Hermann Teistler

Der Parlamentarismus und die Arbeiterklasse

Unsere Taktik

Mit gegenwärtigem Aufsatze schließen wir die Artikelserie über den Parlamentarismus. Das bisher Ausgeführte war in der Hauptsache darauf beschränkt, die Arbeiterklasse vor dem parlamentarischen Wege zu warnen. Jetzt handelt es sich darum, diejenigen Mittel zu erörtern, welche an Stelle des Parlamentarismus treten sollen. Wir gehen dabei von folgenden Grundgedanken aus.

In der sozialen Bewegung stehen sich die Interessen zweier Gesellschaftsklassen gegenüber. Bourgeoisie und Proletariat ringen miteinander. Zu Anfang ist freilich die Situation noch nicht recht klar und die eigenen Reihen der beiden Gegner sind durch inneren Widerstreit zerklüftet. Aber je weiter sich die kapitalistische Wirtschaftsform entwickelt, je mehr sie mit allen Zwischengliedern aufräumt, desto deutlicher treten die eigentlichen Gegensätze zutage, desto handgreiflicher kommt den feindlichen Scharen auf jeder Seite die Interessengemeinschaft zum Bewusstsein. Damit hören die Einzelkämpfe auf; der Kampf der Klasse zu Klasse entbrennt. In diesem Stadium der sozialen Bewegung kommt es also auf die Mitwirkung des gesamten Proletariats an. Daher gilt es, die Arbeiter zu großen, allgemeinen Massenbewegungen zu vereinigen. Nur so bilden sie gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft eine Macht. Und je umfangreicher und zielbewusster eine derartige Bewegung in die Erscheinung tritt, umso mehr sieht die Bourgeoisie das unhaltbare ihrer Position an. Doppelt notwendig ist der feste Zusammenschluss aller proletarischen Elemente dann, wenn die Stunde der Befreiung schlägt. Hier erreicht die soziale Bewegung ihre höchste, letzte Phase; der Klassenkampf dreht sich um Sein oder Nichtsein der alten Gesellschaft. Der Sieg des Proletariats wird davon abhängen, ob die Massen zur gemeinsamen Aktion vorbereitet sind.

Den Bestrebungen, die proletarischen Kräfte zu vereinigen, leistet schon die wirtschaftliche Entwicklung Vorschub. Mit der Konzentration des Kapitals werden auch die Arbeitermassen mehr und mehr zusammengezogen. In den großen Werkstätten der modernen Produktionsweise, in den Zentren der Industrie staut sich das Proletariat immer riesenhafter. Tausende und Abertausende sind hier in das gleiche Joch der Knechtschaft gespannt. Sie alle empfinden den Druck des kapitalistischen Systems in derselben Weise; sie alle streben nach der Befreiung oder doch nach Erleichterung. Und diese Gleichheit der sozialen Lage, diese Gemeinschaft des Strebens schweißt die Massen auch innerlich zusammen. Von den einzelnen Zentren ausgehend, zieht dann die Interessensolidarität immer weitere Kreise. In dem Maße, wie sich Produktion, Handel und Verkehr internationaler gestalten, wächst auch die Internationalität des proletarischen Fühlens und Denkens. Schließlich werden auf diese Weise die Arbeiter der ganzen Welt geeint.

So treibt die bürgerliche Gesellschaft tatsächlich selbst darauf hin, das Proletariat zu zentrieren und solidarisch zu verbinden. Diese Tendenz der modernen Wirtschaftsweise sollte für die Taktik der Arbeiterbewegung von ausschlaggebender Bedeutung sein. Insbesondere würde dadurch die Lösung der Organisationsfrage wesentlich gefördert werden. Für uns ergeben sich in dieser Beziehung folgende Schlüsse: Ist das zentralistische Moment durch die Produktionsverhältnisse genügend entwickelt, dann ist jede äußere Zentralisation überflüssig; die Massen sind bereits aufgrund der ökonomischen Bedingungen vereint und werden für alle Fälle durch ihre Interessengemeinschaft zusammengehalten. Hat aber der Wirtschaftsprozess bisher nicht zu einer entsprechenden Konzentration des Proletariats geführt, so lässt sich auch durch keine Zentralorganisation Ersatz schaffen. Überall, wo man solch künstliche Mittel nötig zu haben glaubt, fehlt den Massen zurzeit das natürliche, das innere Band, auf dessen Vorhandensein es doch vor allem ankommt. Eine zentralistische Organisationsform ist schon möglich, wenn die Kräfte noch vereinzelt, über weite zersplittert sind. Ja, viele Zentralvereinigungen gründen gerade hierauf ihre Existenzberechtigung. Was nützt aber eine derartige Zentralisation, wenn sie in den Wirtschaftsverhältnissen keinen Rückhalt hat? Was will eine Organisation, die an den einzelnen Orten über keine aktionsfähige, durch den Industrialismus zusammengeschweißte Masse verfügt? Man sieht, wie unzweckmäßig und hinfällig die zentralistische Organisationsform ist. Sie wird auch tatsächlich überflüssig durch die wirtschaftliche Konzentration und das wachsende Solidaritätsgefühl der Arbeiter.

Je mehr nun das Proletariat durch die Wirtschaftsentwicklung zusammengezogen wird, desto günstiger gestaltet sich der Boden für den Klassenkampf. Vor allem werden dadurch allgemeine Massenbewegungen möglich, die wir oben als Grundlage revolutionärer Taktik bezeichneten. Die in den Wirtschaftszentren angestauten Arbeiter können sich rasch zu gemeinsamen Aktionen vereinigen. Sie sind in der Lage, der Bourgeoisie als Masse gegenüberzutreten und so ihren Forderungen Geltung zu verschaffen. In dieser Gemeinsamkeit der Handelns beruht heute die Stärke der Arbeiterklasse. Die Emanzipationskämpfe des Proletariats finden demnach in der ökonomischen Zentralisation der Massen ihre sicherste Stütze. Und weiter trägt der Zusammenschluss aller Kräfte zur Erhöhung des proletarischen Machtgefühls bei. In dem Bewusstsein, eine gleichstrebende Menge zu bilden, liegt die Siegeszuversicht der Arbeiter. Von größter Wichtigkeit ist schließlich der Umstand, dass bei einer wirklichen Massenbewegung das Proletariat selbst für seine Ziele und Forderungen eintritt. Jeder Teilnehmer kämpft in eigener Person; jeder Einzelne setzt sein ganzes Ich für die Gesamtbestrebungen ein. Dadurch wird das gemeinsame Interesse aller an den sozialen Bewegungen wach erhalten; der Klassenkampf wird auf den Mut und die Tatkraft der Masse selbst gestützt. Wir bekommen damit Gewissheit, dass das Proletariat auch innerlich die Kraft und Fähigkeit besitzt, sich aus den Banden der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zu befreien. Soll dagegen der Kampf aufgrund irgend eines Repräsentativ-Systems ausgefochten werden, so bleibt die Masse aktuell unbeteiligt. Sie muss sich im günstigsten Falle mit der passiven Rolle des Zuschauers begnügen. Alles wird von den gewählten Vertretern besorgt. Auf diese Weise stumpft das Interesse der Menge ab und die soziale Bewegung bleibt der Einsicht und der Entschlossenheit weniger Personen überlassen. Schließlich würde die Masse des eigenen, opferfreudigen Handelns so entwöhnt sein, dass sie das Befreiungswerk nicht vollbringen könnte. Diese Gefahr muss namentlich bei der Beurteilung des Parlamentarismus berücksichtigt werden. Schon deshalb betonen wir an Stelle des vertretungsweisen Kampfes die unmittelbare Aktion der Arbeiter selbst. Und wenn dann die Masse durch eigene Tat zu Errungenschaften gekommen ist, wo wird der kleinste Sieg ihr Machtbewusstsein mehr kräftigen, als der größte parlamentarische Erfolg.

Dies unsere Ansicht über den Wert der Massenbewegungen im Allgemeinen. Es fragt sich nun, wie dieses Kampfmittel im einzelnen Falle beschaffen sein soll. Zunächst kommt es darauf an, dass die Aktionen keinen rein lokalen Charakter tragen. Wie der proletarische Emanzipationskampf immer allgemeiner und internationaler geworden ist, so muss auch die ganze Bewegung von großen, einheitlichen Gesichtspunkten beherrscht werden. Die Arbeiter dürfen sich nicht nach Spießbürgerart mit allerlei lokalem Kohl befassen. Was haben kommunale Angelegenheiten, wie Hundesteuer und Straßenbeleuchtung, mit dem Weltproletariat zu tun? Durch derartige Fragen werden die allgemeinen Ziele verdunkelt oder ganz bei Seite geschoben; der internationale Sozialismus sinkt zu einer gewöhnlichen Krähwinkler Dorfangelegenheit herab. Auf den Gang der revolutionären Gesamtbewegung übt diese kleinbürgerliche Kirchenturmspolitik nicht den geringsten Einfluss aus. Und doch sollte die sozialistische Arbeiterschaft ihre Kräfte nur auf Dinge verwenden, die mit der ganzen Bewegung in Zusammenhang stehen; sie sollte erst dann in Aktion treten, wenn dies stärkend und fördernd auf das Gesamtproletariat zurückwirken vermag. Daher müssen in erster Linie solche Fragen aufgeworfen und flüssig gehalten werden, die überall das gleiche Interesse und Verständnis finden. Natürlich darf es sich dabei nur um rein prinzipielle Dinge handeln. So kommt eine Massenbewegung zustande, die das ganze internationale Proletariat umfasst und ihre Wellen über die entlegensten Punkte der Erde verbreitet. Diese Gemeinsamkeit der Aktion wird die Arbeiter aller Länder nur um so enger verbinden; der gleichzeitige Kampf gegen den gemeinsamen Feind wird den prinzipiellen Zusammenhalt festigen und die internationale Solidarität praktisch bekunden.

In diesem Sinne ist für uns namentlich die Maifeier von großer Bedeutung. Das haben wir bei jeder Gelegenheit betont. Bedauerlich ist nur, dass die sozialdemokratische Reichstagsfraktion die Maibewegung gleich zu Anfang durch ihr kläglich-reaktionäres Verhalten gestört und aufgehalten hat. Wenn trotz dieser Abwiegelungsversuche die erstmalige Feier auch in Deutschland höchst imposant verlief, so beweist das, wie sehr der Grundgedanke in den Massen gezündet hatte. In zweiten Jahre zeigte sich der unheilvolle Einfluss des sozialdemokratischen Führertums in verstärktem Maße. Die Feier des ersten Mai wurde auf den nächstfolgenden Sonntag verlegt. Dadurch verlor die Bewegung für Deutschland ihren ursprünglichen, demonstrativ-revolutionären Charakter. Aber nicht nur das – auch die Bedeutung der Maifeier in anderen Ländern wurde durch das rückläufige Verhalten der deutschen Sozialdemokratie beeinträchtigt. Denn das wesentlichste Moment fehlte ja nun: das Einheitliche und Gleichzeitige der Bewegung in allen Industriestaaten der Welt.

So hat sich die deutsche Sozialdemokratie schwer gegen die Sache des internationalen Proletariats vergangen. Aufgabe der unabhängigen Sozialisten wird es sein, den Fehler der alten Partei nach Möglichkeit wieder gut zu machen. Im gegenwärtigen Jahre mangelt es freilich an einer praktischen Gelegenheit dazu, denn der erste Mai fällt auf einen Sonntag. Um so mehr wird für die folgenden Jahre in dieser Beziehung getan werden. Die Maifeier muss sich immer vollkommener zu einer internationalen Massenkundgebung ausgestalten. Sie ist die wirksamste und bedeutungsvollste Demonstration des Proletariats gegen die kapitalistische Gesellschaft und deren Einrichtungen. Hier stellen die Massen selbst ihre Forderungen auf. Sie feilschen nicht mit dem Gegner um seine Zugeständnisse; sie fordern nur und protestieren. Statt mit der bürgerlichen Klasse zu unterhandeln, werfen sie ihr rücksichtslose den Fehdehandschuh hin. Und Mann für Mann steht in eigener Person für die Forderungen der sozialistischen Arbeiterschaft ein; es gibt keine Repräsentation und keine Vermittlung. Kurz, das Proletariat tritt hier durchaus als revolutionäre Klasse auf. Es zeigt, dass es entschlossen ist, den Emanzipationskampf selbst und furchtlos auszufechten.

Ihren großartigen Charakter gewinnt die Maifeier insbesondere dadurch, dass zur gleichen Zeit auf dem ganzen Erdball kraft vereinten Wollens die Proletarierarme ruhen und das Räderwerk der Industrie stille steht. In dieser Tatsache liegt für die Arbeiter aller Länder etwas Begeisterndes; ihr Machtbewusstsein wird gewaltig gehoben, ihr Tatendrang kräftig gefördert. Zwar ist es zunächst nur ein einziger Tag, den das Proletariat der Bourgeoisie abringt – aber dieser Erfolg genügt vollauf, um der bürgerlichen Gesellschaft die Stärke der Arbeiterklasse fühlbar zu machen. Wie dann, wenn diese Millionen proletarischer Hände dem Kapitalismus zugleich für immer den Dienst versagen? In diesem Gedanken erbebt das bürgerliche Herz! Keine Wahlbewegung, keine gesetzgeberische Aktion kann je mit so nachhaltiger Kraft wirken, als die internationale Maifeier des gesamten Proletariats.

Gleichzeitig bietet uns die Maibewegung ein sicheres Bild von der inneren Reife, von der zielbewussten Entschlossenheit der Arbeiterklassen. Was die Wahlstatistik niemals erkennen lässt, das haben wir hier leibhaftig vor Augen: die Menge derjenigen, welche mit ihrer ganzen Person, mit ihrer Existenz, mit Leib und Leben für ihre Bestrebungen eintreten. Auf diese Masse darf man im endgültigen Emanzipationskampfe mit absoluter Sicherheit zählen. So ist die Maifeier in der Tat ein Gradmesser für die Bereitschaft des Proletariats – eine internationale Heerschau der sozialistischen Befreiungsarmee.

Zu einer umfangreichen Massenaktion kann auch die Zeit der Wahlen benutzt werden. Wir wiesen schon früher wiederholt darauf hin. Keine Gelegenheit ist ja für unsere Propaganda mehr geeignet, als gerade die Wahlbewegung. Natürlich haben wir nicht die positive Beteiligung im Auge. Vielmehr muss die Wahlagitation durchaus prinzipiell und ablehnend betrieben werden. Die masse sind über Wesen und Wirkung des Parlamentarismus aufzuklären. Es darf kein sozialistisches Mandat aus der Urne hervorgehen, beziehungsweise zur Ausübung gelangen. Man kann bloße Zählkandidaten aufstellen, weiße Zettel abgeben oder welche Form immer wählen – es gilt, die Arbeiterklasse zu einem allgemeinen Protest gegen die kapitalistische Gesellschaft und ihre Herrschaftsinstitutionen zu vereinigen. Von solchen Gesichtspunkten geleitet, wird die proletarische Wahlbeteiligung zu einer großen prinzipiellen Massendemonstration. Sie eint die Arbeiter zu einer gemeinsamen Aktion und schafft aufgrund des gleichen Zieles einen festen Zusammenhalt. Und in diesem Sinne hat die Wahlbeteiligung für den sozialistischen Emanzipationskampf eine wesentliche Bedeutung. Vorraussetzung ist natürlich, dass es sich nicht irgendwelche Gemeinde- und Kirchenratswahlen handelt. Denn diese haben mit der Gesamtbewegung des Proletariats nichts zu tun, sie sind eine kleinbürgerlich-demokratische Lokalangelegenheit. Zu einer Massenaktion mit allgemeinen Gesichtspunkten lassen sich nur die großen Parlamentswahlen ausnützen. Und auch hier bleibt die Bewegung noch immer auf ein einzelnes Land beschränkt, während wir uns doch die Internationalität des Handelns zum eigentlichen Ziele gesteckt haben.

Außerdem kommt es auf dem Boden unseres Wirtschaftslebens fast täglich zu Konflikten, aus denen sich größere und kleinere Bewegungen des Proletariats entwickeln. Wir gelangen damit in den Bereich der Streiks und der Boykotts. In diesen zwei Erscheinungen haben wir es mit Massenaktionen von besonderer Tragweite zu tun. Hier treten sich Bourgeoisie und Proletariat direkt gegenüber. Es entspinnt sich ein rein ökonomischer Kampf, der allerdings auch andere, beispielsweise politische Motive haben kann. Im Streik greift das Proletariat die Grundlage der kapitalistischen Wirtschaftsweise an: die Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft. Es verweigert einfach den Dienst und bringt dadurch die Produktion zum Stillstand. Damit wird die Bourgeoisie an der empfindlichsten Stelle getroffen: der Profit ist angegriffen, die Existenz des Kapitalsten bedroht. Gegenüber der wirtschaftlichen Bewegung des Proletariats tritt die Ohnmacht der bürgerlichen Gesellschaft klar zutage. Ein großer, zielbewusst geführter Streik ruft in der ganzen kapitalistischen Welt Panik und Aufregung hervor. Das gesamte Wirtschaftsleben wird durch eine solche Massenaktion außer Rand und Band gebracht. Die Grundlagen der sozialen Organisation schwanken und krachen. Wir erinnern nu an die Kohlenarbeiterstreiks in Deutschland, in Frankreich, in Belgien und gegenwärtig England. Eine Erschütterung der bürgerlichen Gesellschaft tritt selbst dann ein, wenn die Arbeiter äußerlich unterliegen. Man denke an die gewaltigen Wirkungen, welche der jüngste Buchdruckerausstand trotz seines unglücklichen Verlaufes auf das ganze moderne Wirtschaftsgetriebe ausgeübt hat. Und jeder Streik, möge er nun gewonnen oder verloren werden, stärkt das Machtbewusstsein und den Kampfesmut des Proletariats; im Falle des Unterliegens wird dies überdies seitens der Arbeiter ein um so festerer Zusammenschluss die Folge sein. Außerdem werden durch die Streikbewegungen große Massen im Fluss gebracht und im selbstständigen Kampfe gegen das Kapital geschult. Je umfangreicher also ein Ausstand ist, desto nachhaltiger und wichtiger ist seine Bedeutung für den proletarischen Emanzipationskampf. Und dass die Streiks an Ausdehnung und Häufigkeit zunehmen, dafür sorgt schon die Wirtschaftsentwicklung und die damit verbundene Steigerung der sozialen Gegensätze. Namentlich werden in Folge der ökonomischen Zentralisation Massen in Aktion treten, wie nie zuvor.

Für das Proletariat sind die Streiks und Boykotts die einzig wirksamen Mittel – diejenigen Formen des Klassenkampfes, welche allein zum Siege führen. Das ganze soziale und politische Gebäude hat die wirtschaftlichen Verhältnisse zur Grundlage. Eine ökonomische Veränderung zieht ohne weiteres eine solche im gesamten Gesellschaftskörper nach sich. Wenn nun der Arbeiter irgendwelche Besserstellung oder Umwälzung herbeiführen will, so kann er dies lediglich durch Einwirkung auf das Wirtschaftsleben. Tatsächlich sind auch die Kardinalfragen der sozialen Bewegung rein ökonomischer Natur. Daher muss der ganze Emanzipationskampf des Proletariats auf das wirtschaftliche Gebiet übergeleitet werden. Dies schon aus dem Grunde, weil der Arbeiter überhaupt nur ein ökonomischer Faktor ist und einzig als solcher eine Macht repräsentiert. Wie groß diese proletarische Macht im Wirtschaftsleben ist, das haben wir oben veranschaulicht.

Auf dem politisch-parlamentarischen Wege wird die Arbeiterklasse niemals etwas erreichen. Sie besitzt hier als unterdrückte Gesellschaftsschicht keinen Einfluss, so lange die Klassenherrschaft überhaupt besteht. Und ehe die politische Macht der Bourgeoisie gebrochen ist, hat das Proletariat auf wirtschaftlichem Gebiete längst die Oberhand erlangt. Es braucht also nicht erst auf die Erringung des gesetzgeberischen Einflusses zu warten. Übrigens könnte die parlamentarische Macht den wirtschaftlichen Zielen der Arbeiter gar nichts nützen. Denn in Wirklichkeit macht sich die Sache so: Das politische Bauwerk des Klassenstaates stürzt zusammen, sobald das Proletariat die kapitalistische Produktionsform aufhebt. Nicht aber kann durch eine politische Aktion die ganze Wirtschaftsweise von Grund aus verändert werden. Wie wollte man beispielsweise auf dem parlamentarischen Wege das ökonomische Lohngesetz beseitigen oder wirkungslos machen? Gewiss, ein solcher Gedanke wäre albern! Und doch begegnet man in sozialdemokratischen Kreisen nur zu häufig diesem Standpunkt; und zwar unter der Firma: staatliche Lohnregulierung. Der Staat soll einen Minimallohn garantieren. In Wirklichkeit lässt sich das Lohngesetz einzig mit Hilfe wirtschaftlicher Mittel durchbrechen; kraft seiner Organisation muss das Proletariat auf dem Arbeitsmarkte das Verhältnis von Angebot und Nachfrage entsprechend regeln, d.h. die industrielle Reservearmee außer Funktion setzen. Und wie die Gesetzgebung in Sachen Lohnfrage machtlos ist, so auf dem gesamten Wirtschaftsgebiete überhaupt. Nicht einmal in untergeordneten Angelegenheiten kann hier das Parlament die Initiative ergreifen. Die ganze wirtschaftliche Gesetzgebung ist lediglich ein Sanktion, eine Kodifizierung bereits vorhanden Zustände und praktisch geübter Normen. Somit werden die Arbeiter auf dem gesetzgeberischen Wege nur dann etwas zugebilligt erhalten, wenn sie es in praxi schon erworben haben oder wenn es im Interesse der herrschenden Kreise liegt. In jedem Fall ist die soziale Bewegung der treibende Faktor. Es ist daher unverantwortlich, die Arbeiter vom wirtschaftlichen auf das rein politische Gebiet hinüberziehen zu wollen.

Ist nun der Klassenkampf lediglich auf ökonomischem Boden auszufechten, so werden Streik und Boykott natürlich zu den einzigen Waffen des Proletariats. Weitere Mittel sind auch gar nicht nötig. Beide Waffen genügen vollauf, um dem Kapital die Spitze zu bieten. Aber die Streiks und Boykotts sind nicht bloß geeignet, augenblickliche Vorteile zu erringen; sie lassen sich auch als politische Kampfmittel ersten Ranges verwenden. Je mehr sich die anderen Wege als verfehlt erweisen, desto sicherer bricht sich die Bahn, dass schon der Streik allein die bürgerliche Gesellschaft stürzen könne. Die Arbeiter sehen dies auch tatsächlich immer mehr ein. Schon wurde in Belgien der Generalstreik proklamiert, um allgemeine politische Forderungen zu erkämpfen. Und der Gedanke eines Weltstreiks macht bereits die bürgerliche Gesellschaft erschauern. In der Tat: wenn das internationale Proletariat zum Massenstreik greift, dann schlägt die Totenstunde der kapitalistischen Wirtschaft. Vielleicht genügt es hierzu schon, wenn nur ein Teil der menschlichen Arbeitskraft aus dem bürgerlichen Produktionsprozess herausgezogen wird. Denn die Organisation der modernen Wirtschaftsweise gestaltet sich nachgerade so verschlungen, ihre Arbeitsteilung wird so kompliziert, dass sie keines ihrer Glieder entbehren kann.

Die Massenbewegungen zu organisieren, den Klassenkampf zu leiten und den Streik in unserem Sinne zu einem politischen Machtmittel auszugestalten – das wird Aufgabe der Gewerkschaften sein. Zu diesem Zwecke müssen sie mit sozialistisch-revolutionärem Geiste erfüllt werden. Nur so können sie ihre Mission erledigen. Damit erlangen sie aber auch eine großartige, weltgeschichtliche Bedeutung.

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2007