Leo Trotzki

 

Der Krieg und die Internationale

 

III. Der Kampf gegen den Zarismus

Doch der Zarismus! Bedeutet denn nicht der Sieg Deutschlands und Österreichs eine Niederlage des Zarismus? Und wiegt ein solches Resultat nicht reichlich alle oben angezeigten Folgen auf?

Diese Frage hat eine ausschlaggebende Bedeutung in der gesamten Argumentation der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie. Die Niederdrückung eines kleinen neutralen Landes, die Zerschmetterung Frankreichs – alles wird mit der Notwendigkeit des Kampfes gegen den Zarismus gerechtfertigt. Das Votum für die Kriegskredite wird durch Haase mit der Notwendigkeit „die Gefahr des russischen Despotismus abzuwehren“ begründet. Bernstein ruft zu Marx und Engels zurück und gibt, alte Texte benutzend, die Losung aus: „Abrechnung mit Russland“.

Südekum, mit dem Ausgang seiner italienischen Mission unzufrieden, sieht die Schuld der Italiener darin, dass sie den Zarismus nicht verstehen. Und wenn die Wiener und Budapester Sozialdemokraten sich unter die Fahne Habsburgs stellen, das den „heiligen Krieg“ gegen die nach nationaler Einheit strebenden Serben erklärt, so bringen sie ihre sozialistische Ehre der Notwendigkeit des Kampfes gegen den Zarismus zum Opfer.

Doch nicht nur die Sozialdemokraten. Die gesamte deutsche bürgerliche Presse will gegenwärtig kein anderes Ziel kennen, als die Vernichtung der zarischen Selbstherrschaft, welche die Völker Russlands unterdrückt und die Freiheit Europas bedroht.

Der Reichskanzler denunziert Frankreich und England als Vasallen der russischen Despotie. Ja sogar der deutsche Generalmajor v. Morgen, ein unzweifelhaft erprobter „Freund der Freiheit und Unabhängigkeit“, fordert die Polen in einem Aufrufs zum Aufstand gegen zarischen Despotismus auf.

Es wäre jedoch für uns, die wir doch durch die Schule des historischen Materialismus gegangen sind, beschämend, wenn wir trotz dieser Phrasen, Lügen, Prahlereien, schmutzigen Gemeinheiten und Dummheiten die wirklichen Zusammenhänge der Interessen nicht erkannten.

Es wird niemand ernstlich glauben, dass der Zarismus der deutschen Reaktion so verhasst ist und ihre Schläge gegen diesen gerichtet sind. Im Gegenteil. Nach dem Kriege wird wie bisher der Zarismus für die Machthaber Deutschlands die am meisten verwandte und nahestehende Regierungsform sein. Der Zarismus ist dem Deutschland der Hohenzollern unentbehrlich, aus zwei Gründen. Erstens schwächt er Russland ökonomisch, kulturell und militärisch, indem er die Entwicklung Russlands zu einem imperialistischen Nebenbuhler bremst. Zweitens stärkt die Existenz des Zarismus die hohenzollernsche Monarchie und die Oligarchie des Junkertums. Denn gäbe es keinen Zarismus, so stünde der deutsche Absolutismus vor Europa als letzter Stützpunkt feudaler Barbarei.

Der deutsche Absolutismus hat nie sein blutverwandtes Interesse an dem Bestehen des Zarismus verheimlicht, der dieselbe soziale Art, wenn auch in unverschämteren Formen, darstellt. Interessen, Tradition und Sympathien führen gleichmäßig die deutsche Reaktion an die Seite des Zarismus. „Russlands Trauer, Deutschlands Trauer“. Gleichzeitig aber können die Hohenzollern, den Zarismus im Rücken, wenn auch nicht vor West-Europa, so doch vor dem eigenen Volke, als Schutzwall der Kultur „gegen Barbarei“ paradieren.

„Mit aufrichtigen Leid sah ich eine von Deutschland treubewahrte Freundschaft zerbrechen“, sagte Wilhelm II. in seiner Thronrede nach der Kriegserklärung. Nicht Frankreich und nicht England war gemeint, sondern Russland oder richtiger die russische Dynastie, gemäß der russischen Religion der Hohenzollern, wie Marx sagen würde.

Die deutschen Sozialdemokraten flößen entweder selbst Wilhelm II. und seinem Kanzler den politischen Plan ein, oder schreiben ihn diesen doch zu: einerseits, durch den Sieg über Frankreich und England die Bedingungen für eine Annäherung mit ihnen zu schaffen, anderseits den strategischen Sieg über Frankreich auszunutzen, um den russischen Despotismus zu erdrücken.

In Wirklichkeit aber haben die politischen Pläne der deutschen Reaktion einen gerade entgegengesetzten Charakter und können keinen andern haben.

Ob der zerstörende Stoß gegen Frankreich von strategischen Gesichtspunkten diktiert war, ob die „Strategie“ nicht eine Verteidigungstaktik an der Westgrenze zuließ – diese Frage lassen wir einstweilen offen.

Aber nicht sehen, dass die Politik der Junker die Zerschmetterung Frankreichs forderte, kann nur der, der Veranlassung hat, die Augen verschlossen zu halten. Frankreich – das ist der Feind!

Eduard Bernstein, der zur Rechtfertigung der politischen Position der deutschen Sozialdemokratie aller Enden zu vermitteln ehrlich bestrebt ist, kommt zu folgenden Schlussfolgerungen: Wäre Deutschland demokratisch regiert, so bestünde auch kein Zweifel, wie das – die Abrechnung mit dem Zarismus – zu erzielen wäre. Ein demokratisches Deutschland würde den Krieg nach Osten revolutionär führen. Es würde die von Russland unterdrückten Nationen zum Widerstand gegen dieses aufrufen und ihnen die Mittel geben, für die Befreiung ernsthaft zu kämpfen. Ganz richtig! Indes – fährt Bernstein fort – Deutschland ist keine Demokratie, es wäre daher utopistisch (eben!), eine solche Politik mit allen ihren Konsequenzen von ihn zu erwarten. (Vorwärts 28. August) Na also! Hier aber bricht Bernstein die Analyse der wirklichen deutschen Politik „mit allen ihren Konsequenzen“ plötzlich ab. Nachdem er den schreienden Widerspruch in der Position der deutschen Sozialdemokratie aufgedeckt, schließt er seine Ausführungen mit der unerwarteten Hoffnung, dass ein reaktionäres Deutschland dasselbe erfüllen werde, wozu nur ein revolutionäres imstande wäre, credo quia absurdum. Man könnte jedoch einwenden: Die herrschende Elite Deutschlands hat natürlicherweise kein Interesse am Kampfe gegen den Zarismus. Doch Russland steht jetzt Deutschland als Feind gegenüber, und aus diesem Kriege, aus dem Siege Deutschlands über Russland, könnte der Zarismus, unabhängig vom Willen der Hohenzollern, geschwächt hervorgehen, wenn nicht völlig zusammenbrechen. Es lebe Hindenburg, das große unbewusste Werkzeug der russischen Revolution, rufen wir mit der Chemnitzer Volksstimme. Es lebe der preußische Thronfolger – auch ein ziemlich unbewusstes Werkzeug! Es lebe der türkische Sultan, der jetzt in Dienste der Revolution die russischen Städte am Schwarzen Meere bombardieren lässt! Die glückliche russische Revolution – wie rasch sich jetzt ihre Kampfesreihen vermehren! Doch versuchen wir dieser Frage eine ernste Seite abzugewinnen. Könnte nicht wirklich die Niederlage des Zarismus der Sache der Revolution Vorschub leisten?

Gegen diese Möglichkeit ist nichts einzuwenden. Der Mikado und seine Samurai waren absolut nicht interessiert an der Befreiung Russlands. Dessen ungeachtet war der russisch-japanische Krieg ein mächtiger Anstoß zu den ihm folgenden revolutionären Ereignissen.

Solche Folgen lassen sich darum auch vom deutsch-russischen Krieg erwarten.

Um aber solche historische Möglichkeiten politisch bewerten zu können, muss man folgende Umstände in Betracht ziehen.

Diejenigen, weiche denken, dass der russisch-japanische Krieg die Revolution hervorgebracht hat, kennen und verstehen die Ereignisse und ihre Zusammenhänge nicht. Der Krieg hat den Ausbruch der Revolution nur beschleunigt. Doch hat er auch eben dadurch die Revolution geschwächt. Denn hätte sich die Revolution aus dem organischen Auswachsen der innern Kräfte heraus entwickelt, so wäre sie später aufgetreten, aber mächtiger und planmäßiger. Folglich ist die Revolution durchaus nicht an einem Kriege interessiert. Das als erstes. Zweitens hat der russisch-japanische Krieg, indem er den Zarismus schwächte, den japanischen Militarismus gestärkt. Auf den deutsch-russischen Krieg beziehen sich die beiden obigen Betrachtungen in noch höherem Grade.

Im Laufe der Jahre 1912-1914 hatte sich Russland durch den ungeheuren Aufschwung der Industrie endgültig aus dem Zustand konterrevolutionärer Niedergedrücktheit herausgearbeitet.

Das Wachstum der revolutionären Bewegung auf der Grundlage der ökonomischen und politischen Ausstände der Arbeitermassen, das Anwachsen der oppositionellen Stimmung in den breitesten Schichten der Bevölkerung, führten das Land in eine neue Epoche der Stürme und Kämpfe. Aber im Unterschied zu den Jahren 1902 bis 1905 entwickelte sich die Bewegung unvergleichlich bewusster und planmäßiger und überdies auf einer weit breiteren sozialen Unterlage. Sie bedurfte der Zeit, um ganz auszureifen, keineswegs aber der Lanzen der ostelbischen Samurai, die im Gegenteil dem Zaren die Möglichkeit gaben, die Rolle des Verteidigers der Serben, Belgier und Franzosen zu spielen.

Der Krieg kann – katastrophale Niederlagen Russlands vorausgesetzt – ein schnelleres Hervortreten der Revolution bringen, aber um den Preis ihrer inneren Schwächung. Und wenn sogar die Revolution unter solchen Bedingungen die Oberhand gewinnt, so werden die hohenzollernschen Armeen ihre Bajonette gegen diese wenden. Und diese Perspektive kann ihrerseits nicht verfehlen, die revolutionären Kräfte Russlands zu paralysieren, weil sich nicht leugnen lässt, dass hinter den hohenzollernschen Bajonetten die Partei des deutschen Proletariats steht. Das ist jedoch nur die eine Seite der Sache. Die Besiegung Russlands setzt notwendigerweise entscheidende Siege Deutschlands und Österreichs auf den andern Kriegsschauplätzen voraus, und dies bedeutet die erzwungene Aufrechterhaltung des nationalpolitischen Chaos im Zentrum und Süd-Osten Europas, wie die unbegrenzte Herrschaft des deutschen Militarismus in ganz Europa.

Eine erzwungene Entwaffnung Frankreichs, die Milliarden-Kontributionen, die erzwungene Einbeziehung der Besiegten in eine Zollgrenze, ein erzwungener Handelsvertrag mit Russland, dies alles in Verein, würde den deutschen Imperialismus für mehrere Dezennien zum Herrn der Lage machen.

Der Umschwung in der neueren Politik Deutschlands, die mit der Kapitulation der proletarischen Partei vor dem nationalistischen Militarismus ihren Anfang nahm, wäre für lange Zeit gestärkt, die deutsche Arbeiterklasse würde sich materiell und ideell mit den Abfällen vom Tische des siegreichen Imperialismus nähren, die soziale Revolution dagegen wäre ins Herz getroffen.

Dass unter solchen Umständen selbst eine vorübergehend siegreiche russische Revolution nur eine historische Fehlgeburt sein könnte, braucht nicht weiter bewiesen zu werden.

Sonach birgt das gegenwärtige Aufeinanderprallen der Völker, die unter das Joch des Militarismus, den die besitzenden Klassen auf sie gewälzt haben, geraten sind, die ungeheuren Widersprüche in sich, welche der Krieg selbst und die ihn leitenden Regierungen in keiner Weise im Interesse der künftigen geschichtlichen Entwicklung zu lösen vermögen.

Die Sozialdemokraten konnten und können ihre Ziele mit keiner der geschichtlichen Möglichkeiten, welche dieser Krieg in sich birgt – d.h. weder mit dem Siege des Zweibundes noch mit dem des Dreiverbandes – verquicken.

Die deutsche Sozialdemokratie hat das früher sehr wohl gewusst, und speziell über die Frage des Kampfes gegen den Zarismus schreibt der Vorwärts am 28. Juli:

„Was aber dann, wenn die Lokalisierung nicht gelingt, wenn Russland auf den Plan tritt? Welche Haltung sollen wir dem Zarismus gegenüber einnehmen? In dieser Frage liegt die große Schwierigkeit der Situation.

Ist jetzt nicht der Moment gekommen, dem Zarismus den Todesstoß zu versetzen, wird nicht die Revolution in Russland zum Siege gebracht, wenn deutsche Armeen die russische Grenze überschreiten?“

Diese Frage untersuchend, kommt der Vorwärts zu folgender Schlussfolgerung:

„Ist es sicher, dass die russische Revolution zum Siege geführt wird, wenn deutsche Armeen die russische Grenze überschreiten? Dieser Akt kann wohl den Zusammenbruch des Zarismus herbeiführen, aber werden die deutschen Armeen ein revolutionäres Russland nicht mit noch größerer Energie bekämpfen und niederzuwerfen suchen als das absolutistische?“

Und noch mehr. Am 3. August, am Vorabend der geschichtlichen Reichstagssitzurig, schrieb der Vorwärts in seinem Der Kampf gegen den Zarismus überschriebenen Artikel:

„Während die konservative Presse die stärkste Partei des Reiches, zum Gaudium des Auslandes, als Hochverräter beschimpft, sucht man auf der andern Seite umgekehrt der Sozialdemokratie klar zu machen, dass der Krieg, der jetzt bevorstehe, eigentlich eine alte sozialdemokratische Forderung sei. Der Krieg gegen Russland, der Krieg gegen den blutbefleckten und, wie er seit einigen Tagen in der früher knutenbegeisterten Presse genannt wird, gegen den treulosen Zarismus – ist er nicht eine alte sozialdemokratische Forderung seit Anbeginn? ...

So argumentiert man tatsächlich in einem Teile, und zwar in dem gescheiteren Teile der bürgerlichen Presse und beweist damit nur, wie großes Gewicht man auf die Stimmung auch desjenigen Teiles des deutschen Volkes legt, der hinter der Sozialdemokratie steht. Deswegen heißt es jetzt nicht mehr:

Russische Trauer ist deutsche Trauer! sondern: Nieder mit dem Zarismus! Freilich ist, seitdem einst die genannten (Bebel, Lassalle, Engels, Marx) Führer der Sozialdemokratie den demokratischen Krieg gegen Russland verlangten, Russland keineswegs mehr bloß der Hort der Reaktion, sondern auch der Herd der Revolution geworden. Den Zarismus zu stürzen ist jetzt die Aufgabe des russischen Volkes im allgemeinen und des russischen Proletariats im besonderen geworden, und wie rüstig gerade die russische Arbeiterklasse diese ihr durch die Geschichte gewordene Aufgabe anpackt, des sind gerade die letzten Wochen Zeugen gewesen ... Und alle nationalistischen Hetzversuche der echtrussischen Leute, den Hass der Massen von dem Zarismus abzuwenden, und eine reaktionäre Hetze gegen das Ausland, vor allem gegen Deutschland, zu entfesseln, sind bis jetzt fehlgeschlagen. Zu gut weiß das russische Proletariat, dass sein Feind nicht jenseits der Grenzen, sondern im eigenen Lande sitzt. Nichts war den nationalistischen Hetzern, den Echtrussen und Panslawisten unangenehmer, als die Nachricht von den großen Friedensdemonstrationen der deutschen Sozialdemokratie. 0, wie hätten sie aufgejubelt, wenn das Gegenteil der Fall gewesen wäre, wenn sie dem revolutionären russischen Proletariat hätten sagen können: Was wollt ihr? Die deutsche Sozialdemokratie steht an der Spitze der Kriegshetzer gegen Russland! Und Väterchen in Petersburg hätte also befreit aufgeatmet: Das war die Nachricht, die ich brauchte! Jetzt ist der russischen Revolution, meinem gefährlichsten Feinde, das Rückgrat gebrochen! Die internationale Solidarität des Proletariats ist zerrissen! Jetzt kann ich die nationalistische Bestie entfesseln! Ich bin gerettet!“

So schrieb der Vorwärts, nachdem Deutschland schon an Russland den Krieg erklärt hatte.

Diese Worte bezeichneten die ehrliche, mannhafte Position des Proletariats vor dem kriegführenden Chauvinismus. Der Vorwärts hat die niedrige Heuchelei des herrschenden knutenfreundlichen Deutschland, das sich plötzlich seiner Bestimmung, Russland vom Zarismus zu befreien, bewusst geworden ist, vortrefflich verstanden und gebrandmarkt. Der Vorwärts warnte die deutsche Arbeiterschaft vor der politischen Erpressung, welche die bürgerliche Presse an ihrem revolutionären Gewissen ausüben will. Glaubt nicht diesen Knutenfreunden, sagte der Vorwärts den deutschen Proletariern, sie sind lüstern nach euren Seelen, verhüllen ihre imperialistischen Interessen mit der Lüge freiheitlicher Phraseologie. Sie betrügen euch – das beseelte Kanonenfutter, dessen sie bedürfen. Gelänge es ihnen, euch auf ihren Weg zu bringen, so hülfen sie nur dem Zarismus, indem sie der russischen Revolution einen, schrecklichen moralischen Schlag versetzt hätten.

Und wenn trotzdem die russische Revolution ihr Haupt erhöbe, so hätten eben diese Leute dem Zarismus geholfen, sie zu ersticken.

Das ist der Sinn dessen, was der Vorwärts bis zum 4. August die Arbeiterschaft lehrte.

Und genau drei Wochen später schreibt derselbe Vorwärts: „Befreiung vom Moskowitertum, (?) Freiheit und Unabhängigkeit für Polen und Finnland, freie Entwicklung für das große russische Volk selbst, Lösung des unnatürlichen Bündnisses zweier Kulturnationen von der zaristischen Barbarei, das war nur das Ziel, das das deutsche Volk begeistert und opferbereit gemacht hat“ und mit dem deutschen Volk auch die deutsche Sozialdemokratie und ihr Zentralorgan.

Was ist denn in diesen drei Wochen geschehen, was veranlasste den Vorwärts, seinem anfänglich eingenommenen Standpunkt zu entsagen?

Was ist geschehen? Nichts von Bedeutung. Die deutschen Heere erwürgten das neutrale Belgien, brannten eine Reihe belgischer Ortschaften nieder, zerstörten Leuven, dessen Einwohner sich lasterhaft genug erwiesen, um mit aller Dreistigkeit, ohne Helm und Federbusch auf die bewaffneten Fremden zu schießen, die gewaltsam in ihr Heim eingedrungen sind; [1] in diesen drei Wochen trugen die deutschen Armeen Tod und Verderben auf das Territorium Frankreichs, und die ihnen verbündete Österreich-ungarische Armee paukte den Serben an der Sawa und Drina die Liebe zur habsburgischen Monarchie ein – das sind die Tatsachen, die augenscheinlich den Vorwärts überzeugten, dass die Hohenzollern den Krieg für Befreiung der Nationen führen.

Man erdrückte das neutrale Belgien, die Sozialdemokraten schwiegen. Und Richard Fischer kam speziell als außerordentlicher Gesandter der Partei nach der Schweiz, um dem Volke eines neutralen Landes zu erklären, dass die Zerstörung der belgischen Neutralität und die Zerschmetterung des kleinen Volkes eine ganz natürliche Erscheinung sei. – Wozu der Lärm? Jede Regierung Europas hätte an Stelle der deutschen ebenso gehandelt. Eben um diese Zeit hat sich die deutsche Sozialdemokratie nicht etwa einfach mit dem Kriege als mit einem wirklichen oder vermeintlichen Werke nationaler Verteidigung versöhnt, nein, sie umwand die hohenzollerisch-habsburgischen Armeen mit der Aureole eines offensiv-befreienden Feldzuges. Welcher beispiellose Fall für eine Partei, die fünfzig Jahre hindurch die deutsche Arbeiterklasse lehrte, in der deutschen Regierung den Feind aller Freiheit und Demokratie zu sehen!

Während dessen deckt jeder neue Tag des Krieges immer mehr die europäische Gefahr auf, welche die Marxisten gleich hätten voraussehen sollen. Die Hauptstöße der deutschen Regierung waren nicht nach Osten, sondern nach Westen, gegen Belgien, Frankreich und England gerichtet. Wenn wir auch das Unwahrscheinliche annehmen, dass nur strategische Gesichtspunkte diesen Plan der Kriegskampagne bestimmten, so bleibt auch dann die folgenschwere politische Logik dieser Strategie in ihrer vollen Kraft, die Notwendigkeit der vollen entscheidenden Niederschlagung Belgiens, Frankreichs und des englischen Landheeres, um die Hände gegen Russland frei zu haben. War es denn nicht klar, dass, was als vorläufige strategische Maßregel erklärt wurde, zum Trost der deutschen Sozialdemokratie, durch die Macht der Tatsachen zu einem selbständigen Ziele werden müsse! Und je hartnäckiger der Widerstand Frankreichs, dem nun wirklich die Aufgabe geworden ist, sein Territorium und seine Unabhängigkeit gegen den deutschen Angriff zu schützen, sein muss, desto sicherer bindet es und wird es die deutsche Armee an seiner Westgrenze binden; je mehr sich Deutschland dabei erschöpft, um so weniger Kraft und Lust bleibt ihm, seine angebliche Hauptaufgabe, nämlich die ihm von den deutschen Sozialdemokraten zugeschriebene „Abrechnung mit Russland“, zu lösen! Dann wird die Geschichte Zeugin sein eines ehrenhaften Friedens zwischen den zwei reaktionärsten Mächten Europas: zwischen Nikolaus, dem das Schicksal wohlfeile Siege über die bis in den Kern verfaulte habsburgische Monarchie [2] beschieden hat und Wilhelm, der die Abrechnung vollzog, aber nicht mit Russland, sondern mit Belgien.

Das Bündnis zwischen Hohenzollern und Romanow – nach der Erschöpfung und Erniedrigung der Weststaaten - wird eine neue Epoche der schwärzesten Reaktion in Europa und auf der ganzen Weit bedeuten.

Mit ihrer jetzigen Politik bahnt die deutsche Sozialdemokratie dieser schrecklichen Gefahr den Weg. Und diese Gefahr wird zur Wirklichkeit, wenn das europäische Proletariat sich nicht einstellt und als revolutionärer Faktor einmischt in die Rechnungen der Dynastien und der kapitalistischen Regierungen.

 

Fußnoten von Trotzki

1. „Echt preußisch die Erklärung“, schrieb Marx an Engels, „dass niemand sein ‚Vaterland‘ verteidigen darf, außer in Uniform!“

2. „Nur solche Kriege können ihr (der zarischen Diplomatie),“ schrieb Engels mit Recht im Jahre 1890, „passen, wo die Alliierten Russlands die Hauptlast zu tragen, ihr Gebiet der Verwüstung preiszugeben, die große Masse der Kämpfer zu stellen haben, und wo den russischen Truppen die Rolle der Reserven zufällt. Nur gegen entschieden Schwächere, wie Schweden, die Türkei, Persien, führt das Zarentum Krieg auf eigene Faust.“ – Jetzt muss man Österreich-Ungarn in eine Reihe mit der Türkei und Persien stellen.

 


Zuletzt aktualiziert am 23.1.2005