Josef Strasser

Die Musterpartei der internationalen Sozialdemokratie

(1925)


Die Musterpartei der Zweiten Internationale; Die Kommunistische Internationale Nr. 2/1925
Abgedruckt in Josef Strasser: Der Arbeiter und die Nation, Wien, Junius Verlag, 1982, S. 81ff.
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So nennen sich heute mit Stolz die österreichischen Sozialdemokraten, und sie nennen sich nicht nur so, sie benehmen sich auch danach: Haben sie sich früher oft und gern als Schüler der „vorbildlichen“ deutschen Sozialdemokratie bekannt, so treten sie nun ihr gegenüber als gestrenge Schulmeister auf, ja, sie zeigen nicht übel Lust, auch die übrigen Parteien der II. Internationale in die Lehre zu nehmen, sich als Vorbild für die ganze reformistische Welt zu etablieren. Das ist keineswegs ein Symptom von Größenwahn, nur der Ausdruck eines durchaus berechtigten Selbstbewußtseins. Wer die Ansichten und Methoden des Reformismus für richtig hält, der wird der österreichischen Sozialdemokratie zugestehen müssen, daß die Ansprüche, mit denen sie nun in ihrer Internationale auftritt, wohlbegründet sind. Ist denn diese Partei nicht in der Tat eine ganz einzig dastehende Erscheinung? Man vergleiche sie mit irgendeiner von ihren Bruderparteien, gleichviel ob es die Sozialdemokratie des besiegten Deutschlands oder die Sozialistische Partei eines Siegerstaates oder eines neutralen Staates ist – der Vergleich wird stets zu ihren Gunsten ausfallen. Nicht nur sind die Nöte der Kriegs- und Vorkriegszeit an ihr anscheinend spurlos vorübergegangen, sie ist in diesen Nöten sogar stark gewachsen. Im Dezemberheft der Hilferdingschen Gesellschaft hat Robert Danneberg zu Nutz und Frommen der reformistischen Parteien, denen es nicht gelungen ist, den Kriegs- und Nachkriegsgefährlichkeiten auch nur mit heiler Haut zu entrinnen, eine Darstellung dieser erstaunlichen Entwicklung gegeben. Danneberg ist kein Leichtfuß, keine Phantast, sondern der solideste und bedächtigste Mann in der österreichischen Sozialdemokratie. Er gibt keine pathetische Schilderung, er will nur durch trockene Zahlen und Tatsachen eine entsprechende Wirkung erzielen. Diese sind in der Tat respektabel:

Die österreichische Sozialdemokratie hatte am 30. Juni 1913 89.628, am 30. Juni 1919 332.391, am 30. Juni 1924 566.124 Mitglieder. Sie hat die Zahl ihrer Mitglieder in wenigen Jahren versechsfacht. Von der Gesamtbevölkerung Österreichs (6,3 Millionen) steht heute jeder elfte, von der männlichen Bevölkerung jeder siebente Mensch in der sozialdemokratischen Organisation. Vergleicht man die Zahl der organisierten Sozialdemokraten mit der Mitgliederzahl der freien Gewerkschaften, so ergibt sich, daß die sozialdemokratische Organisation 50,46 Prozent aller Männer und 75,61 Prozent aller Frauen, insgesamt 63,13 Prozent des Mitgliederbestandes der Gewerkschaften erreicht. Bei den letzten Nationalratswahlen (21. Oktober 1923) bekamen die Sozialdemokraten bei einer Wahlbeteiligung von 86,95 Prozent 1.311.870 Stimmen, d.i. 39,6 Prozent aller abgegebenen Stimmen. Auf die Kommunisten entfielen nur 22.164 Stimmen, d.i. 0,67 Prozent der abgegebenen Stimmen. In Wien (1,8 Millionen Einwohner) hat die Sozialdemokratische Partei 266.415 Mitglieder. Von der männlichen Bevölkerung Wiens entfällt ein Mitglied der Sozialdemokratischen Partei ungefähr auf je fünf, von der weiblichen auf je zwölf Personen. Bei den Nationalratswahlen bekamen die Wiener Sozialdemokraten bei einer Wahlbeteiligung von 91,16 Prozent 571.464 Stimmen, d.i. 54,88 Prozent, 57,48 Prozent der männlichen, 52,82 Prozent der weiblichen Stimmen. Nach einer Statistik des Wiener Magistrats (eine Statistik für das ganze Reich liegt nicht vor) machen die Arbeiterwähler nur ungefähr ein Drittel der Wiener Wählerschaft aus. Die Wiener Sozialdemokratie ist also „bei den Wahlen über den Kreis der Privatarbeiter weit hinausgedrungen“. Sie hat viele Angestelltenstimmen bekommen, auch wie Danneberg verschämt sagt, „eine Anzahl“ bürgerlicher Stimmen. Jedenfalls darf sie behaupten, daß die Masse der österreichischen Arbeiter in ihrem Lager steht. In Österreich hat es keine USP und keinen Spartakusbund gegeben, und der KPÖ ist es nicht gelungen, auf größere Massen Einfluß zu gewinnen oder gar solche Kämpfe zu entfesseln, wie sie Deutschland gesehen hat. Deshalb ist es der österreichischen Sozialdemokratie nicht schwergefallen, ohne die Herren Noske mit den Arbeitern fertig zu werden, sie hat die bürgerliche Ruhe und Ordnung mit ziemlich pazifistischen Mitteln aufrechtzuerhalten verstanden. Und sie ist dabei, wie die angegebenen Zahlen zeigen, gewaltig in die Breite gegangen, dick und fett geworden.

Wie erklärt sich das?

Legt man diese Frage einem gläubigen österreichischen Sozialdemokraten vor, so bekommt man die Antwort: „Ja, wenn eine Partei solche Führer hat, wie wir, dann – !“ Danneberg sagt, wenn auch nicht in so naiven Worten, dasselbe. Trotzdem ist es der Mühe wert, auf seine Darlegungen einzugehen, denn es fehlt auch nicht an Kommunisten, die der Meinung sind, daß sich die österreichischen Sozialdemokraten durch eine diabolische Schlauheit auszeichnen. Man frage einen österreichischen Genossen, warum sich die KPÖ so langsam entwickelt. Die Antwort wird in neun von zehn Fällen mit den Worten beginnen: „Erstens steht keine andere kommunistische Partei einer so abgefeimten sozialdemokratischen Führerschaft gegenüber wie wir.“ Auch nicht-österreichische Kommunisten sind geneigt, die österreichischen Sozialdemokraten für eine wegen ihrer Gerissenheit ganz besonders gefährliche Gesellschaft zu halten. Sehen wir uns also die Dannebergsche Erklärung der Erfolge des österreichischen Reformismus an.

„Diese gewaltige Leistung“, so beginnt er seine Ausführungen, „ist nicht von ungefähr zustande gebracht worden, sondern das Ergebnis einer mühevollen Arbeit.“ Und nun schildert er – die sozialdemokratische Parteiorganisation: wie sie dem amtlichen Wahlsprengel angepaßt ist, wie sie dementsprechend ihre Kräfte verteilen, wie die Parteibeiträge eingehoben werden, was für Zeitungen und Schriften die Parteimitglieder bekommen, auf welchem Wege die Parteipresse an die Massen herangebracht wird, wie neben der Parteiorganisation noch verschiedene Kulturorganisationen arbeiten usw. Dann erklärt er, diesen Teil seiner Ausführungen abschließend: „So umfaßt heute die Organisation die ganze Familie, zieht das ganze Leben der Arbeiterklasse in ihren Bann. Die Massen der Arbeiter und Angestellten und die Partei sind aufs engste miteinander verbunden. So ist die Partei auf festem Grund gebaut.“ Wie denn „so“? Alle die Künste, von denen Danneberg redet, verstehen und praktizieren auch die Sozialdemokraten anderer Länder. Warum mit einem viel schwächeren Erfolg?

Danneberg sieht, daß er sein Problem nicht gelöst, nur hinausgeschoben hat. „Das ist natürlich vor allem deshalb gelungen, weil in Österreich glücklicherweise die Geschlossenheit der Arbeiterbewegung erhalten blieb.“ Warum blieb sie erhalten? „Die Gegensätze während der Kriegszeit konnten in Österreich nicht so tiefgreifend wirken wie in Deutschland, weil der Absolutismus fast drei Jahre lang die politische Tätigkeit lahmlegte.“ Diese Erklärung findet Danneberg so einleuchtend, daß es ihm überflüssig erscheint, sich die Frage vorzulegen, warum Zentristen und Reformisten in Österreich schon vor dem Krieg einträchtig zusammenarbeiteten(1), in Deutschland aber in derselben Zeit Kautskyaner und Bemsteinianer wie Hund und Katze miteinander lebten. „Die kommunistische Bewegung nach dem Krieg ist unbedeutend geblieben.“ Warum? Nun, die Sozialdemokratische Partei „schuf den Arbeiterrat als Boden, auf dem sozialdemokratische und kommunistische Vertreter der Betriebe miteinander den Kampf der Meinungen ausfochten und so trotz aller Erbitterung einander nie ganz entfremdet worden sind!“ Warum sind die Sozialdemokraten in Österreich überhaupt über „alle Schwierigkeiten der Politik der Nachkriegszeit“ glücklich hinweggekommen? „Nicht zum wenigsten“ dank der „politischen Erziehungsarbeit“, die die sozialdemokratischen Vertrauensmänner unverdrossen geleistet haben. Doch auch in andern Ländern, besonders in Deutschland, haben die Sozialdemokraten unverdrossen „politische Erziehungsarbeit“ geleistet, warum ist ihnen das Glück nicht so hold gewesen wie ihren österreichischen Genossen? „Die Treue zur Partei und der Wille, sie groß und stark zu machen, waren in den Vertrauensmännern immer so lebendig, daß die Partei trotz der heftigsten Auseinandersetzungen niemals Schaden gelitten hat.“ Also, die österreichischen Sozialdemokraten sind beisammengeblieben, weil sie nicht auseinandergegangen sind. Danneberg erklärt die Dinge wie der Molieresche Kandidat: „Warum ist das Opium ein Schlafmittel? Weil es eine einschläfernde Kraft besitzt.“

Außerdem bringt er noch folgenden Erklärungsgrund vor: Victor Adlers Schule wirkt in der Partei weiter. Nämlich: Victor Adler hat immer nach dem Grundsatz gehandelt, daß der Vertrauensmann den Mut haben muß, der Masse, wenn er es notwendig findet, auch das Gegenteil von dem zu sagen, was sie gerne hören möchte. Und „so halten es“, sagt Danneberg, „tausend Vertrauensmänner, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Masse den größten Anprall auszuhalten haben, wenn die Politik der Partei nicht ohne weiteres auf Verständnis stößt.“ Das ist sehr schön, aber die Einheit der österreichischen Sozialdemokratie erklärt es nicht. Denn auch außerhalb Österreichs haben tausende Vertrauensmänner es so gehalten, wie es nach Victor Adler ein Vertrauensmann halten soll, aber es führte dort nicht zur Befestigung der Einheit, sondern zum Unfrieden, zur Verschärfung der Gegensätze, zur Parteispaltung. Warum verliefen die Dinge gerade in Österreich anders? Warum hat sich die Sozialdemokratische Partei dort nicht nur behauptet, sondern auch noch, wenigstens, soweit die Mitgliederzahl in Betracht kommt, kräftig entwickelt? Danneberg meint zu guter Letzt: „Das stolze Bewußtsein der großen Leistungen der Partei in den Gemeindeverwaltungen Wiens und der Industriestädte, die fast ausnahmslos von sozialdemokratischen Mehrheiten verwaltet werden, beflügelt die agitatorische Kraft jedes einzelnen und weckt Energien, denen die größten organisatorischen Aufgaben zugetraut werden können. So ist das beispiellose Wachsen der Partei in Österreich zu erklären.“ Nein, so ist es nicht zu erklären. Denn die „großen Leistungen“ können, von allem anderen abgesehen, schon deswegen die Erfolge der Sozialdemokraten nicht erklären, weil sie jünger sind als diese Erfolge. Kurz, Danneberg erklärt überhaupt gar nichts, kann nichts erklären, denn er erklärt alles aus den guten Eigenschaften der österreichischen Sozialdemokraten, wie man früher alles aus den Herrschertugenden der Kaiser und Könige erklärt hat. Aber die Sache wird dadurch nicht besser. Man weiß, nachdem man den Aufsatz Dannebergs gelesen hat, von den Ursachen, aus denen die österreichische Sozialdemokratie das Prunkstück der reformistischen Internationale geworden ist, nicht mehr, als man vorher gewußt hat. Daran sind nicht etwa individuelle Unzulänglichkeiten Dannebergs schuld. Andere Austromarxisten, z.B. Otto Bauer in seinem Buch über die österreichische Revolution, gelüstet es ebensowenig, den Gründen der Herrlichkeit des österreichischen Reformismus nachzuspüren. Sie fühlen, daß ihnen bei einer solchen Untersuchung angst und bange werden könnte.

Die Musterpartei verdankt nämlich ihre Musterhaftigkeit nicht, wie sie sich einreden möchte, den Zauberkünsten ihrer Führerschaft, sondern den Illusionen der Masse. Fester als im Bewußtsein eines jeden anderen Proletariats haften in den Köpfen der österreichischen Arbeiter die demokratischen Illusionen, nicht dank einer besonderen demokratischen Veranlagung dieser Arbeiter, sondern dank der Eigenart des Staates, in dem sie lebten und leben. Jedes andere Proletariat führte seinen Kampf in einem Staate, dessen Lebensfähigkeit und Zukunft niemand anzweifelte. Das österreichische Proletariat aber mußte in einem langsam zugrunde gehenden, verfaulenden Staate kämpfen. Hier haben wir den Schlüssel zu allen Rätseln der österreichischen Arbeiterbewegung, den Grund, aus dem Österreich das Musterland des Reformismus geworden ist.

Vierzig Jahre haben die österreichischen Arbeiter um die Wahlreform gekämpft, vierzig Jahre hat der Wahlrechtsgedanke das Bewußtsein des österreichischen Proletariats ausgefüllt, die Geschichte dieses Proletariats ist im wesentlichen die Geschichte seines Wahlrechtskampfes. Diese Tatsache allein könnte schon erklären, daß die österreichischen Arbeiter die Demokratie stärker überschätzen als ihre Klassengenossen in anderen Ländern. Doch noch bedeutsamer ist eine andere Erscheinung. Noch im Wahlrechtskampf begann die Anpassung der österreichischen Arbeiterbewegung an den österreichischen Staat, ihre freiwillige Unterwerfung unter diesen Staat. Die nationalistischen Parteien rüttelten immer stärker an seinen Grundlagen, die Sozialdemokratie wurde immer mehr Staatspartei. Damals schon entwickelte sich in Österreich jene reformistische Staatsauffassung, zu der sich die Sozialdemokraten heute überall bekennen. Man betrachtete alle Dinge vom Standpunkte des Staates und gab das für die allein richtige proletarische Methode aus. Die Wahlreform wurde nun im Interesse des Staates als das Hauptmittel seiner Kräftigung verlangt. Lasalle war in den achtziger und neunziger Jahren in Österreich sehr populär, mehr noch vielleicht als in Deutschland. Seine Schriften wurden eifrig gelesen, aber einer seiner Gedanken ging sehr bald vollständig verloren: der Gedanke, daß das allgemeine Wahlrecht keine Wünschelrute ist, mit der man alle Schätze der Erde heben kann. Man hielt das allgemeine Wahlrecht für den Zauberstab, man glaubte, nicht nur das Proletariat, auch alle anderen Klassen, alle Nationen und ganz besonders der Staat würden durch die Wahlreform gewinnen. Kurz, die Sozialdemokratie ließ sich vollständig verstaatlichen.

Jeder Reformismus bedeutet die Unterwerfung der Arbeiterbewegung unter den „über den Klassen stehenden“ Staat. Aber der österreichische Reformismus bedeutete die Unterwerfung unter einen zerfallenden Staat. In anderen Ländern leitete sich das Selbstbewußtsein der reformistischen Arbeiteraristokratie vom Selbstbewußtsein des Imperialismus her, wenn die Arbeiter auch glaubten, es stamme aus dem Klassenkampf. In Österreich war eine solche Entwicklung nicht möglich. Dort konnte der Gang der staatlichen Dinge in den Arbeitern nicht Hoffnungen, nur Hoffnungslosigkeit erzeugen. Ein Gegengewicht gegen diese fanden die nichtdeutschen Arbeiter in den nationalistischen Hoffnungen ihres Bürgertums, die deutschen hatten auf ein solches Gegengewicht verzichtet, denn der großdeutsche Gedanke gewann, da er in der deutsch-österreichischen Bourgeoisie nicht lebte, auf die deutsch-österreichischen Arbeiter keinen Einfluß, erst jetzt im neuen Österreich bemühen sich die Reformisten, ihn der Arbeiterschaft einzuimpfen. Es entwickelte sich also folgender Zustand: Die nichtdeutschen Arbeiter nahmen teil an den nationalen Bewegungen ihrer Bourgeoisie, von den deutschen hielt ein kleiner Teil, der sich vom Reformismus nicht unterkriegen ließ, am Internationalismus, überhaupt an der Marxschen Lehre fest (das war ein Teil der deutsch-böhmischen Arbeiter, vor allem die Reichenberger, die dann auch folgerichtig zum Kommunismus übergingen). Die übrigen aber, also vor allem die Arbeiter des Gebiets, das das neue Österreich umfaßt, sahen um so weniger einen Ausweg aus der österreichischen Misere, je österreichischer sie wurden. Sie, die einst selbstbewußt und kampflustig gewesen waren, verloren den Glauben an sich. Die Hoffnungslosigkeit wurde Tradition.

Die liebevolle Pflege dieser aus dem Jammer des alten Österreich entstandenen Tradition ist eine Hauptbeschäftigung der Reformisten im neuen Österreich. Der Zustand dieses jungen Staates scheint diese seltsamste Politik, die eine Arbeiterpartei je getrieben hat, zu rechtfertigen. Nach dem Willen der Entente sollte Österreich ein Staat werden ohne jede Möglichkeit einer Eigenbewegung, den Siegern auf Gnade und Ungnade ausgeliefert. Das war gerade das, was der österreichische Reformismus brauchte, um sein System noch zu festigen. Man lese die Reden, die Renner gehalten hat, als er an der Spitze der Regierung stand: er konnte sich in der Lobpreisung der Weisheit und der Tugenden Clemenceaus gar nicht genugtun. Und Bauer bewies Tag für Tag, daß in Österreich keine andere Politik möglich sei als die reformistische; welchen Beweis er sich durch die Fälschung des Begriffs der revolutionären Politik erleichterte, indem er zu beweisen suchte, daß sie nur im Augenblick der Machteroberung möglich sei, woran ja in Österreich nicht zu denken wäre. Durch Begriffsfälschung wurde die Hoffnungslosigkeit der Massen künstlich genährt. Natürlich konnte davon allein der Reformismus wie im alten, so auch im neuen Österreich nicht leben. Er mußte auch auf Erfolge verweisen können. Und an solchen fehlte es nicht. Im alten Österreich waren alle Parteien, so intransigent sie sich gebärdeten und so wütig sie zeitweilig aufeinander losschlugen, sehr kompromißlustig. Das erklärte sich aus der Unsicherheit und der Verworrenheit aller österreichischen Verhältnisse. Man wußte nie, ob der Feind von heute nicht morgen ein Bundesgenosse sein werde. Es war also allgemeiner Grundsatz, nie die Brücken abzubrechen, die ins andere Lager führten. Man konnte jeden gelegentlich brauchen, also durfte man es sich mit keinem ganz verderben. So konnte der Reformismus nicht selten Klein- und Scheinreformen durchsetzen, und diese machten auf die von ihrer Partei systematisch zur Anspruchslosigkeit erzogenen österreichischen Arbeiter den stärksten Eindruck(2). Diese traditionelle Ausgleichsmeierei hat sich im neuen Österreich, dessen Verhältnisse ja auch sehr prekär sind, erhalten. Hier sehen wir den Grund, aus dem die österreichische Sozialdemokraten so zähe an ihren Führern hängen. Die besondere Art, in der die österreichische Sozialdemokratie seit langem um ihre Erfolge ringt, erfordert eine besondere Gewandtheit und Erfahrung im parlamentarischen Ränkespiel, Eigenschaften, die der Masse abgehen und sie von den politischen Routiniers abhängig machen. Diesen folgt sie noch, selbst wenn sie schon bezweifelt, daß sie auf dem rechten Weg sind. Wie oft haben unsere österreichischen Genossen folgendes Geschichtchen erlebt: Im Arbeiterrat oder in der Gewerkschaft bekämpft ein Kommunist einen sozialdemokratischen Antrag, aber er bekommt für seinen Gegenantrag auch nicht eine sozialdemokratische Stimme. Nachher kommen ein paar Sozialdemokraten zu ihm und sagen: „Du hast ja ganz recht gehabt. Aber du wirst einsehen: Wir können nicht gegen den (es folgt der Name des sozialdemokratischen Antragstellers) stimmen. Das dürfen wir dem Mann, der sein Leben lang für uns gearbeitet hat, nicht antun.“

Man sieht: Der österreichische Reformismus weist dieselben charakteristischen Züge auf wie seine nichtösterreichischen Brüder, aber dank den besonderen österreichischen Verhältnissen sind sie viel stärker ausgeprägt. Das Gefühl der Unsicherheit, der Abhängigkeit vom Führer, der Mangel an Selbstvertrauen konnten in keinem Proletariat so groß gezogen werden wie in der einst so selbstbewußten, kampflustigen österreichischen Arbeiterschaft.

Darauf setzt die österreichische Sozialdemokratie ihre Hoffnungen, doch sie wird durch die wirtschaftliche Lage der letzten Zeit und den ganzen Gang der Arbeiterbewegung zweifellos enttäuscht sein. Die Gestaltung der wirtschaftlichen Verhältnisse läßt immer deutlicher erkennen, daß der Genfer Vertrag die erhoffte Sanierung nicht gebracht hat und nicht bringen kann. Es fällt der Sozialdemokratie immer schwerer, die Massen, so intensiv sie sie auch mit ihrem vielbewunderten Apparat bearbeitet, im Zaume zu halten. Die sozialdemokratischen Traditionen fangen an, ihre die proletarische Energie lähmende Kraft zu verlieren, und wir dürfen hoffen, daß die Zeit nicht mehr fern ist, wo breite Schichten der sozialdemokratischen Arbeiterschaft von diesem eingewurzelten Übel sich ganz befreien werden.

 

Anmerkungen des Verfassers

(1) Der Austromarxismus hat seine Aufgabe stets darin erblickt, zu der reformistischen Praxis der österreichischen Sozialdemokratie die theoretische Begründung zu liefern und die Arbeiter mit „marxistischen“ Argumenten für seine opportunistische Politik zu gewinnen. Der österreichische Zentrist Bauer behandelte z.B. die nationalen Dinge viel weniger marxistisch als der in Deutschland lebende Zentrist Kautsky, und noch größere Konzessionen machte dem Reformismus Renner. Der Austromarxismus ist nämlich, abgesehen von seiner Begeisterung für seine reformistische Praxis, durchaus nichts Einheitliches: die Verworrenheit und Zerfahrenheit der österreichischen Verhältnisse spiegelte sich ab in der, sagen wir, Mannigfaltigkeit und Buntheit der austromarxistischen Lehre. Jeder Austromarxist unterscheidet sich in seinen Grundanschauungen wesentlich von den anderen (man denke nur an die Eigenbrötelei des kantianisch-marxistischen Gottsuchers Max Adler), aber das hindert sie nicht, miteinander und mit den Reformisten die beste Freundschaft zu halten. In der österreichischen Sozialdemokratie nennt man das, um ein Wort Dannebergs zu gebrauchen, Treue zur Partei.

(2) Nach dem Umsturz konnten die österreichischen Sozialdemokraten monatelang als eine der Haupterrungenschaften der Revolution die Abschaffung des Arbeitsbuches preisen, eine Reform, die in Deutschland Bebel im Jahre 1869 ohne Umsturz, auf ganz friedlichem Wege, durchgesetzt hatte.


Zuletzt aktualisiert am 15.6.2008