Leo Trotzki

 

Der Krieg und die Internationale

 

I. Die Balkanfrage

Am 31. August d.J. schrieb eine sozialdemokratische Zeitung:

„Der Krieg, welcher jetzt gegen den russischen Zarismus und seine Vasallen geführt wird, wird von einer großen geschichtlichen Idee beherrscht. Die Weihe eines großen historischen Gedankens erfüllt mit seinem Schwunge die Schlachtfelder in Polen und im östlichen Russland. Das Dröhnen der Kanonen, das Knattern der Maschinengewehre und die Reiterangriffe bedeuten die Vollstreckung des demokratischen Programms der Völkerbefreiung. Wenn es dem Zarismus nicht gelungen wäre, im Bündnis mit der französischen Kapitalkraft und im Bündnis mit der Gewissenlosigkeit einer Krämerpolitik die Revolution zu unterdrücken, so wäre der jetzige völkermordende Krieg überflüssig gewesen. Das befreite russische Volk hätte nämlich niemals in diesen gewissenlosen und unnützen Krieg eingewilligt. Die großen Ideen der Freiheit und des Rechts sprechen jetzt die eindringliche Sprache der Waffen, und jedes Herz, das fähig eines Gefühls für Gerechtigkeit und Menschlichkeit ist, muss wünschen, dass die zarische Macht vernichtet werde und die unterdrückten russischen Nationalitäten ihr Selbstbestimmungsrecht wieder erlangen.“

Der Name der Zeitung, in der diese Zeilen abgedruckt werden, ist Nepszava, das Zentralorgan der Sozialdemokratie Ungarns, – jenes Landes dessen gesamtes inneres Leben auf der gewaltsamen Unterdrückung nationaler Minoritäten aufgebaut ist, auf der Versklavung der Arbeitermassen, auf fiskalischem Parasitentum und Brotwucher der herrschenden Latifundienbesitzer, – eines Landes, in dem Leute wie Tisza Herren der Lage sind, waschechte Agrarier mit den Manieren politischer Banditen. Mit einem Worte, eines Landes das dem zaristischen Russland am nächsten steht. Es ist kein Zufall, dass es dem Schicksal gefiel, gerade die Nepszava, das sozialdemokratische Organ Ungarns, zu verpflichten, der befreienden Mission der deutschen und Österreich-ungarischen Armeen diesen überaus enthusiastischen Ausdruck zu verleihen. Wer ist denn sonst, wenn nicht Graf Tisza, berufen, „die Vollstreckung des demokratischen Programms der Völkerbefreiung“ durchzuführen? Wer könnte denn noch sonst – im Gegensatz zu der „Gewissenlosigkeit einer Krämerpolitik“ des perfidem Albions – die ewigen Prinzipien von Recht und Gesetzlichkeit in Europa bekräftigen, außer der herrschenden Clique gebrandmarkter Budapester Panamisten? Lachen macht versöhnlich, und man kann sagen, dass der tragische Widerspruch der Politik der Internationale in den Aufsätzen der armen Nepszava nicht nur seine Krönung findet, sondern auch seine humoristische Überwindung.

Die gegenwärtigen Ereignisse begannen mit dem Österreich-ungarischen Ultimatum an Serbien. Die internationale Sozialdemokratie hat nicht die geringste Veranlassung, die Ränke der serbischen oder anderer balkanischer Duodez–Dynastien, die ihre Abenteuer mit nationalen Zielen verschleiern, unter ihren Schutz zu nehmen. Doch noch weniger Veranlassung haben wir, uns darüber moralisch zu entrüsten, dass ein junger fanatischer Serbe auf die verbrecherische feig-tückische Nationalpolitik der Wiener und Budapester Machthaber mit einem blutigen Attentat antwortete. [1] Jedenfalls besteht für uns in einem keinerlei Zweifel, nämlich: dass in den historischen Händeln der Donaumonarchie mit den Serben das wirkliche historische Recht, d.h. das Recht der Entwicklung ganz auf Seiten der letzteren ist, wie es im Jahre 1859 auf der Seite Italiens war. Unter dem Duell der königlich-kaiserlichen Polizei-Lumpen mit den Belgradschen Terroristen ist ein weit tieferer Grund verborgen, als die Gefräßigkeit der Karageorgiewitschs, oder die kriminellen Verbrechen der zarischen Diplomatie: auf einer Seite die imperialistischen Anmaßungen eines nicht lebensfähigen Nationalitätenstaates, auf der anderen das Streben des national zerstückelten Serbentums, sich zu einem lebensfähigen Staatsganzen zusammenzuschließen.

Haben wir darum so lange in der Schule des Sozialismus gelernt, um die ersten drei Buchstaben des demokratischen Alphabets zu vergessen! Übrigens ist diese völlige Vergesslichkeit erst nach dem 4. August eingetreten. Bis zu diesem fatalen Datum haben sich die deutschen Marxisten darüber Rechenschaft gegeben was eigentlich im Südosten Europas vorgehe:

„Die bürgerliche Revolution des Südslawentums ist im vollen Gange und die Schüsse in Sarajewo, eine so überspannte und sinnlose Einzeltat sie an sich sind, sind ebenso gut ein Kapitel davon wie die Schlachten, in denen Bulgaren, Serben und Montenegriner für den mazedonischen Bauern das Joch der türkischen feudalen Ausbeutung zerbrachen. Was Wunder, dass die österreichisch-ungarischen Südslawen Blicke voll Sehnsucht zu ihren Stammesbrüdern Im Königreich Serbien richteten, die das höchste Ziel eine Volkes in der bestehenden Gellschaftsordnung, die nationale Selbständigkeit erreicht haben, während Wien und Pest alles was Serbe und Kroate heißt, mit Rippenstößen und Fußtritten, mit Standrecht und Galgen behandeln ... Siebeneinhalb Millionen Südslawen sind es, die, kühner denn je seit den Siegen der Balkanslawen, ihr politisches Recht heischen, und wenn der österreichische Kaiserthron auf die Dauer ihrem Anprall zu widerstehen sucht, wird er stürzen und das Reich, mit dem wir unser Geschick verkoppelt haben, wird in Stücke brechen. Denn es liegt auf der Linie der geschichtlichen Entwicklung, dass solche nationalen Revolutionen zum Siege schreiten.“ So der Vorwärts am 3. Juli 1914, nach dem Attentat von Sarajewo.

Wenn die internationale Sozialdemokratie zusammen mit ihrem serbischen Teil den serbischen nationalen Ansprüchen einen unbeugsamen Widerstand leistete, so sicher nicht, um der historischen Rechte Österreich-Ungarns auf Unterdrückung und Zersplitterung der Nationalitäten, und ganz sicher nicht um der befreienden Mission der Habsburger willen, von der bis August 1914 niemand wagte ein Wörtlein fallen zu lassen, außer den schwarz-gelben Schreibermietlingen. Uns leiteten hierin Motive ganz anderem Art. Vor allem konnte das Proletariat, obgleich es die historische Gesetzmäßigkeit des Strebens der Serben zu nationaler Einheit keinesfalls bestritt, die Lösung dieser Aufgabe nicht denen Händen anvertrauen, die jetzt die Geschicke des serbischen Königreichs leiten.

Zweitens aber – und diese Erwägung war für uns entscheidend – konnte die internationale Sozialdemokratie den Frieden Europas nicht der nationalen Sache der Serben zum Opfer bringen, deren Einheit, außer durch eine europäische Revolution nur durch einen europäischen Krieg erreicht werden konnte.

Aber mit dem Moment, wo Österreich-Ungarn die Frage seines Schicksals und das Schicksal des Serbentums auf das Schlachtfeld übertragen hat, kann für uns keinerlei Zweifel darüber bestehen, dass der soziale und nationale Fortschritt im Südosten Europas durch einen Sieg der Habsburger viel schwerer getroffen wurde, als durch einen Sieg der Serben. Und wenn es für uns wie vordem keine Veranlassung gibt, unsere Mission mit den Zielen der serbischen Armee zu identifizieren, – und eben diesem Gedanken gaben die serbischen Sozialisten Ljaptschewitsch und Katzlerowitsch [2] in ihrem mannhaften Votum gegen die Kriegskredite Ausdruck – so noch weniger, die rein dynastischen Rechte der Habsburger und die imperialistischen Interessen der feudal-kapitalistischen Cliquen gegen den nationalen Kampf des Serbentums zu unterstützen. Jedenfalls aber müsste die österreichisch-ungarische Sozialdemokratie, die jetzt die Habsburgischen Degen für die Befreiung Polens, der Ukraine, Finnlands und. des russischen Volkes selbst segnet, in erster Reihe mit ihren äußerst verworrenen Rechnungen in der serbischen Frage ins Reine kommen.

Doch die Frage beschränkt sich nicht auf das Schicksal des Zehnmillionen-Serbentums. Das Aufeinanderprallen der Völker Europas stellt wieder die Balkanfrage in ihrem ganzen Umfang. Der Bukarester Frieden von 1913 hat weder die nationalen noch die weltpolitischen Probleme im Nahen Osten gelöst, – er hat nur für eine Zeitlang jene neue Verworrenheit bekräftigt, die der momentan völligen Erschöpfung der Beteiligten der beiden Balkankriege entsprungen war.

Gegenwärtig erhebt sich mit aller Schärfe die Frage der weiteren Haltung Rumäniens, dessen Halbmillionen-Armee sich als ein überaus wichtiger Faktor in den sich entwickelnden Ereignissen erweisen kann. Rumänien befand sich, ungeachtet der romanischen Sympathien der Bevölkerung, zum mindesten der städtischen, in der Bann der österreichisch-deutschen Politik. Diese Tatsache war nicht so sehr durch dynastische Ursachen bestimmt – auf dem Bukarester Throne sitzt ein Hohenzoller – als durch die unmittelbare Gefahr einer russischen Invasion. Im Jahre 1879 hat der russische Zar zum Dank für die Unterstützung Rumäniens im russisch-türkischen „Befreiungs“-Kriege ein Stück rumänischen Territoriums (Bessarabien) abgeschnitten. Diese beredte Tatsache gab den dynastischen Sympathien des Bukarester Hohenzollern eine genügende Stütze. Doch mit ihrer Entnationalisierungspolitik in Transsilvanien, das drei Millionen Rumänen zählt gegen ¾ Millionen in Russisch-Bessarabien, hat die magyarisch-habsburgische Clique die rumänische Bevölkerung gegen sich aufgebracht, ebenso wie mit ihren Handelsvertragen mit dem rumänischen Königreich, die vom Willen der österreichischungarischen Latifundienbesitzer diktiert sind. Und wenn Rumänien trotz der tapferen und entschiedenen Agitation der sozialistischen Partei unter Leitung unserer Freunde Gherea und Rakowski seine Armee mit den Armeen des Zarismus vereinigen wird, so fällt die Verantwortung dafür ganz auf das herrschende Österreich-Ungarn, das auch hier ernten wird, was es gesät hat. Doch ist die Sache mit der Frage der geschichtlichen Verantwortlichkeit nicht abgetan. Morgen, in einem Monat, oder auch nach einem halben Jahre wird der Krieg die Schicksalsfrage der Balkanvölker und Österreich-Ungarns im Ganzen stellen, – und das Proletariat muss seine Antwort auf diese Frage haben. Die europäische Demokratie stand im Laufe des 19. Jahrhunderts dem Befreiungskampf der Balkanvölker misstrauisch gegenüber, weil sie eine Stärkung Russlands auf Kosten der Türkei befürchtete. Über diese Befürchtungen schrieb Marx im Jahre 1853, am Vorabend des Krimkrieges:

„Man kann behaupten, dass je mehr Serbien und die serbische Nationalität sich gefestigt hat, desto mehr der direkte russische Einfluss auf die türkischen Slawen in den Hintergrund gedrängt wird. Denn Serbien hat, um seine besondere Stellung als Staat behaupten zu können, seine politischen Institutionen, seine Schulen ... von Westeuropa beziehen müssen.“

Diese Voraussage hat sich glänzend bestätigt am Schicksal Bulgariens, das von Russland als Vorposten auf dem Balkan geschaffen wurde. Sobald das Bulgarentum einigermaßen auf festen Füßen stand, hat es eine starke antirussische Partei – unter Führung des gewesenen russischen Zöglings Stambulow – hervorgebracht, und diese Partei drückte der gesamten äußern Politik des jungen Landes ihr ehernes Siegel auf. Der gesamte Mechanismus der politischen Parteien Bulgariens ist darauf zugeschnitten, zwischen den beiden europäischen Kombinationen Lavieren zu können, ohne endgültig in das Fahrwasser dieser oder jener Kombination zu geraten. Rumänien beschritt die österreichisch-deutsche Bahn, Serbien nach 1903 die russische weil ersteres unmittelbar unter dem Drucke der russischen Gefahr, das andere unter der Last der österreichischen steht. Je unabhängiger die Länder Südost-Europas von Österreich-Ungarn sind, umso entschiedener können sie ihre Unabhängigkeit gegen den Zarismus schützen.

Das auf dem Berliner Kongress 1879 geschaffene Gleichgewicht auf dem Balkan war voller Widersprüche. Durch künstliche ethnographische Grenzen in Teile zerschnitten, unter die Kontrolle importierter Dynastien aus deutscher Pflanzschule gestellt, an Händen und Füßen durch die Intrigen der Großstaaten gebunden, konnten die Balkanvölker nicht aufhören nach weiterer nationaler Befreiung und Einigung zu streben. Das Augenmerk der nationalen Politik des selbständigen Bulgariens war natürlicherweise auf das mit Bulgaren bevölkerte Mazedonien gerichtet, das vom Berliner Kongress unter der Gewalt der Türken belassen war. Umgekehrt hatte Serbien mit Ausnahme des Sandschak Nowy Bazar nichts in der Türkei zu suchen. Seine natürlichen nationalen Interessen lagen jenseits der österreichisch-ungarischen Grenze: in Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Slawonien und Dalmatien. Rumänien hatte nichts im Süden zu suchen, wo Serbien und Bulgarien es von der europäischen Türkei schieden. Die nationale Expansion Rumäniens richtete sich nach Nordwesten und Osten: auf das ungarische Transsilvanien und russische Bessarabien. Endlich hat die nationale Expansion Griechenland natürlicherweise ebenso wie Bulgarien, gegen die Türkei gestoßen. Bulgarien und Griechenland hatten demnach auf ihrem nationalen Wege ein unvergleichlich schwächeres Hindernis, als Serbien und Rumänien. Die österreichisch-deutsche Politik, die auf die künstliche Erhaltung der europäischen Türkei gerichtet war, zerschlug sich nicht an den diplomatischen Ränken Russlands, an denen es natürlich nicht fehlte, sondern an dem unabwendbaren Gang der Entwicklung. Diese hob die nationalstaatliche Selbstbestimmung der Balkanvölker, die die Bahn der kapitalistischen Entwicklung betreten haben, zur geschichtlichen Tagesordnung.

Der Balkankrieg hat die europäische Türkei liquidiert. Damit hat er die Voraussetzung zur Lösung der bulgarischen und griechischen Frage geschaffen. Doch Serbien und Rumänien, deren nationale Vollendung sich nur auf Kosten Österreich- Ungarns verwirklichen konnte, fanden sich in ihren Expansionsbestrebungen nach dem Süden zurückgeworfen und bekamen eine Kompensation auf Kosten des bulgarischen ethnischen Elements: Serbien in Mazedonien, Rumänien in Dobrudscha. Dies ist der Sinn des zweiten Balkankrieges und des ihn abschließenden Bukarester Friedens. Schon die Tatsache der Existenz Österreich-Ungarns, dieser mitteleuropäischen Türkei, lässt keinen Platz für die natürliche Selbstbestimmung der Völker im Südosten, drängt sie auf den Weg ständiger gegenseitiger Kämpfe, veranlasst sie, gegeneinander eine Stütze von außen zu suchen und macht sie sonach zu einem Werkzeug großstaatlicher Kombinationen. Nur unter einem solchen Chaos hat die zarische Diplomatie die Möglichkeit, das Netz ihrer Balkanpolitik zu spinnen, dessen letzte Masche Konstantinopel ist. Und nur eine Föderation der Balkanstaaten – eine ökonomische und militärische – würde eine unüberwindliche Schutzwehr gegen die Gelüste des Zarismus darstellen. Gegenwärtig, nach Liquidierung der europäischen Türkei, steht der Föderation der südöstlichen Völker Europas Österreich-Ungarn im Wege. Rumänien, Bulgarien, Serbien, die ihre natürlichen Grenzen gefunden hatten und auf Grund ökonomischer Gemeinschaft zu. einem Abwehrbündnis mit Griechenland und der Türkei vereinigt wären, hätten der Balkanhalbinsel endlich den Frieden gegeben, diesem Hexenkessel, der periodisch Europa mit Explosionen bedroht hatte, bis er es in die gegenwärtige Katastrophe hineinzog.

Die Sozialdemokratie war bis zu einem gewissen Zeitpunkt gezwungen, sich mit dem Balkan-Schlendrian der kapitalistischen Diplomatie abzufinden, die in ihren Konferenzen und geheimen Verständigungen nur ein Loch stopften. um ein anderes, noch gähnenderes, zu öffnen. Solange dieser Schlendrian die endgültige Losung hinausschob, konnte die sozialistische Internationale darauf hoffen, dass die Liquidierung der Habsburgischen Erbschaft nicht Sache eines europäischen Krieges, sondern Sache der europäischen Revolution sein werde. Doch jetzt, wo der Krieg ganz. Europa aus dem Gleichgewicht gebracht hat und die großstaatlichen Beutejäger die Karte Europas aufs neue umzumodeln versuchen – nicht auf der Grundlage nationaler demokratischer Prinzipien, sondern auf der militärischer Kräfteverhältnisse, – muss die Sozialdemokratie sich klare Rechnung darüber geben, dass eines der wichtigsten Hindernisse der Freiheit, des Friedens und des Fortschritts – neben dem Zarismus und deutschen Militarismus – die Habsburgische Monarchie als eine staatliche Organisation bedeutet. Das verbrecherische Abenteurertum der galizischen sozialistischen Gruppe Daszyniskis besteht nicht nur darin, dass sie die Sache Polens über die Sache des Sozialismus stellt, sondern auch darin, dass sie das Schicksal Polens mit dem der Schicksal der Österreich-ungarischen Armeen und der Habsburgischen Monarchie verbindet.

Das sozialistische Proletariat Europas kann eine solche Lösung der Frage sich nicht zu eigen machen. Für es steht die Frage des vereinigten und unabhängigen Polens auf derselben Linie wie die Frage des vereinigten und unabhängigen Serbien. Wir können und wollen nicht die polnische Frage mit jenen Methoden lösen, die zur Verewigung des jetzigen südöstlichen und gesamteuropäischen Chaos führen. Die Unabhängigkeit Polens bedeutet für uns seine Unabhängigkeit auf beiden Fronten: auf der Romanowschen und Habsburgischen: wir wollen nicht nur, dass das polnische Volk vom Drucke des Zarismus frei sei, sondern auch, dass das Schicksal des serbischen Volkes nicht von der galizischen Schlacht abhänge. Wir brauchen jetzt nicht zu erwägen, welche Formen die Beziehungen eines selbständigen Polens zu Böhmen, Ungarn und der Balkan-Föderation annehmen werden. Aber völlig klar ist es, dass ein Komplex mittlerer und kleiner Staaten an der Donau und auf dem Balkan eine weit mächtigere Schranke gegen die Anschläge des Zarismus auf Europa bilden werden als das heutige chaotische, kraftlose Österreich-Ungarn, welches das Recht auf seine Existenz nur durch fortwährende Attentate auf den Frieden Europas nachweist.

In dem oben zitierten Aufsatz aus dem Jahre 1853 schrieb Marx anlässlich der Orient-Frage:

„Wir haben gesehen, wie die europäischen Staatsmänner in ihrer verstockten Dummheit, verknöcherten Routine und ererbten geistigen Trägheit vor jedem Versuch der Beantwortung der Frage, was aus der Türkei in Europa werden soll, zurückschrecken. Die große Triebkraft, die Russlands Vorstoß gegen Konstantinopel fördert, ist gerade jenes Auskunftsmittel wodurch es von dort ferngehalten werden soll, die hohle, niemals durchgesetzte Theorie von der Aufrechterhaltung des Status quo. Worin besteht dieser Status quo? Für die christlichen Untertanen der Pforte bedeutet er nichts anderes als die Verewigung ihrer Unterdrückung durch die Türkei. Solange sie durch türkische Herrschaft unterjocht sind, sehen sie in dem Haupte der griechischen Kirche, dem Beherrscher von 60 Millionen griechischer Christen, ihren natürlichen Beschützer und Befreien.“

Das, was hier von der Türkei gesagt ist, trifft jetzt in hohem Maße auch auf Österreich-Ungarn zu. Die Lösung der Balkanfrage ist ohne die der Österreich-ungarischen Frage undenkbar, da beide von ein und derselben Formel umfasst werden: die demokratische Föderation der Donau- und Balkanvölker.

„Die Regierungen mit ihrer altmodischen Diplomatie aber,“ schrieb Marx, „werden die Schwierigkeit niemals lösen. Wie die Lösung so vieler andrer Probleme, bleibt auch die des türkischen der europäischen Revolution vorbehalten.“ Diese Behauptung behält auch jetzt ihre volle Kraft. Doch eben, damit die Revolution eine Lösung der im Laufe der Jahrhunderte angehäuften Schwierigkeiten geben soll, muss das Proletariat sein Programm der Lösung der Österreich-ungarischen Frage haben. Und dieses Programm muss es mit gleicher Kraft den Eroberungs-Gelüsten des Zarismus, wie den feig-konservativen Sorgen um die Erhaltung des Österreich-ungarischen Status quo entgegenstellen.

 

 

Fußnoten von Trotzki

1. Es ist belehrend, dass eben dieselben österreichisch-deutschen Opportunisten, die immer mit den russischen Terroristen sympathisieren, mehr als wir russischen Sozialdemokraten, die wir prinzipielle Gegner der terroristischen Kampfesweise sind, sich jetzt vor moralischer Entrüstung winden und ihr ganzes moralisches Eingeweide nach außen treten lassen, über die „meuchlings vollbrachte Bluttat von Sarajewo“. Im Dunst des Chauvinismus sind diese Leute nicht einmal fähig zu überlegen, dass jener bedauernswerte serbische Terrorist namens Gawrilo Prinzip dasselbe nationale Prinzip darstellt wie der deutsche Terrorist Sand. Werden sie nicht gar von uns fordern, dass wir unsere Sympathien von Sand auf Kotzebue übertragen? Werden diese Eunuchen etwa den Schweizern raten, dass sie die Denkmäler des Meuchelmörders Teil stürzen, und durch Denkmäler eines der geistigen Vorläufer des ermordeten Erzherzogs, des österreichischen Statthalters Geßler, ersetzen.

2. Um diese Handlungsweise ganz würdigen zu können, muss man sich den ganzen politischen Zusammenhang in Erinnerung rufen. Eine Gruppe serbischer Verschwörer tötet einen Habsburger, den Träger des Österreich-ungarischen Klerikalismus, Militarismus und Imperialismus. Diese für sie willkommene Tat benutzend, stellt die Wiener militärische Partei an Serbien eines der unverschämtesten Ultimaten der diplomatischen Geschichte. Die serbische Regierung macht in ihrer Antwort außerordentliche Konzessionen und beantragt, die Lösung der strittigen Fragen dem Haager Schiedsgericht zu übergeben. Österreich erklärt darauf Serbien den Krieg. Wenn der Begriff „Verteidigungskrieg“ überhaupt einen Sinn hat, so augenscheinlich in der Anwendung auf Serbien in diesem Falle. Dessen ungeachtet haben unsere Freunde Ljaptschewitsch und Katzlerowitsch in unerschütterlichem Bewusstsein ihrer sozialistischen Pflicht ihrer Regierung das Vertrauen rundweg verweigert. Der Verfasser dieser Seiten war in Serbien am Anfang des Balkankrieges. In der Skuptschina, in einer Atmosphäre unbeschreiblicher nationaler Begeisterung, stimmte man über die Kriegskredite ab. Die Abstimmung geschah durch Namensaufruf. Auf zweihundert „Ja“ klang durch Grabesruhe ein einziges „Nein“, des Sozialisten Ljaptschewitsch. Alle empfanden die moralische Kraft dieses Protestes, der als eine unvergessliche Erinnerung in unserem Gedächtnis verblieb.

 


Zuletzt aktualiziert am 21.7.2008