Leo Trotzki

 

Über Ibsen

(3. Juni 1901)


Nach Literaturtheorie und Literaturkritik, München 1973, S. 35–49, verglichen mit dem russischen Text.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Man sagt, dass große Leute in den Augen ihrer Diener jedes Zaubers entkleidet sind. Dafür machte und macht die persönliche Bekanntschaft mit großen Leuten zum Lakaien. Darüber lässt sich nicht selten anhand der hier zitierten Dokumente urteilen.

Der in seinen Erinnerungen von seinen Beziehungen zu Henrik Ibsen erzählende norwegische Schriftsteller John Paulsen [A] stellt keine Ausnahme dieser betrüblichen Regel dar. So zitiert er z. B. in tiefem Mitgefühl die Worte seines Freundes, eines norwegischen Malers, die dieser nach einem Besuch bei Ibsen aussprach: „Ja, siehst du, im Grunde hat er gar nichts gesagt, aber seine Art, wie er mir die Pfeife stopfte, sein Blick, als er sie mir reichte, haben mich zutiefst berührt!“ Man kann sich nur schwer ein größeres Maß von Lakaiengesinnung vorstellen.

Im allgemeinen liefern die Erinnerungen Paulsens sehr wenig Material zur Aufhellung der eigenartigen Physiognomie des bekannten Schriftstellers. Die von Paulsen angeführten Fakten sind völlig unbedeutend. Sie sind mit kleinen Dosen hausbackener Philosophie und einer gehörigen Portion Unterwürfigkeit vor dem „großen Landsmann“ garniert. Aber eingedenk dessen, dass „la plus jolie fille de France ne peut donner plus que ce qu’elle a“ (das schönste Mädchen Frankreichs kann nicht mehr geben als, was ist), wollen wir versuchen, das Wenige zu nutzen, was uns die Werke Ibsens selbst liefern.

„Wenn Ibsen, dieser große Skeptiker, der alle unsere alten Ideale erschüttert hat“ (an dick aufgetragenem Pathos fehlt es bei Paulsen nie), „im Gespräch einen provozierenden Gedanken nach dem anderen von sich gab, dann erhob Frau Lie“ (die Frau des bekannten norwegischen Schriftstellers), „die in einer alten, gläubigen Beamtenfamilie erzogen worden war, manchmal Einspruch, indem sie sich auf die Heilige Schrift bezog.“ Sie hielt Ibsen offensichtlich für einen „Revolutionär“. Selbst Paulsen findet, dass Ibsen „nur in Diskussionen und in seinen Werken Revolutionär ist, aber keinesfalls in seinem Alltagsleben.“

Ist nun Ibsen wirklich ein „Revolutionär“?

Die ehrenwerte Dame ging bei ihrer Beurteilung Ibsens von einer Gegenüberstellung seiner Ansichten mit der Heiligen Schrift aus. Paulsen stellte die „provozierenden Gedanken“ Ibsens seinem eigenen dürftigen Moralkodex gegenüber. Wir wollen versuchen, die „revolutionären“ Ideen Ibsens mit den objektiven sozialen und historischen Umständen zu konfrontieren. Die Antwort auf unsere Fragestellung wird sich dann von selbst ergeben.

Im Jahre 1870 schrieb Ibsen an Georg Brandes:

„Wovon wir bis heute leben, das alles sind ja doch nur Brosamen vom Revolutionstisch des vorigen Jahrhunderts, und an der Kost haben wir doch jetzt lange genug gekaut und wiedergekäut. Die Begriffe verlangen einen neuen Inhalt und eine neue Erklärung. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind nicht mehr dieselben Dinge, die sie in den Tagen der seligen Guillotine waren. Das ist es, was die Politiker nicht verstehen wollen, und darum hasse ich sie. Die Menschen wollen nur Spezialrevolutionen, Revolutionen im Äußeren, im. Politischen u.s.w. Aber all dergleichen ist Lappalie. Worauf es ankommt, das ist die Revolutionierung des Menschengeistes.“

Einstweilen finden wir hier noch wenig Revolutionäres.

Auch Paulsen versteht, dass Ibsen „die Freiheit – wenn sie ihm auch so wichtig wie die Luft ist – weniger im Sinne einer bürgerlichen als einer persönlichen Freiheit begreift. Was hat es in der Tat für einen Sinn, das Stimmrecht zu besitzen,“ fügt Paulsen aus eigener Überlegung hinzu, „wenn man sich keine persönlichen Freiheiten erwerben kann?“

Persönliche Freiheit! Revolutionierung des Menschengeistes! Aber erlaubt denn jedes gesellschaftliche System, „persönliche Freiheit“ zu erlangen? Kann sich wirklich die „Revolutionierung des Menschengeistes“ unabhängig von den äußeren Bedingungen vollziehen? Auf diese Fragen verstand Ibsen nicht zu antworten: mehr noch, er verstand sie nicht einmal zu stellen.

Von Umgestaltung der Gesellschaft hält Ibsen fast gar nichts. Mit der Verachtung eines abseits stehenden geistigen Aristokraten behandelt Ibsen die Parteien, jene großen kulturellen Kräfte der Gegenwart, ohne die man nicht in der gewünschten Richtung auf die Gesellschaft einwirken kann. „Die Parteiprogramme“, sagt Doktor Stockmann, „drehen allen jungen, lebensfähigen Wahrheiten den Hals um.“ Und noch stärker: „Eine Partei, die ist wie eine Fleischhackmaschine; darin werden alle Köpfe zu einem Brei zerrieben; und deshalb sind sie auch alle Schwachköpfe und Flachköpfe!“ (Der Volksfeind) Ibsen geht von der Individualität aus und kehrt zu ihr zurück. In den Grenzen der Seele des Einzelnen löst er alle sozialen Probleme oder versucht es zumindest. Er weitet und vertieft diese elastische individuelle Seele bis an die Grenze des Übermenschlichen (Brand), ohne dabei die gesellschaftlichen Umstände auch nur mit dem Ellenbogen zu streifen. In der Person des Rosmer möchte Ibsen „alle Leute im Lande zu Adelsmenschen machen [...] dadurch, dass ich die Geister frei mache und die Willen läutere?“ (Wie unzweifelhaft das klingt!) Aber auch darin verliert Rosmer den Glauben. Er kommt zu der Überzeugung: „Die Menschen lassen sich wohl nicht von außen her adeln?“ (Rosmersholm)

In seinem persönlichen Leben beugt sich Ibsen, dieser „provokative Revolutionär“, dieses „große Minuszeichen“, wie ihn seine Landsleute nennen, fügsam den Umständen, die von außen auf ihn einwirken. Mit pedantischer Sorgfalt unterwirft er sich allen heuchlerischen Anstandsregeln des bürgerlichen Milieus. Nur in den Schöpfungen seines Geistes steht er „frei und hoch“ da (und auch dies nicht in dem Maße, wie Paulsen und er selbst es sich vorstellen), aber

„Ach [...] im Alltagsleben, da bin ich für so was nicht zu brauchen“, klagt er über sich selbst durch den Mund des Baumeisters Solneß. Wie dieser Baumeister „getraut er sich nicht“ und „kann nicht so hoch steigen, wie er selbst baut.“ [B]

Darin liegt nicht nur die Schwäche seiner eigenen Individualität, sondern seiner Propagierung des Individuellen, seiner sozialen Moral überhaupt, oder, wenn die ganze Bedeutung Ibsens nur in dieser Propagierung bestünde, dann – so könnte man kühn behaupten – wäre er gänzlich bedeutungslos.

Ibsen – der Schöpfer großer, neuer Worte und kühner Ideen; Ibsen – der Prophet einer erneuerten Menschheit; Ibsen – der geistige Führer der Zukunft... und wie man ihn noch tituliert, dieser Ibsen hat nicht ein Hundertstel, nicht ein Tausendstel der Bedeutung, die ihm als Darsteller des kleinbürgerlichen Milieus zukommt. Ibsen als der negierende Künstler, als das „große Minuszeichen“ steht unendlich hoch über dem Symbolisten und prophetischen Führer. Schon seiner Natur nach taugt Ibsen nicht für diese zweite Rolle.

„Ich kann mich nicht erinnern,“ sagt Paulsen, „dass einmal begeisterte, feurige Worte aus Ibsen hervorbrachen, die auf eine besondere Rolle des Gefühls in seinem Seelenleben hätten schließen lassen.“ Nein, das ist kein Führer! Wenn man die „neuen Worte“ Ibsens ihrer nebelhaften, symbolischen Hülle entkleidet, die so viele in ihren Bann gezogen hat, dann büßen diese neuen Worte meistens ihre Neuheit und ihren Reiz ein. [C] Das verwundert nicht. In unserer Gegenwart, da das menschliche Denken über ein so kolossales und in seiner Vielfalt unerschöpfliches Erbe und über erworbenes Gut verfügt, kann man ein ernsthaftes, wertvolles neues Wort nur sagen, wenn man auf den Schultern seiner großen Vorgänger steht. Nach den Worten Paulsens las Ibsen jedoch äußerst wenig. „Mit den neuesten Werken der schöngeistigen Literatur und des philosophischen Denkens machte er sich eher durch Gespräche mit anderen bekannt als auf dem Wege eines persönlichen Studiums.“ Als genialer Autodidakt ohne systematische Bildung, ohne eine in sich geschlossene Weltanschauung blickte er mit nicht angebrachter Geringschätzung auf die Früchte fremden Denkens.

Der ihm geistig verwandte Autodidakt und Baumeister, der Held des schon zitierten Dramas, das zweifellos autobiographische Bedeutung hat, fragt Hilda, ob sie lese.

Hilda: I nein! Um alles in der Welt nicht mehr – jetzt. Denn den Zusammenhang kann ich doch nicht herausfinden.

Solneß: Gerade so geht’s mir auch. (Baumeister Solneß)

Diese geringschätzige Einstellung zu Büchern und besonders das Nichtvertrautsein mit ihnen ging – lassen Sie es mich wiederholen – bei weitem nicht spurlos am Schaffen Ibsens vorbei: er gab vieles nicht, was er hätte geben können. Aber verzeihen wir ihm seine Versäumnisse, und sprechen wir darüber, was er gegeben hat, schauen wir, mit welchem Material er operierte. Wenn er viel gab, so, weil er an einem Material arbeitete, das die größte Aufmerksamkeit verdient.

Welches ist der gesellschaftliche Hintergrund, auf dem sich gewöhnlich die persönlichen Dramen von Ibsens Helden abspielen? Es ist das friedliche, regungslose, in seinen alten Formen erstarrte Leben kleiner norwegischer Provinzstädte, bewohnt von einem durchschnittlichen Kleinbürgertum, ebenso sittlich und wohlanständig wie ordnungsliebend und religiös ...

Oh! Ein bitteres Gefühl ließ diese ausgeglichene provinzielle Wohlanständigkeit in der Seele des großen Dramatikers zurück. Sie werden ihn völlig verstehen, wenn er als Antwort auf die beim Anblick Münchens von Paulsen ausgestoßenen Worte: „Welch riesige Stadt!“ voll Bitternis bemerkt: „In einer kleineren kann man auch nicht leben!“

Dort, in diesen großen Zentren des Handels, der Industrie und des Geistes gibt es doch mehr Raum und Luft, weniger Konventionen und vor allem weniger von dieser für die kleinbürgerlichen Städte charakteristischen Sittenstrenge und Wohlanständigkeit, die die Luft vergiften wie der Ruß einer schlechten Lampe, die zäh und klebrig sind wie dicker Zuckersirup, die in alle Poren eindringen und alle Beziehungen durchsetzen – die familiären, verwandtschaftlichen, amourösen und freundschaftlichen.

Das von seiner Routine und ewigen geistigen Trägheit ausgehöhlte Kleinbürgertum der Provinz fürchtet jede Art von Neuerungen bis ins Mark: Irgendeine neue Eisenbahn veranlasst es, furchtsam in die Zukunft zu blicken; bevor es die Eisenbahn gab, war es „hier doch so ruhig und friedlich“, beklagt sich Frau Bernick. (Die Stützen der Gesellschaft) Wenn es schon so mit der Eisenbahn steht, dann ist es mit den neuen Ideen noch viel schlimmer. Wozu braucht sie die Gesellschaft auch? „Ihr ist am besten mit den alten, guten Gedanken gedient.“ (Der Volksfeind)

Keine Neuerung duldend, erträgt das Kleinbürgertum auch keine Originalität, keine Selbständigkeit, nicht einmal eine einfache Andersartigkeit. Es unterdrückt schonungslos das zaghafteste Auftreten solcher Eigenschaften. „Du hast von Natur den Hang“, belehrt es Doktor Stockmann durch den Mund seines Bürgermeisters, „Deine eigenen Wege zu gehen. Und das ist in einer wohlgeordneten Gesellschaft beinahe ebenso unstatthaft. Der einzelne muss sich durchaus dem Ganzen unterordnen.“

Während die industriellen Feudalherren, in deren Macht sich Zehntausende befinden, die Beherrscher und Gesetzgeber der Börse, die großen „Erschütterer“ des Weltmarktes, während, mit einem Wort, die allmächtigen Diktatoren der gegenwärtigen Handels- und Industriewelt ihre Macht zu deutlich wahrnehmen, um ihre wirkliche Beziehung zum Leben und zu den Leuten zu maskieren, erträgt das mittlere Bürgertum die Verödung dieser Beziehungen nicht, ist nicht imstande, seiner Lage offen in die Augen zu sehen: es fürchtet die Reibung zwischen den Bestandteilen des von ihm in Bewegung gesetzten bürgerlichen Mechanismus und versucht, diese Reibung zu mildern, indem es das ranzige Fett des heuchlerischen Sentimentalismus als Schmiermittel benutzt. In der amoralischen großen Welt, was „gilt da ein Menschenleben“, fragt der Adjunkt Rörlund, dieses verkörperte Gewissen der örtlichen Gesellschaft, da rechnet man mit Menschenleben wie mit Kapitalien. Aber wir, sollt’ ich meinen, stehen doch auf einem ganz andern moralischen Standpunkt.“ (Die Stützen der Gesellschaft) Und ob!

Auf der Grenze zwischen den höheren Klassen der Gesellschaft und ihren Niederungen stehend, sind das mittlere Bürgertum und das Kleinbürgertum nicht abgeneigt, sich auf diese niedrigen Schichten zu stützen und in ihrem Namen zu sprechen. Aber dies alles geschieht, versteht sich, nicht im Ernst. „Aber die Erziehung des Bürgers durch die Selbstverwaltung – an die denken Sie wohl nicht“, fragt der Redakteur Hovstad den Buchdrucker Aslaksen. „Wenn man ein bisschen was vor sich gebracht hat, das erhalten sein will, so kann man nicht an alles denken, Herr Hovstad“, antwortet mit größter Offenheit der in der Schule des Lebens weise gewordene Buchdrucker. (Der Volksfeind)

Man kann überhaupt bei Aslaksen viel lernen. Seine Devise lautet: „Mäßigung, das ist die erste Bürgerpflicht.“ Seine Individualität versinkt völlig im sozialen Typ; er ist stark durch die Kraft der „kompakten Majorität“, er spricht nicht anders als im Namen dieser „kompakten Majorität“, im Namen der Kleineigentümer, im Namen der Hausbesitzer.

Die heuchlerisch-liberalen, gemäßigten Prinzipien, die Aslaksen leiten, durchdringen das ganze Kleinbürgertum. Sie zwingen die kleinbürgerliche Gesellschaft, trotz deren Hass gegenüber allem Neuen, Originellen und „Nicht Anständigen“ geflissentlich die Maßnahmen der nackten Repression zu meiden. Niemals wird man das Mymretschowsche [1] Prinzip „zerren und nicht freilassen“ aus dem kleinbürgerlichen Dasein wegstreichen. Das Kleinbürgertum handelt eher indirekt, wenn auch nicht weniger wirkungsvoll. In einer anderen politischen Lage hätte sich Doktor Stockmann als „Feind der Gesellschaft“ einer erzwungenen Isolation unterworfen. Das kultivierte Kleinbürgertum geht anders vor. Es boykottiert seinen Feind. Es entlässt ihn aus dem Dienst (der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer sind „frei“ in ihren Beziehungen), es nimmt ihm die Wohnung, nimmt seiner Tochter die Unterrichtsstunden, schickt seine Jungen von der Schule weg und entlässt schließlich den Mann von seinem Posten, der zufällig Stockmann seine Wohnung für eine Versammlung überlassen hatte. „Ohne Knute, ohne Rute“ erreicht es sicher sein Ziel. Es isoliert seinen Feind fast mit der gleichen Sicherheit, wie wenn es ihn in irgendwelche entfernte Regionen verbannt hätte.

Wenn der Bourgeois kosmopolitischen Typs Freidenker ist – einen solchen gab es wenigstens noch vor kurzem –, so hielt es der Kleinbürger der Provinz immer für nötig, die Religion zu verteidigen, wobei er gleichzeitig Verteidigung von ihrer Seite erhoffte. Der Pastor nimmt in vielen Dramen Ibsens nicht den letzten Platz ein. Als der Konsul Bernick sich anschickt, eine schändliche Tat zu begehen, indem er seinen „Freund“ auf einem Schiff zurücklässt, dem unvermeidlich der Untergang droht, nur, um sich vor möglichen Enthüllungen zu sichern – da sucht er Trost in der Religion. Und man muss sagen, er findet ihn. Der Adjunkt Rörlund sagt zu ihm, versteht sich, im Namen der Religion: „Lieber Herr Konsul, Sie sind beinahe zu gewissenhaft. Ich meine, wenn Sie die Sache in die Hand der Vorsehung legen.“ (Die Stützen der Gesellschaft)

All die vielfältigen und nicht selten widersprüchlichen „Momente“ des kleinbürgerlichen Lebens halten sich mit Hilfe eines erprobten, zementierten „ideologischen“ Materials, der Heuchelei, in einem relativen Gleichgewicht. Hören Sie, was ein Mann sagt, der das geliebte Mädchen gegen die Mitgift eintauscht, dabei kaltblütig mit einer unglücklichen Sängerin bricht, die daraufhin von ihrem Mann verlassen wird und im Elend stirbt, der den Freund verleumdet, um seine Finanzen aufzubessern, der bereit ist, diesen Freund zur Festigung seines eigenen Wohls untergehen zu lassen, mit einem Wort, die uns schon bekannte „Stütze der Gesellschaft“, der Konsul Bernick: „Die Familie ist ja doch der Kern der Gesellschaft. Ein gutes Heim, geachtete und treue Freunde, ein kleiner geschlossener Kreis, in den keine störenden Elemente ihren Schatten werfen.“ Das Wichtigste ist natürlich, dass es keine „störenden Elemente“ gibt.

Was dieses geheiligte kleinbürgerliche Familienhaus darstellt, ist zur Genüge bekannt. Ein Schriftsteller legt scharfsinnig einem Kleinbürger folgende Worte in den Mund: „Mein Haus ist meine Festung, und ich bin einer Festung Kommandant!“ Wie oft geriet Ibsen, nach den Worten Paulsens, selbst in seinen Büchern und Lehren an die strengen Worte des Paulus, die besagen, dass „der Mann das Haupt und der Herr sein muss und das Weib seine untertänigste Dienerin“. Sogar ein so außergewöhnlicher Mann wie Doktor Stockmann, dieser einsame Kämpfer gegen die Niedrigkeit der kleinbürgerlichen Mehrheit, sagt seiner Frau diese typische kleinbürgerliche Gemeinheit: „Schnickschnack, Kate; – geh nach Hause und kümmere Dich um Deine Wirtschaft und überlass mir die Sorge um das Gemeinwesen.“

Es ist natürlich unnötig hinzuzufügen, dass das fundamentalste Laster einträchtig mit dem andächtigen Familienkult zusammenlebt, gleichsam als Ergänzung, aber, versteht sich, im Verborgenen.

„Wissen Sie“, sagt der Maler Osvald zum Pastor, „wann und wo ich die Unsittlichkeit in Künstlerkreisen gefunden habe? [...] Ich habe sie gefunden, wenn mal einer von unseren mustergültigen Ehemännern und Familienvätern nach Paris kam, um sich dort ein bisschen auf eigene Faust umzutun [...] Die Herren wussten uns über Orte und Dinge zu erzählen, von denen wir uns nie hatten träumen lassen.“ (Gespenster)

Um ein letztes Detail dieser flüchtigen Charakteristik der norwegischen Provinz zu geben, zitieren wir hier eine interessante Anekdote, die uns durch Paulsen überliefert ist.

Im Theater eines norwegischen Städtchens trat eine dem Publikum unbekannte Sängerin auf, und das steife kleinbürgerliche Publikum konnte sich trotz seines Entzückens nicht entschließen, ihr Beifall zu spenden. Jeder fürchtete, dass sein persönlicher Eindruck nicht mit dem der Mehrheit übereinstimmte, und alle schauten mit gespannter Aufmerksamkeit auf den Dichter Welhaven, eine anerkannte Autorität, der, um das Publikum zum besten zu haben, in völliger Bewegungslosigkeit dasaß. Dann aber erhob Welhaven die Hände zum Applaus, und der ganze Saal stimmte mit einmütigem Händeklatschen ein. „Das Publikum bekam ein Zeichen, dass es seinem Eindruck trauen und dem Gefühl des Entzückens freien Lauf lassen durfte!“

Das ist die furchtbare, stickige gesellschaftliche Atmosphäre, die gesunde menschliche Lungen nicht einatmen können. Weh’ dem, den das Schicksal in diesem Milieu mit einer stark ausgeprägten Originalität, mit weitgespannten Bedürfnissen ausgestattet hat – er ist zu völliger Einsamkeit verurteilt. „Unsere Qual im Leben,“ sagt Guy de Maupassant, „rührt daher, dass wir ewig einsam sind, und alle unsere Anstrengungen und unsere Handlungen nur dieser Einsamkeit zu entgehen trachten.“ (Solitude) „Der ist der stärkste Mann der Welt, entgegnet der mürrische Norweger, der allein steht.“ (Der Volksfeind)

Dieser Widerspruch geht durch das ganze Schaffen der genannten Schriftsteller, die in ihrem Ausgangspunkt ähnlich sind – im Hass gegen das Kleinbürgertum.

Während das Gefühl der Einsamkeit die Grundnote im Wehklagen Maupassants ist, des kranken Sängers der in Auflösung befindlichen bürgerlichen Gesellschaft Frankreichs, verdichtet sich die Mehrzahl der Dramen Ibsens zu einer triumphalen Hymne, einem begeisterten Lied zum Ruhme des „allein Stehenden“.

In einer Gesellschaft der kleinbürgerlichen Unpersönlichkeit und der feigen Heuchelei schafft Ibsen den Kult der energischen Persönlichkeit, eines „vor Gesundheit strotzenden Gewissens [...] so dass man sich das getraute, was man am liebsten möchte!“ (Baumeister Solneß)

Der Kult der einzelnen stolzen Kraft nimmt manchmal bei Ibsen geradezu abstoßende Formen an. Er ist bereit, neben den gesellschaftlich naiven Gelehrten Stockmann den finanziellen Abenteurer Borkman zu stellen, dem der Autor keineswegs in ironischer Absicht die Worte in den Mund legt: „Das ist der Fluch, der auf uns einzelnen, auf uns auserwählten Menschen lastet. Die Masse, die Menge, der Durchschnitt – die verstehen uns nicht.“ (John Gabriel Borkman)

Ibsen geht es nicht darum, dass die sittliche Kraft wie jede andere durch eine Größe bestimmt wird, sondern durch einen Ansatzpunkt und eine Richtung. Aber für Ibsen wie für jeden Geistesschaffenden ist es charakteristisch, dass seine besonderen Sympathien stets der geistigen Kraft gelten. „Wer ist der gefährlichste Feind der Wahrheit und der Freiheit“, fragt er durch die Person Doktor Stockmanns. „Das ist die kompakte Majorität. Jawohl, die verfluchte, kompakte, liberale Majorität.“ Welches ist die tödlichste Lüge? „Es ist die Lehre, dass [...] die Masse [...] die Unwissenden und Unfertigen innerhalb der Gesellschaft dasselbe Recht haben zu verdammen und anzuerkennen, zu regieren und zu beschließen wie die kleine Zahl der geistig vornehmen Persönlichkeiten.“ (Der Volksfeind)

Das sind letztlich die Schlussfolgerungen, die „große Entdeckung“ des Doktor Stockmann. Muss man beweisen, dass sie keinerlei gesellschaftlichen Wert haben? Wie soll in der Tat ein gesellschaftliches System aussehen, in dem einige wenige „geistig vornehme Persönlichkeiten verdammen, anerkennen und regieren?“ Und welcher Gerichtshof wird sich mit der Unterscheidung von „Vornehmen“ und nicht „Vornehmen“ befassen?

Wenn die „Masse“ herangezogen würde, um über die Richtigkeit dieser oder jener wissenschaftlichen Theorie oder eines philosophischen Systems zu befinden, dann hätte Stockmann-Ibsen tausendmal Recht mit seiner beleidigenden Einschätzung der Handlungsfähigkeit der „kompakten Majorität“. Die Meinung Darwins zur biologischen Frage ist hunderttausend mal wichtiger als die kollektive Meinung von hunderttausend Menschen.

Aber eine ganz andere Sache ist das Feld der gesellschaftlichen Praxis, mit seinem tiefen Gegensatz der Interessen, wo es nicht um die Festlegung wissenschaftlicher oder philosophischer Wahrheiten geht, sondern um ständige Kompromisse zwischen auseinanderstrebenden gesellschaftlichen Kräften. Auf diesem Gebiet ist die Dominierung der Minderheit durch die Mehrheit – sofern sie der tatsächlichen Korrelation der gesellschaftlichen Kräfte entspricht und nicht vorübergehend künstlich hervorgerufen wurde – unvergleichlich höher anzusetzen als die Dominierung der Mehrheit durch eine Minderheit, ein Vorgang, der sich nicht selten im Schutze der Dunkelheit abspielt.

Es versteht sich, dass die arithmetische Lösung gesellschaftlicher Fragen nicht das Ideal gesellschaftlicher Solidarität ist. Aber solange die Gesellschaft in verfeindete Gruppen aufgegliedert ist, behält der Primat der Mehrheit über die Minderheit seine tiefe, lebendige Bedeutung, und dem Appell, vom „plebejischen Geist“ der geschlossenen Mehrheit zum „geistigen Aristokratismus“ einiger weniger Ausgewählter überzugehen, wird durch den höchsten Gerichtshof des Lebens nicht stattgegeben.

In dem zitierten Drama (Ein Volksfeind) lassen sich vorzüglich zwei Grundzüge von Ibsens Schaffen erkennen: die geniale Verkörperung der Wirklichkeit und der völlige Mangel an Ressourcen für ein positives Ideal.

Im Lauf des ganzen Dramas verfolgt man mit dem lebhaftesten Interesse, wie die scheinbar rein technische Frage der städtischen Kanalisation an den Besitzverhältnissen der Stadtbevölkerung hängen bleibt, eine Gruppierung der Parteien schafft und Doktor Stockmann zwingt, von der chemischen Erforschung des Wassers zur Analyse des sozialen Milieus überzugehen. Mit angehaltenem Atem beobachtet man die anwachsende Woge der oppositionellen Stimmung in der Brust des ehrenwerten Gelehrten – um am Ende in peinlicher Verlegenheit zu verharren, enttäuscht und verärgert über die magere Lehre vom „geistigen Aristokratismus“.

Ah! Wir hörten und hören diese erhabene Lehre von verschiedenen Seiten, und nicht nur von Dichtern, sondern auch von Wirtschaftswissenschaftlern und Soziologen ...

Professor Schmoller zum Beispiel steht so zur sozialen Reform: er will die Befriedigung der Forderungen der Arbeiter. Aber aller? Oh, nein! Sehen Sie, es gibt „gerechte“ und „ungerechte“ Forderungen. Egoistische Klassenforderungen sind sehr weit von der Gerechtigkeit des Professors entfernt. Gerechte Interessen, das sind nicht Klasseninteressen, sondern Interessen außerhalb oder oberhalb der Klassen. Den Klasseninteressen liegt die banale Ökonomie zugrunde. Die über die Klasse hinausgehenden, gerechten Interessen erheben sich zum ethisch-moralischen Prinzip der „verteilenden Gerechtigkeit“. Dieses universale, dem Zugriff des Klassenanspruchs entzogene Prinzip lautet: die Verteilung der materiellen Güter und Ehrenbezeichnungen muss den geistigen Eigenschaften der Menschen entsprechen. Deshalb müssen entweder die Einkünfte der Tugend entsprechend verteilt werden (Herr Schmoller, das ist gefährlich!), oder die Tugend muss bei jenen Personen, die über hohe Einkommen verfügen, auf die entsprechende Prozentzahl erhöht werden (Herr Schmoller, das ist unerreichbar!).

Das Prinzip der „verteilenden Gerechtigkeit“, diese würdige Frucht tiefsinniger Philosophie, wiese folglich recht viele riskante Stellen auf, wenn Professor Schmoller nicht die „Aristokraten der Bildung und des Geistes“, die Vertreter der liberalen Berufe, des Beamtentums usw. zu den Trägern dieses Prinzips gemacht hätte (daran schließen sich natürlich auch die Aristokraten der Lehrstühle). Aber wenn dies einmal vollzogen ist, steht alles zum besten. Die Klassen, die am Prozess der Güterproduktion teilnehmen und infolgedessen Träger egoistischer Klasseninteressen sind, werden ein für allemal von dem universalen Prinzip ausgeschlossen. Die Klassen der Güterproduktion stehen in dem Maße unter der „verteilenden Gerechtigkeit“ wie die echten Träger dieser Gerechtigkeit über der Güterproduktion stehen.

Wenn die „Aristokraten“ der Universitätsbildung und des bürokratisch-professoralen Geistes nicht ihre Korporationsinteressen hätten, dann erwiese sich die Frucht des aristokratischen Geistes von Professor Schmoller tatsächlich als eine ihres sozialen Leibes beraubte Überklassentheorie ... Aber ...

Da aber die „verteilende Gerechtigkeit“ den „Aristokraten der Bildung und des Geistes“ zur ständigen Verfügung steht, diese ein für allemal von der Teilnahme an der Güterproduktion ausgeschlossen sind und dadurch von der Klasse der materiellen Arbeit ständigen Unterhalt beziehen, erweist sich das Prinzip der „verteilenden Gerechtigkeit“ als ein Feigenblatt, das nur schlecht die nackte Schamlosigkeit der bürokratisch-professoralen Korporationsbegierden verdeckt.

Professor Stammler, ein anderer „Aristokrat der Bildung und des Geistes“, der mit seinem Kollegen wetteifert, versucht ebenfalls, sich über die „sozialen Bestrebungen“, die von „subjektiven und nur aus ihrer zufälligen Lage sich ergebenden Triebfedern“ bestimmt sind, zu der Höhe der sozialen Bestrebungen zu erheben, die objektiv begründet und objektiv berechtigt sind. Dieses lobenswerte Ziel vor Augen, rüstet sich der Aristokrat Stammler mit dem Ideal der „Gemeinschaft frei wollender Menschen“ als dem höchsten Standpunkt in allen sozialen Fragen, als formale Idee, auf deren Grundlage man entscheiden kann, ob der empirische oder der gewollte „soziale Zustand objektiv berechtigt“ ist.

In diesem Moment steht Professor Stammler schon über den Klassen. Die Geschichte führt ihn aus der Enge des Lebenskampfes und setzt ihn auf den Richterthron als „frei wollenden Menschen“, um im Vollbesitz des universalen, objektiv patentierten Ideals ein gnadenloses Urteil und eine strenge Bestrafung auszusprechen gegen jene „sozialen Bestrebungen“, die sich „aus einer zufälligen Lage“ ergeben haben.

Es ist unnötig zu sagen, dass Professor Stammler sich nicht von seinem Lehrstuhl zu erheben braucht, dieser ist schon Richterthron bezüglich der Teilnahme am groben Vorgang der Güterproduktion. Wenn Professor Stammler zusammen mit Professor Schmoller (oh, welch wunderbarer Traum!) zur Leitung des geistigen Vorgangs der Güterverteilung berufen würde, so könnte man sich dafür verbürgen, dass der „frei wollende Mensch“ Stammler und der „Aristokrat der Bildung und des Geistes“ Schmoller so solidarisch und konsequent handelten, dass die Träger der „sich nur aus einer zufälligen Lage ergebenden sozialen Bestrebungen“ und die Vertreter egoistischer Klasseninteressen, denen der solide Boden des „ethisch-rechtlichen“ Prinzips entzogen ist, die gerechte Strafe erhielten für ihren Mangel an Stammlerscher Objektivität und Schmollerscher Tugend.

Nein, nicht von einer Korporation geistiger Aristokraten, der es überlassen bleibt, „zu verdammen, anzuerkennen und zu regieren“, ist Rettung zu erwarten.

Wir müssen uns unbedingt noch mit den Frauengestalten Ibsens befassen, dem viele sogar bereitwillig den gesellschaftlichen Titel eines „Sängers der Frauen“ zuerkennen. Und in der Tat widmet Ibsen der Skizzierung weiblicher Charaktere viel Aufmerksamkeit, sie sind in seinen Dramen beachtlich vielgestaltig.

In Ellida (Die Frau vom Meere) und teilweise in Martha (Die Stützen der Gesellschaft) verkörpert sich der Traum eines Ausbrechens aus dem dumpfen Leben – dorthin, wo „ein größerer Himmel ist, die Wolken höher ziehen [...] eine freie Luft weht,“ ein Ausbrechen, das in fortgeschrittenem Stadium in den Wunsch übergeht, dem „ganzen Schick und Brauch ins Gesicht zu schlagen“ und nicht einmal vor dem Bruch mit der Heimat (Lona und Dina in Die Stützen der Gesellschaft) oder mit dem Mann und den Kindern (Nora oder Ein Puppenheim) haltmacht. An uns ziehen die selbstlosen Frauen Ibsens vorüber, die immer für irgend jemand und nie für sich selbst leben (Tante Juliane in Hedda Gabler, Frau Linde in Ein Puppenheim), die unglücklichen Sklavinnen der Ehe- und Mutterpflichten (Helene Alving in Gespenster), die weichen, krankhaft-empfindsamen, liebenden und verliebten Frauen wie Kaja Fosli (Baumeister Solneß) oder Frau Elvsted (Hedda Gabler); schließlich die Frau im Stil des fin de siècle, die seelisch gebrochene, dekadent-überspannte Hedda Gabler.

Ein ganzes Spektrum psychischer Nuancen, eine ganze Skala seelischer Stimmungen! Aber trotzdem können wir nicht mit A. Veselovskij sagen, dass „in ihnen alle Nuancen des Lebens, alle Sehnsüchte und Hoffnungen und alle Schwächen der heutigen Frau liegen.“ Nein! Bei Ibsen befindet sich auch auf diesem Gebiet ein riesiger weißer Fleck.

Die Wirklichkeit der letzten Jahrzehnte hat eine neue Form hervorgebracht, die nicht nur die Nora, die infolge ihres erwachten Bewusstseins ihrer persönlichen Würde mit ihrem Mann bricht, um dreifache Haupteslänge überragt, sondern auch jene Nora, die ihre Kräfte dem glühenden Kampf um die Emanzipation der Frau widmet.

Diese neue Frau geht weit über die Frage nach der Lage der Frau der privilegierten Klasse hinaus und stellt eine soziale Frage, die Frage nach der Verwirklichung jener Gesellschaftsformen, in denen nicht nur für die Unterwerfung der Frau unter den Mann, sondern auch für die Unterwerfung des Menschen unter den Menschen kein Platz sein wird. Hand in Hand mit dem Mann – nicht in der alten Rolle der Inspiratorin des Gatten, des Bruders oder des Sohnes, sondern als gleichberechtigte Kampfgenossin streitet sie für die Verwirklichung der besten Ideale der Gegenwart. Diese Frau kannte Ibsen nicht.

Inzwischen ist die Zeit des mystischen Kultus Ibsenscher Symbolik vorüber, ebenso wie die frechen, „kritisch“, „wissenschaftlich-physiologisch“ oder anders motivierten Beschimpfungen des großen Norwegers, bei denen es Max Nordau zu einer wahren Meisterschaft brachte. [D]

Die Geschichte des europäischen Gesellschaftsbewusstseins wird nie jene Ohrfeigen vergessen, jene wirklich prachtvollen Ohrfeigen, die Ibsen der sauber gewaschenen, gut frisierten, vor Selbstzufriedenheit glänzenden Kleinbürgerphysiognomie verpasste Mag Ibsen nicht die Ideale der Zukunft gezeigt haben, mag sogar seine Kritik der Gegenwart bei weitem nicht immer von den richtigen Gesichtspunkten ausgegangen sein, so hat er doch mit der Hand eines genialen Meisters die kleinbürgerliche Seele vor uns entblößt und gezeigt, wie viel innere Gemeinheit auf dem Grund der kleinbürgerlichen Wohlanständigkeit und Rechtschaffenheit liegt. Wenn man auf die einzigartigen Kleinbürgergestalten schaut, die er in den besten Augenblicken seines Schaffens hervorgebracht hat, dann kommt einem unwillkürlich der Gedanke, der Pinsel hätte an ein, zwei Stellen ein klein wenig fester aufgedrückt, zwei, drei kaum merkbare Striche hätten hinzugefügt werden müssen, und der soziale Typ von höchstem Realismus würde sich in eine tiefsinnige soziale Satire verwandeln.

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Fußnote

1. Figur bei Gleb Uspenski

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Anmerkungen

A. Auszüge aus diesen Erinnerungen wurden in den Teilen, die sich auf Henrik Ibsen beziehen, im Mir Boschij, III, 1901, abgedruckt und gaben uns Anlass zu der vorliegenden Schrift.

B. Folgender Umstand ist nicht ohne originelle Bedeutung für eine Charakterisierung der Persönlichkeit Ibsens: Als er voll Entrüstung seine Heimat verließ und ins freiwillige Exil ging, forderte er vom Parlament eine „Literaturpension“ und erhielt sie. Es ist offensichtlich schwer, sich durch eine Anstrengung „von innen“, einen „geistigen Umschwung“, vom Äußeren zu befreien, sei es auch nur von einer für diesen Geist erniedrigenden finanziellen Abhängigkeit!“

C. „Ich war mit seinen Werken gut bekannt“, sagt Paulsen, „las sie immer wieder aufs Neue, konnte aber nicht immer in ihre verborgenen Tiefen eindringen ... So viele Sonntage saß ich da und zerbrach mir den Kopf über irgendeine dunkle Stelle“. Wie primitiv stellt sich uns hier die Beziehung zum Kunstwerk dar – wie zu einem Bilderrätsel oder zu einer apokalyptischen Offenbarung!

D. Die Hinweise des Arztes Nordau bezüglich Ibsens falscher Darstellung verschiedener Krankheitsverläufe behalten natürlich ihr ganzes Gewicht – aber, Schuster, bleib bei deinem Leisten!


Zuletzt aktualiziert am 11. September 2020