Jakob Stern


Gott? Gottglaube oder Atheismus?


Französischer Materialismus und deutsche Philosophie

Der hüllenlose Atheismus wurde mit rücksichtsloser Kühnheit vertreten von den französischen Enzyklopädisten, den Vorläufern der großen Revolution, am kräftigsten von La Mettrie (1709-1751), der den Satz aufstellte: die Welt werde nicht eher glücklich sein, als bis der Atheismus allgemein herrschend geworden. Er war der ideologische Vorbote des politischen Jakobinismus; die Guillotine für den Theismus, der bald die Guillotine für Louis XVI. folgte.

Weit manierlicher, mit philosophischer Gründlichkeit, ist um dieselbe Zeit in dem politisch rückständigen Deutschland der tiefe Denker Kant dem Theismus zu Leibe gegangen. Er untersuchte das innerste Wesen der menschlichen Erkenntnis und gelangte in Bezug auf den Gottglauben zu dem Ergebnis, daß er auf Sand gebaut ist. Zugleich vernichtete er mit kritischer Schärfe und Unerbittlichkeit die hergebrachten Scheinbeweise für das Dasein Gottes. Es sind deren vier.

  1. Der ontologische (vom griechischen on, das Seiende). Der Scholastiker Anselm von Canterbury, Bischof (1070-1109), hat ihn aufgebracht. Der Kuriosität halber sei er mitgeteilt: „Gott ist das höchste, was gedacht werden kann. Würde nun Gott nur in Gedanken, nicht aber wirklich existieren, so könnte ein höheres gedacht werden, das nämlich auch wirklich existierte. Als das höchste, was gedacht werden kann, muß daher der Begriff Gottes auch die Existenz einschließen“. Kant bemerkt mehr witzig als tief: „Hundert wirkliche Taler enthalten nicht das geringste mehr als hundert mögliche“.
  2. Der kosmologische (vom griechischen kosmos, Welt). Es ist der Schluß vom Dasein der Welt auf einen Schöpfer. Er ist ebenso windig, als der vorige, denn das Bleibende im Wechsel der Erscheinungen, die Substanz, kann ebenso von Ewigkeit her vorhanden sein, wie ein göttlicher Schöpfer, und ist es in der Tat. Das Werden und Vergehen aber erklärt sich hinlänglich aus den ewigen Kräften der Substanz. Es ist, wie wenn ein Kind auf das Vorhandensein eines unsichtbaren menschlichen Schiebers eines Automobils schließen würde.
  3. Der teleologische (vom griechischen telos, Zweck). Aus der zweckmäßigen Einrichtung der Natur wird das Vorhandensein eines intelligenten Verfertigers gefolgert. Ist denn aber diese Zweckmäßigkeit durchweg vorhanden? Jedes Leiden beweist das Gegenteil. Schon der erwähnte Lucretius Carus führt eine ganze Reihe von Unzweckmäßigkeiten in der Natur dagegen auf. Soweit sie aber wirklich vorhanden, beweist sie noch lange nichts für das Dasein Gottes, denn diese Zweckmäßigkeit kann sehr wohl immanent sein, d.h. in der Natur selbst ihre Ursachen haben, was in der Tat bereits von der Naturwissenschaft für viele Fälle nachgewiesen ist, so namentlich vom Darwinismus und seine Fortentwicklung, obzwar bislang ungenügend.
  4. Der moralische. Es ist der Schnurrigste von allen. Woher die moralischen Triebe und Gesinnungen und die moralische Weltordnung ohne Gott? argumentiert er. Allein abgesehen davon, daß die Moral nach Völkern, Klassen und Zeiten sehr verschieden und wandelbar und daß der natürliche Ursprung jeder Moral sehr durchsichtig ist – steht und stand es bekanntlich zu allen Zeiten mit der Moral unter den Menschen und in der Weltordnung verwünscht schief. Die Unmoral ist vielmehr die Regel, nicht Gerechtigkeit, Erbarmen, Liebe, sondern Gewalttätigkeit, Roheit, Hartherzigkeit, Ausbeutung, Unterdrückung führen noch immer das Ruder, und zwar trotz der berühmten Nemesis großenteils ungestraft. Daraus wäre also vielmehr auf das Gegenteil zu schließen, nämlich den Atheismus.

Und dieser Schluß ist denn auch oft genug gezogen worden, am temperamentvollsten wohl von dem bedeutenden schwäbischen Gelehrten, Denker und Dichter Fr. Th. Vischer:

Wir haben keinen
Lieben Vater im Himmel.
Sei mit dir im Reinen!
Man muß aushalten im Weltgetümmel
Auch ohne das.
Was ich alles las
Bei gläubigen Philosophen,
Lockt keinen Hund vom Ofen.
Wär’ einer droben in Wolkenhöh’n
Und würde das Schauspiel mitanseh’n,
Wie mitleidlos, wie teuflisch wild
Tier gegen Tier und Menschenbild,
Mensch gegen Tier und Menschenbild
Wütet mit Zahn, mit Gift und Stahl,
Mit ausgesonnener Folterqual:
Sein Vaterherz würd’ es nicht ertragen,
Mit Donnerkeilen würd’ er dreinschlagen,
Mit tausend heiligen Donnerwettern
Würd’ er die Henkersknechte zerschmettern!

Zurück zu Kant. Nachdem er in seiner Kritik der reinen Vernunft aller Theologie mit seinem kritischen Fallbeil den Kopf abgeschlagen hatte, hat er zur Überraschung aller Welt in seiner Kritik der praktischen Vernunft den Gottglauben wieder zum Leben galvanisiert: Die Menschen brauchen einen Gott zu praktischen Zwecken, von wegen der Moral – als ob sich nicht die ärgste Niederträchtigkeit mit der aufrichtigsten Gottgläubigkeit von jeher aufs beste vertragen hätte! – also sollen sie ihn haben, wenn ihm auch die reine Vernunft die Existenz abspricht.

Hätte Kant diese Theorie einer Vernunft mit doppeltem Boden bloß konstatiert, so wäre ja nichts dagegen einzuwenden. Denn tausendfältig zeigt sich in der Geschichte und im Leben, daß die Menschen für wahr halten, was ihren Neigungen und Zwecken zusagt, mag die reine Vernunft noch so unwiderleglich das Gegenteil beweisen. Der Theismus selbst ist ja ein eklatantes Beispiel dafür und – vielleicht Kant selbst. Ergötzlich schrieb Heine in seinem Buch Über Deutschland dazu: „Ihr meint, wir könnten jetzt nach Hause gehen? Bei Leibe! Es wird noch ein Stück aufgeführt. Nach der Tragödie kommt die Farce. Immanuel Kant hat den Himmel gestürmt, die ganze Besatzung über die Klinge springen lassen, der Oberherr der Welt schwimmt unbewiesen in seinem Blute, es gibt jetzt keine Allbarmherzigkeit mehr, keine himmlische Vatergüte ... Das röchelt, das stöhnt – und der alte Lampe (Kants Diener) steht dabei mit seinem Regenschirm unterm Arm, als betrübter Zuschauer, und Angstschweiß und Tränen rinnen ihm vom Gesicht. Da erbarmt sich Immanuel Kant und zeigt, daß er nicht bloß ein großer Philosoph, sondern auch ein guter Mensch ist, und er überlegt, und halb gutmütig und halb ironisch spricht er: der alte Lampe muß einen Gott haben, sonst kann der arme Mensch nicht glücklich sein. Der Mensch soll aber auf der Welt glücklich sein, das sagt die praktische Vernunft. Meinetwegen, so mag auch die praktische Vernunft die Existenz Gottes verbürgen. Wie mit einem Zauberstäbchen belebte er daher wieder den Leichnam des Theismus, den er zuvor getötet. Hat vielleicht Kant diese Wiedererweckung nicht bloß des alten Lampe wegen, sondern auch der Polizei wegen unternommen?“ Letzteres ist nicht ganz unwahrscheinlich.

Entschieden atheistisch war dagegen die Philosophie von J.G. Fichte, des großen Schülers und Nachfolgers Kants, wiewohl auch er den Namen Gott für die moralische Weltordnung beibehielt. Er mußte seinen Atheismus mit seiner Entfernung vom Lehrstuhl in Jena büßen. Über den Zickzackkurs von Schelling und die im Zwielicht schillernde Hegelsche Meinung können wir hinweggehen.

In der Folgezeit ging es mit dem Theismus immer weiter bergab. Die Vulgärmaterialisten, von denen Büchner (Kraft und Stoff) der bekannteste, propagierten den Atheismus in weiten Kreisen, und die Arbeiterbewegung in ihren noch unklaren Anfängen vertrat ihn vielfach programmatisch. Schopenhauer, mit dem eine neue Philosophengeneration anhebt und sein kürzlich verstorbener Fortbildner Hartmann, verbreiten ihn in den oberen Schichten, desgleichen der neueste Philosoph-Poet in Prosa Fr. Nietzsche.


Zuletzt aktualisiert am 9.8.2008