Jakob Stern


Gott? Gottglaube oder Atheismus?


Überwindung des Fanatismus

Mit der Entwicklung der Warenproduktion und des Weltverkehrs brach sich das freie Denken mehr und mehr Bahn und entwand dem religiösen Fanatismus seine mörderischen Waffen. Die Reformation, eine sehr materielle Revolution der beginnenden bürgerlichen Ära gegen die römische Hierarchie, erzwang sich, unter religiöser Flagge, mit der Befreiung der Niederlande, dem Edikt von Nantes und dem Westfälischen Frieden Duldung, und wiewohl die neue Kirche gegen Ketzereien und gar gegen die Erzketzerei des Atheismus nicht viel weniger verfolgungssüchtig war als die papistische, konnte doch der allmähliche Triumph der Denkfreiheit über die Geistesknechtung nicht verhindert werden, zumal Philosophie und Naturwissenschaften immer lebenskräftiger aufblühten, von der neuen Produktionsweise begünstigt und gefördert, und immer weiter ins Volk drangen.

Der Franzose Chatillon (Castellio lateinisiert), ein hervorragender Gelehrter und Kritiker, Freund Calvins, aber dann grausam von diesem Fanatiker verfolgt, von seinen Professuren in Genf und Basel vertrieben und in tiefstem Elend gestorben, erhob zuerst die unbeschränkte religiöse Duldung zum Prinzip. Der erste philosophische und staatsrechtliche Begründer desselben war der philosophische Heros Spinoza (1624-1677) in seinem Theologisch-politischen Traktat. Unter den erfolgreichsten Vorkämpfern desselben ragt sodann Voltaire hervor (1694-1778), der Zeitgenosse unseres Lessing, des Dichters des Hohenlieds religiöser Toleranz (Nathan der Weise). Und im glorreichen Revolutionsjahre 1789 errang sich das Prinzip staatliche Anerkennung in der Erklärung der Menschenrechte durch die Nationalversammlung.

Erster gründlich philosophischer Begründer des Atheismus ist der bereits genannte Spinoza. Zwar enthalten seine Werke nirgends eine Stelle, worin klipp und klar das Dasein Gottes geleugnet wird. Im Gegenteil bildet der Begriff „Gott“ die Zentralidee seines Systems. Allein mit diesem Wort verbindet er einen ganz anderen Sinn als den gewöhnlichen. Gemeint ist damit, was in der vulgären Sprache „Natur“ oder „Universum“ (das „All“), was in seinem eigenen philosophischen System Substanz heißt. Weshalb aber bediente sich Spinoza dieses Wortes? Nicht aus Feigheit, wiewohl auch in Holland, wo er lebte, damals noch der Atheismus arg verfemt war. Da die Bezeichnung der Natur als Gott auch später und noch heute häufig ist, soll näher hierauf eingegangen werden.


Zuletzt aktualisiert am 9.8.2008