischen Zentrismus zu benennen, um die Praxis seiner Funktionäre zu begreifen.

Das Rotbuch über den Moskauer Prozess des 1938 in Paris von der GPU ermordeten Leo Sedow klärt diese Bedingungen nicht. Auch im Rahmen dieser Einführung ist es allenfalls möglich, einige Hinweise zu diesem Problem der Entwicklung der Übergangsgesellschaften zu geben. Nach dem „Prozess der 16“ ging es Sedow vorwiegend um die Analyse der Mechanik des Prozesses, seiner konstruierten Beschuldigungen und Geständnisse. Diese Analyse wies zum einen die Unhaltbarkeit der Anschuldigungen gegen Smirnow, Kamenjew, Sinowjew und die anderen Angeklagten nach; zum anderen diente sie dem Beleg, dass die Linke Opposition mit den Beschuldigten in keiner Verbindung stand. Dem heutigen Leser des Rotbuches wird auffallen, dass Sedow den Verlauf der entscheidenden Kontroverse innerhalb der Arbeiterbewegung zwischen linker Opposition und bürokratisch-zentristischem Apparat nur soweit darstellt, wie ein unmittelbarer Bezug zum Prozess besteht. Um die Einordnung dieses historischen Dokuments der Linken Opposition zu erleichtern, scheint es uns angebracht zu sein, den Verlauf der Auseinandersetzung in groben Umrissen zu skizzieren.

Die Entwicklung der Jahre 1917–21 brachte die Sowjetunion in eine denkbar ungünstige Ausgangsposition zur Verwirklichung des bolschewistischen Programms. Die Revolutionen in Westeuropa waren ausgeblieben oder gescheitert, die ökonomische Situation hatte sich verschlechtert, Bürgerkrieg und Intervention der 14 Mächte trugen zur Verschärfung der Lage bei. Unter dem Druck der Verhältnisse waren eine Reihe der Elemente der Arbeiterdemokratie aus dem Leben der Sowjetunion wieder verschwunden und war vor allen Dingen der Charakter der Räte verwandelt worden. Nach und nach entglitt ihnen die Kontrolle der Beamten und angestellten Spezialisten. Der Parteiapparat verschmolz mit dem Staatsapparat und auf dem IX. und X. Parteikongress der KPR kam es zur ersten heftigen Debatte über die Bürokratisierung und den Charakter der Sowjetunion. Während der Verhandlung der Gewerkschaftsfrage nahmen die Vertreter der „Arbeiteropposition“ um Schljapnikow und Kollontai Trotzkis alten Substitutionalismusvorwurf aus dem Jahre 1903 wieder auf, Schljapnikow hielt Lenin vor:

„Wladimir Iljitsch sagte gestern, dass das Proletariat als Klasse im marxistischen Sinne in Rußland nicht existiere. Erlauben Sie mir, Ihnen zu gratulieren, dass sie die Avantgarde einer nicht existierenden Klasse sind.“

Lenin kam in der weiteren Debatte nicht umhin, den realen Kern der Aussage, das Mißverhältnis zwischen Bauern und Proletariat anzuerkennen und die Sowjetunion als „bürokratisch deformierten Arbeiterstaat“ zu bezeichnen auf dessen Partei die Bürokratie „zersetzend“ wirke. Gegenüber Trotzki verteidigte er die „Arbeiteropposition“:

„Gen. Trotzki spricht vom ‚Arbeiterstaat‘. Mit Verlaub, das ist eine Abstraktion. Als wir 1917 vom Arbeiterstaat schrieben, war das verständlich; sagt man aber jetzt zu uns: Wozu und gegen wen soll die Arbeiterklasse geschützt werden, wo es doch keine Bourgeoisie gibt, wo wir doch einen Arbeiterstaat haben, so begeht man einen offensichtlichen Fehler. Es ist nicht ganz ein Arbeiterstaat, das ist es ja gerade ... wir haben in Wirklichkeit nicht einen Arbeiterstaat, sondern einen Arbeiter- und Bauernstaat. Das zum ersten. Daraus aber folgt sehr viel ... aber nicht genug damit. Aus unserem Parteiprogramm… ist bereits ersichtlich, dass unser Staat ein Arbeiterstaat mit bürokratischen Uuswüchsen ist. Ja, mit diesem traurigen – wie soll ich mich ausdrücken? – Etikett mußten wir ihn versehen. Da haben Sie die Realität des Übergangs ... Unser heutiger Staat ist derart beschaffen, dass das in seiner Gesamtheit organisierte Proletariat sich schützen muß, wir aber müssen diese Arbeiterorganisationen zum Schutz der Arbeiter gegenüber ihrem Staat und zum Schutz unseres Staates durch die Arbeiter ausnutzen.“ (Lenin, Werke, Bd.32. S.6 seq)

Die Partei sollte die Rückkehr zu den seit der Pariser Commune zum Konzept der Kommunisten gehörenden Form der Diktatur des Proletariats garantieren; die Gewerkschaften in den Betrieben die Durchführung der Arbeiterkontrolle sichern. Um dieses Ziel zu erreichen und auch den Einfluss auf die Bauernmassen zentral zu erhalten, wurde nach der äußerst heftigen Gewerkschaftsdebatte zur Verhinderung der Organisationsspaltung das Fraktionsverbot in der KPdSU beschlossen. In den folgenden zwei Jahren machten Lenin wie Trotzki den Versuch, den objektiven Faktoren der Bürokratisierung entgegenzustehen und vor allem die subjektiven Auswirkungen zu bekämpfen. Die Parteispitze negierte die objektive Entwicklung jedoch zum Teil und war darüber hinaus schon zu deren Träger geworden. Indem die Partei versuchte, die Entwicklung durch innerparteilich-administrative Maßnahmen einzudämmen, beschleunigte sie tatsächlich den Bürokratisierungsprozess.

Nach Lenins Tod wurden die Bemühungen der Bürokratisierung entgegenzuwirken endgültig aufgegeben; in der mit Beamten durchsetzten Partei entstand der Wechselbalg des bürokratischen Zentrismus. Die neue Führung der UdSSR war auf der einen Seite genötigt, sich den durch die Oktoberrevolution geschaffenen sozialen Verhältnissen anzupassen, auf der anderen Seite schuf ihre politische Stellung den Zugang zu Privilegien, die gegenüber der Arbeiterklasse verteidigt werden. Waren Fraktionsverbot und andere innerparteiliche Maßnahmen als Notlösungen angelegt gewesen, wurden sie jetzt perpetuiert.

Auf dem XIII. Parteitag kam es zur ersten Kontroverse zwischen Trotzki und dem Triumvirat Stalin, Molotow und Kuibischew. Trotzki wurde zum Widerruf seiner Position aufgefordert, was eine Neuheit in der Geschichte der Partei darstellte. Bis 1925 formierten sich das stalinsche Zentrum, die rechte Fraktion um Bucharin und Rykow, sowie eine linke Tendenz um Sinowjew und Kamenjew, aus der im folgenden Jahr die Vereinigte Linksopposition Trotzki, Sinowjew, Kamenjew hervorging. In der politischen Auseinandersetzung kristallisierten die Tendenzen an der Frage, wie das Auseinanderklaffen von landwirtschaftlicher und industrieller Produktion überwunden werden könnte. Bucharin formulierte seine berühmte These zu Gunsten der Kulacken „Bereichert Euch!“, während die Vereinigte Linksopposition die Industrialisierung unter Kontrolle der in den Gewerkschaften organisierten Arbeiter im Rahmen eines nationalen Planes forderte, um so die Voraussetzungen einer allmählichen Kollektivierung auf der Grundlage mechanisierter Landwirtschaft zu schaffen. Preobraschenskys ökonomische Theorie und die mit ihr korrespondierende Forderung der Übergabe der Macht an Organe der Arbeiterklasse führten zum Ausschluß Trotzkis aus dem Politbüro und zur Absetzung Sinowjews als Vorsitzenden der Komintern.

Die Auseinandersetzung verschärfte sich, als der bürokratische Apparat unter Führung Stalins und Bucharins zum Scheitern des englischen Generalstreiks 1926 beitrug und die KP Chinas in das verhängnisvolle Bündnis mit der Kuomintang trieb.

Die Linksopposition begann sich international zu verbreitern und berief sich auf die Theorie der permanenten Revolution als Ausdruck des realen revolutionären Prozesses.

Der XV. Parteitag führte zum Zerfall der Vereinigten Linksopposition. Der Parteitag beschloss die Kollektivierung der Bauern und die Industrialisierung. Der größte Teil der Oppositionellen kapitulierte nach der scheinbaren Erfüllung der ökonomischen Forderungen und gab den politischen Tell des Programms auf. Die revolutionären Führer der ersten Periode wurden von nun an zu Werkzeugen im Kampf gegen die Opposition. Ihr moralischer und politischer Zerfallsprozess wird in seinen verschiedenen Stadien von Sedow geschildert und ist einer der wesentlichen Voraussetzungen des späteren Verlaufs der Moskauer Prozesse.

Die Lösung der ökonomischen Probleme der UdSSR bildeten auch in der folgenden Zeit einen Schwerpunkt der Auseinandersetzung zwischen Linker Opposition und Bürokratie. Die Opposition sprach sich für die Industrialisierung bei progressiver Besteuerung der Kulaken aus um über diesen Weg einen Akkumulationsfonds zu schaffen. Die kleinen Bauern sollten durch die Verwohlfeilerung ihrer technischen Ausstattung für die kollektive Produktion gewonnen werden. Die Arbeit in den Kolchosen sollte nach industriellen Prinzipien organisiert werden, damit eine tendenzielle Aufhebung des Unterschiedes von Stadt und Land erfolge. Die Alternative der Bürokratie war nicht mehr als die Neuauflage der Parole „Bereichert Euch!“. Bucharin hoffte, über leistungsfähige Großhöfe die sich abzeichnende Versorgungskrise der Städte überwinden zu können. Die Linke Opposition antwortet auf dieses Konzept mit dem Vorwurf, die Rekapitalisierung werde vorangetrieben und warnte vor der Aushungerung der Städte.

1929 war die Befürchtung der Linken Opposition Wirklichkeit geworden und Stalin blies zum Angriff auf die Kulaken. Die Zwangskollektivierung führte zu heftigsten Reaktionen der Bauern, bis 1934 wurden 30 Millionen Stück Großvieh geschlachtet, der Pferdebestand ging um mehr als die Hälfte zurück. Die allgemeine Verschärfung der ökonomischen Situation führte zur Forderung der vorzeitigen Erfüllung des Fünfjahresplans, erste Prozesse deuteten eine wachsende Opposition an, die sich jedoch – sieht man von der Linken Opposition ab – nicht organisatorisch niederschlug, sondern vereinzelte Morde zur Folge hatte.

In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre wurde zunehmend deutlich, dass der erste Versuch, Trotzki aus dem politischen Geschehen auszuschalten, seine Verbannung aus der UdSSR nicht zum Erfolg geführt hatte. Ab 1934 setzte unter dem Eindruck des historischen Versagens der KPD und Komintern im Kampf gegen den deutschen Faschismus die Debatte um die Gründung der IV. Internationale ein. Hatte die Linke Opposition bis dahin innerhalb der Komintern als Fraktion gearbeitet, so vollzog sie 1934 die endgültige Trennung. Nachdem der unmittelbare ökonomische Druck in der UdSSR gewichen war, reagierte die Bürokratie mit der vorsorglichen Ausschaltung aller möglichen Opponenten, wozu die Ermordung Kirows den Anlass bot. Die Anklagen glichen sich, Spionage, Mord, Sabotage etc. ihr Ziel war eindeutig. Die alten Bolschewiki wurden als Konterrevolutionäre und Verräter dargestellt und Trotzki und die Linke Opposition mit ihnen in Verbindung gebracht, um so mit dem in der UdSSR ungebrochen hohen Ansehen der Führer der Oktoberrevolution zugleich den nicht faßbaren Gegner Trotzki zu vernichten – Deutscher bezeichnet Trotzki zu recht als den eigentlich en Hauptangeklagten der Moskauer Prozesse.

Auch der zweite Versuch, des bürokratisch-zentristischen Apparats, Trotzki und somit die Linke Opposition, die einzige verbliebene Alternative zu seiner eigenen Herrschaft, auszuschalten scheiterte. Dazu trugen sowohl die eigenen Veröffentlichungen Trotzkis, als auch das Rotbuch Leon Sedows bei; in erster Linie jedoch das Urteil der Dewey-Kommission, die sämtliche greifbaren Unterlagen untersuchte und, obwohl ausschließlich aus Gegnern Trotzkis bestehend, zu dem Schluss kam, dass „die Moskauer Prozesse vom August 1936 und Januar 1937 den Höhepunkt einer Reihe von Unterdrückungsmaßnahmen bedeutete, die gegen eine politische Opposition gerichtet waren.“

1938, zwei Jahre nach dem „Prozess der 16“ und zwei Jahre vor der Ermordung Trotzkis begann der Aufbau der IV. Internationale.

Hamburg, 1971
ISP-Verlag




Zuletzt aktualisiert am 7.07.2009