Hermann Teistler

Der Parlamentarismus und die Arbeiterklasse

Vorwort

Seit Beginn der sozialdemokratischen Bewegung bildete der Parlamentarismus ein stehendes Thema in den Erörterungen der Partei. Auf Kongressen, in den Versammlungen, in der Presse usw. wurde die Frage immer von neuem ventiliert. Man war sich darüber einig, dass der Parlamentarischen Tätigkeit bestimmte Grenzen zu ziehen seien. Schritt für Schritt näherte sich indessen die Parteimehrheit dem praktisch-reformerischen Standpunkte. Nach den erfolgreichen Februarwahlen von 1890 wurde die positive Mitarbeit zu endgültigen Grundlage der sozialdemokratischen Parlamentstätigkeit. Man hielt jetzt die Frage für erledigt, die Erörterung des Themas für erschöpft. Auf den folgenden Kongressen wurde die praktische Mitarbeit sanktioniert. Und damit war die Sache für die Parteimehrheit abgemacht.

Durch die von Tag zu Tag anschwellende Bewegung der unabhängigen Sozialisten ist die Frage des Parlamentarismus wieder in den Vordergrund der öffentlichen Diskussion gerückt worden. Die Stellungnahme zu der gesetzgeberischen Mitarbeit spielte von vornherein eine wichtige Rolle in der sozialistischen Opposition. Das parlamentarisch-reformatorische Auftreten der Partei war überhaupt eine der Ursachen, die zur Entstehung der oppositionellen Bewegung und dann gelegentlich des Erfurter Kongresses zur Spaltung führten. Seitens der „nörgelnden“ Minderheit wurde schon damals gegenüber dem Parlamentarismus eine mehr oder weniger ablehnende Haltung eingenommen; jedenfalls fand die Art und Weise, wie sich die Reichtagsfraktion praktisch an der Gesetzgebung beteiligte, auf der ganzen Linie einmütigen Widerspruch. Die Vertreter der Parteimehrheit dagegen suchten die Notwendigkeit und Nützlichkeit der parlamentarischen Taktik darzulegen.

Nachdem in Erfurt die Spaltung eingetreten ist und die Oppositionellen sich als „unabhängige Sozialisten“ zu einer selbstständigen Bewegung organisiert haben, sind auf dieser Seite die Anschauungen über den Parlamentarismus zur völligen Klärung gelangt. Man tritt den gesetzgebenden Körperschaften des Klassenstaates prinzipiell ablehnend gegenüber und verwirft die Teilnahme des Proletariats an diesen Institutionen.

Die Rührigkeit, mit der die unabhängigen Sozialisten für ihre Grundsätze Propaganda machen, hat die Sozialdemokratie mehr und mehr veranlasst, durch Wort oder Schrift den anti-parlamentarischen Bestrebungen entgegenzuwirken und die Zweckmäßigkeit der gesetzgeberischen Beteiligung zu erweisen. Es sind allerdings nur schwächliche Versuche, die in dieser Beziehung von den Parteivertretern unternommen werden; aber es scheint dennoch geboten, unsererseits ausführlicher darauf einzugehen.

Nachstehende Aufsätze sind bestimmt, die sozialdemokratischen Argumente zu widerlegen und den Standpunkt der unabhängigen Sozialisten positiv zu begründen. Sie wurden zunächst im „Sozialist“ veröffentlicht. Den unmittelbaren Anstoß zur Niederschrift gab ein Artikel, der zu Anfang dieses Jahres in der „Berliner Volks-Tribüne“ erschien. Daraus erklärt es sich, dass in den ersten Abschriften die Polemik speziell gegen jenes Blatt gerichtet ist. Ich habe an der Form nichts geändert, weil sie dem Inhalte sowohl, wie dem Ursprunge der Artikel entspricht. Gerade diese Form trägt zur Erhöhung des aktuellen Wertes bei und tut dem allgemeinen Interesse an dem Gegenstande durchaus keinen Abbruch. Alles, was sich zunächst gegen die „Volks-Tribüne“ richtet, gilt im Weiteren der Sozialdemokratie überhaupt. Denn der fragliche Artikel gibt nur die Gedanken der Partei wieder.

Vorliegende Separat-Ausgabe erfolgt auf vielfachen Wunsch. Die einzelnen Artikel sind zu diesem Zwecke zusammenhängend geordnet worden. Einige Bemerkungen über das Wesen des Staates wurden vorausgeschickt, weil der Staatsbegriff maßgebend ist für die Beurteilung der parlamentarischen Institution, die ja nur ein Instrument des Staates bildet.

Friedrichshagen, am 25. März 1892.

Hermann Teistler.

 


Zuletzt aktualisiert am 11.10.2007