Jakob Stern


Gott? Gottglaube oder Atheismus?


Klassengötter (Götter der Volksklassen)

In den alten Gentilverbänden mit urwüchsigem Kommunismus war der Stammesgott naturgemäß der Gott aller Gentilgenossen. Das war auch noch lange hernach der Fall, als schon das Privateigentum eine Klassenspaltung herbeigeführt hatte und die Kluft zwischen Besitzenden und Besitzlosen sich mehr und mehr erweiterte. Die letzteren ertrugen ihre Lage mit passiver Resignation, solange dieselbe noch leidlich erträglich blieb. Die Wohlhabenden und Reichen, die Glücklichen überhaupt, galten eben als die Günstlinge des Nationalgottes, zumal sie ihm reichliche Opfergaben spenden und opulente Feste feiern konnten, die Armen und Leidenden standen bei ihm wegen irgendeiner gemutmaßten Schuld in Ungnade; eine Anschauung gegen die beiläufig das Buch Hiob gerichtet ist (siehe das gleichnamige Schauspiel von L. Adler, Reclams Universalbibliothek 2969), oder wegen einer Schuld der Vorfahren (Oedipus).

Das änderte sich, als die Klassengegensätze zu krasser Schroffheit sich erweitert hatten und die Besitzlosen und Schwachen unter Druck und Gewalt der Reichen, Vornehmen, Mächtigen maßlos litten. Nun fingen sie an, dagegen zu reagieren und zwar zunächst durch Zusammenschluß, zum Teil in förmlichen Vereinen oder geheimen Klubs, um einander durch wechselseitige Hülfe beizustehen und über Umgestaltung der sozialen und politischen Zustände zu beraten. Manche dieser Klubs hatten einen ausgeprägt kommunistischen Charakter. Eine Zusammenstellung dieser unter verschiedenen Namen in der antiken Literatur erwähnten Vereine findet man in dem hochinteressanten Buch von Albert Kalthoff: Die Entstehung des Christentums, 6. Kap., woselbst auch zu ersehen, daß diese geschichtlich weit zurückreichenden Vereine einen religiösen Zuschnitt hatten und einen Gott oder Heros als Patron verehrten. Ein solcher war eben der Klassengott, der Gott der besitzlosen Klasse.

Nach den Schriften der sog. Propheten muß die Lage des Volkes in den späteren Jahrhunderten des jüdischen Staates eine furchtbare, die Ungerechtigkeit und Gewalttätigkeit der oberen Schichten ungeheuerlich gewesen sein. Die donnernden Anklagen, welche gegen diese geschleudert werden, haben in den leidenschaftlichen und feurigsten Reden späterer Revolutionsepochen kaum ihresgleichen. Diese Propheten – wie das hebräische Wort des Originaltextes nabi fälschlich und irreführend übersetzt wird, statt Redner, Volksredner – waren eben die Wortführer, Sachwalter, Volkstribunen der besitzlosen und unterdrückten Klasse gegen die Unterdrücker. Von einem sozialen, man kann sagen sozialistischen Geist (im weiteren Sinne natürlich) sind ihre markigen Reden durchpulst. Recht und Gerechtigkeit, Schutz und ausreichende Hülfe für die Armen und Schwachen fordern sie von den Königen, dem Adel, den Richtern, den Reichen und Wohlhabenden, erklären sie als vornehmlichste religiöse Pflicht, und in fulminanten, prächtigen und geistvollen Ausführungen predigen sie, daß der Rationalgott Jahve nicht Opfer und Feste und Gebet verlange, sondern Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Brüderlichkeit gegenüber den unteren Klassen (Jesaia Kap. 1, Kap. 58, Micha 6, 1-8, Psalm 50 und viele andere Stellen). Aus diesen Prophetenkreisen sind zweifellos auch die in der Antike einzig dastehenden mannigfaltigen Vorschriften in der sog. mosaischen Gesetzgebung hervorgegangen, welche die Linderung der Not der Besitzlosen bezwecken. Den alten Nationalgott, ehemals wie alle Götter ein Protektor der Mächtigen und Reichen, haben sie zu einem Gott der Besitzlosen umgebildet, seinen Kultus mit sozialem Geist erfüllt, ihn zum Beschützer und Anwalt der unteren Volksklassen gestempelt.

Diese Männer waren aber auch Patrioten im besten Sinne des Wortes und das hing mit diesem ihrem Sozialismus aufs engste zusammen. Die herrschende Klasse neigte immer zum politischen Anschluß an auswärtige Völker, besonders an die großen Weltmächte; daher ihr leidenschaftlicher Hang zum sog. Götzendienst, d.h. zum Kultus der Götter des Auslandes, was gleichfalls von den Propheten so scharf gegeißelt wird. Das Land Palästina war ein armes Land trotz seinem Ruf als „gelobtes“ Land, „wo Milch und Honig fließt“. Nur den ehemaligen Beduinen, was ja die Israeliten der Vorzeit waren, erschien es als gesegnetes Land (wie u.a. Professor Sepp auf Grund eigener Forschungen nachwies). In Raubzügen und Eroberungskriegen mittels Anschluß an fremde Völker und mit ungemilderter Klassenbrutalität wollten die Könige, der Adel, die oberen Schichten immer mehr Reichtümer erbeuten, lediglich im Interesse ihrer Macht- und Habgier und Üppigkeit. Dieser Klassenpolitik der oberen Schichten und ihrer Ideologie, dem Kultus fremder Götter, galt der Kampf der Propheten für den Gott der Väter, Jahve, den Gott aus den Zeiten der kommunistischen Gentilverfassung, als die Klassenspaltung noch nicht eingetreten war, der sich daher vortrefflich zum Gott der unteren Klassen eignete.

Vermutlich ist deshalb auch der alte, gleichfalls aus der Gentilzeit stammende Gott Saturnus in Rom von den Besitzlosen und Sklaven als Gott ihrer Klasse auf den Schild erhoben und an den bekannten „Saturnalien“ (um die Weihnachtszeit) gefeiert worden, an denen die Herren ihre Sklaven bedienen mußten u. dgl. Auch Mithras, der bekannte aus Persien stammende und auch im römischen Reich vielfach, namentlich in den unteren Klassen verehrte Gott, dessen Kultus so viel Ähnlichkeit mit dem christlichen hatte, gehört höchstwahrscheinlich in die Kategorie dieser Götter der besitzlosen Klassen. Daß vollends Jesus Christus ursprünglich ein solcher vom Heros zum Gottessohn und Gott avancierter frei erfundener (wenn auch unter Anlehnung an ein sagenhaft überwuchertes Faktum) Patron der unteren Klassen war, hat Kalthoff in dem angeführten Buch höchst plausibel gemacht.

Zurück zu Jahve. Der von den Propheten für ihn und gegen die „Götzendienerei“ geführte Kampf war nach obigem der ideologische Ausdruck einer sozialistisch-patriotischen Bewegung gegen die soziale Brutalität von oben. Den jüdischen Staat zu einem Staat der sozialen und politischen Gerechtigkeit zu gestalten, war das Ideal der prophetischen Vorkämpfer für die Besitzlosen.


Zuletzt aktualisiert am 9.8.2008