Leo Trotzki

 

Der Krieg und die Internationale

 

VI. Der Zusammenbruch der Internationale

Auf ihrem Parteitage in Paris, zwei Wochen vor Ausbruch der Katastrophe, beharrten die französischen Sozialisten darauf, alle Teile der Internationale zur revolutionären Aktion im Falle einer Mobilmachung zu verpflichten. Sie hatten dabei hauptsächlich die deutsche Sozialdemokratie im Auge. Der Radikalismus der französischen Genossen in Fragen der äußern Politik hatte nicht so sehr internationale, als nationale Wurzeln. Die Kriegsereignisse haben endgültig bestätigt, was vielen schon vorher klar war. Die französische sozialistische Partei wollte von ihrer deutschen Bruderpartei eine gewisse Garantie für die Unantastbarkeit Frankreichs haben. Nur wenn sie sich auf diese Weise beim deutschen Proletariat versichert, hätten die französischen Sozialisten ihre Hände endgültig für einen entschiedenen Kampf gegen den nationalen Militarismus frei zu haben geglaubt. Die deutsche Sozialdemokratie hat ihrerseits rundweg abgelehnt, eine Verpflichtung solcher Art auf sich zu nehmen. Bebel wies nach, dass die sozialistischen Parteien, wenn sie die französische Revolution unterzeichneten, damit noch nicht in Stand gesetzt würden, im entscheidenden Augenblick ihren Verpflichtungen auch nachzukommen. Gegenwärtig kann man kaum bezweifeln, dass Bebel recht hatte. Wie die Ereignisse wiederum bewiesen, lähmt die Mobilisationsperiode die sozialistische Partei fast völlig jedenfalls schließt sie die Möglichkeit aufschiebender Aktionen aus. Sobald die Mobilisation verkündet ist, befindet sich die Sozialdemokratie Auge in Auge mit der konzentrierten Regierungsgewalt, die sich auf einen mächtigen militärischen Apparat stützt, der bereit ist, alle Hindernisse auf seinem Wege niederzuwerfen, unter unbedingter Mitwirkung aller bürgerlichen Parteien und Institutionen.

Eine nicht minder wichtige Bedeutung hat die Tatsache, dass die Mobilisation jene Kreise aufweckt und auf die Füße stellt, deren wirtschaftliche Bedeutung eine minimale ist und die in friedlichen Zeiten fast keine politische Rolle spielen. Hunderttausende und Millionen kleiner Handwerker, Lumpenproletarier, Kleinbauern und landwirtschaftlicher Arbeiter werden in die Reihen der Armee einbezogen, wo im Rock des Kaisers jeder von ihnen ebensoviel bedeutet, als der klassenbewusste Arbeiter. Ihre Familien werden gewaltsam aus einer stumpfsinnigen Gleichgültigkeit herausgerissen und an dem Schicksal des Landes interessiert. In allen diesen Kreisen, zu denen unsere Agitation fast nicht dringt, und die sie unter gewöhnlichen Bedingungen nie mit sich fortreißen wird, erweckt die Mobilisation und Kriegserklärung neue Erwartungen. Wirre Hoffnungen auf Änderung des gegenwärtigen Zustandes, auf Umschwung zum Besseren erfasst die aus dem Gleichmut des Elends und der Knechtschaft herausgerissenen Massen. Hier vollzieht sich das gleiche wie am Beginn einer Revolution, doch mit dem ausschlaggebenden Unterschied, dass die Revolution diese erst erwachten Volkskreise mit der revolutionären Klasse verbindet, der Krieg aber mit der Regierung und Armee! Wenn dort alle unbefriedigten Bedürfnisse, alle angehäuften Leiden, alle sehnsüchtigen Hoffnungen ihren Ausdruck in revolutionärer Begeisterung finden, so nehmen hier dieselben sozialen Empfindungen zeitweilig die Form patriotischer Trunkenheit an. Weite Kreise der vom Sozialismus berührten Arbeiterschaft werden in denselben Strom hineingezogen. Die sozialdemokratische Vorhut fühlt sich in der Minderheit, ihre Organisationen sind zur Ergänzung der Heeresorganisation verwüstet. Unter solchen Umständen kann keine rede sein von revolutionären Aktionen der seitens der Partei. Und dies alles ganz unabhängig von der Einschätzung des Krieges. Der russisch-japanische Krieg hat ungeachtet seines kolonialen Charakters und der Unpopularität im Lande, im Laufe des ersten Halbjahres die revolutionäre Bewegung fast vollständig erstickt. Es ist folglich klar, dass bei allem guten Willen die sozialistischen Parteien die Verpflichtung der totalen Obstruktion zur Zeit einer Mobilmachung, d.h. eben in einem Moment, in dem der Sozialismus sich politisch am isoliertesten erweist, nicht auf sich nehmen konnten.

Sonach schließt die Tatsache, dass die Arbeiterparteien der militärischen Mobilisation ihre revolutionäre Mobilisation nicht entgegensetzten, nichts Unerwartetes und Entmutigendes in sich. Hätten sich die Sozialisten darauf beschränkt, ihr Urteil über den gegenwärtigen Krieg auszusprechen, jede Verantwortung für ihn abzulehnen, ihren Regierungen das Vertrauen und die Kriegskredite zu verweigern, so wäre ihre Schuldigkeit vorerst erfüllt gewesen. Sie hätten eine abwartende politische Position eingenommen, deren oppositioneller Charakter den Regierenden wie den Volksmassen gleich klar gewesen wäre. Die weiteren Aktionen wären dem objektiven Gang der Ereignisse entsprungen und jenen Veränderungen, welche die Kriegsereignisse im Volksbewusstsein hervorrufen müssen. Das innere Band wäre der Internationale erhalten, das sozialistische Banner unbefleckt geblieben; die Sozialdemokratie, zeitweilig geschwächt, hätte freie Hand behalten zur entschiedenen Einmischung in die Ereignisse, sobald der Umschwung in per Stimmung der Arbeitermassen sich vollzogen hätte. Und man kann mit Bestimmtheit sagen: all den Einfluss auf die Massen, dessen die Sozialdemokratie bei einer solchen Haltung im Anfang des Krieges verlustig gegangen wäre, hätte sie nach dem unvermeidlichen Umschwung wieder gewinnen müssen.

Wenn dies nicht geschehen ist, wenn das Zeichen zur Kriegsmobilisation auch das Zeichen zum Sturz der Internationale geworden ist, wenn die nationalen Arbeiterparteien, ohne einen Protest aus ihrer Mitte, sich mit ihren Regierungen und Armeen vereinigten, so muss es dafür tiefe und dabei für die gesamte Internationale gemeinsame Ursachen geben. Es ist nicht angängig, diese Ursachen in persönlichen Fehlern, in der Beschränktheit der Führer und der Parteivorstände zu erblicken, vielmehr müssen sie in den objektiven Bedingungen jener Epoche, in der die sozialistische Internationale entstand und sich konstruierte gesucht werden. Das heißt nicht‚ dass die Unzuverlässigkeit der Führer und konfuse Unzulänglichkeit der Parteivorstände je gerechtfertigt werden soll. Durchaus nicht. Das sind aber keine grundlegenden Faktoren. Diese müssen in den historischen Bedingungen der ganzen Epoche aufgesucht werden. Denn es handelt sich diesmal – und darüber muss man sich klare Rechenschaft geben – nicht um einzelne Fehler, nicht um opportunistische Schritte, nicht um ungeschickte Erklärungen von der parlamentarischen Tribüne, nicht um das Votum der großherzoglich-badischen Sozialdemokraten für das Budget, nicht um einzelne Experimente des französischen Ministerialismus und sozialistischen Karrierismus, es handelt sich um das vollständige Versagen der Internationale in der Verantwortlichen historischen Epoche, zu der die bisher geleistete gesamte Arbeit des Sozialismus nur als eine Vorbereitung betrachtet werden kann. Einem historischen Rückblick wird es leicht, eine ganze Reihe von Tatsachen und Symptomen festzustellen, die eine Beunruhigung in Bezug auf die Tiefe und Festigkeit des Internationalismus in der Arbeiterbewegung hätten hervorrufen sollen.

Wir sprechen nicht von der österreichischen Sozialdemokratie. Vergebens suchten die russischen und serbischen Sozialisten in den Aufsätzen weltpolitischen Inhalts der Wiener Arbeiter-Zeitung Zitate, die sie den serbischen und russischen Arbeitern übermitteln könnten, ohne sich der Internationale zu schämen. Die Verteidigung des österreichisch-deutschen Imperialismus nicht nur gegen seine äußeren, sondern auch gegen seine inneren Gegner, – auch der Vorwärts gehörte ja dazu! – blieb immer eine der hervorstechendsten Richtlinien dieses Blattes. Man kann ohne Ironie sagen, dass in der gegenwärtigen Krise der Internationale die Wiener Arbeiter-Zeitung ihrer Vergangenheit am treuesten geblieben ist.

Der französische Sozialismus hatte auf dem einen Pol einen stark patriotischen Ausdruck, der von Deutschfeindlichkeit nicht frei war, auf der andern spielen die grellsten Farben des Hervéischen Antipatriotismus, der, wie die Erfahrung zeigt, sich leicht in sein Gegenteil verwandelt.

Der terroristisch gefärbte Patriotismus Hyndmans, der seinen sektiererischen Radikalismus ergänzt, hat öfters der Internationale politische Schwierigkeiten bereitet.

In weit minderem Maße konnte man nationalistische Symptome in der deutschen Sozialdemokratie beobachten. Freilich hat sich der Opportunismus der Süddeutschen auf dem Boden des Partikularismus entwickelt, welcher deutscher Nationalismus in Oktav [=im Kleinformat] war. Doch die Süddeutschen wurden gerechtermaßen als die einflussarme politische Arrièregarde [Nachhut] der Partei betrachtet. Bebels Versprechen, im Falle der Gefahr den Schießprügel auf den Buckel zu nehmen, fand in der Partei geteilte Aufnahme. Und als Noske dieselbe Phrase wiederholte, wurde ihm von der Parteipresse hart zugesetzt. Im allgemeinen hielt die deutsche Sozialdemokratie strenger als irgendeine andere der alten sozialdemokratischen Parteien an der internationalen Linie fest. Aber eben darum hat sie den allerschärfsten Bruch mit ihrer Vergangenheit bewerkstelligt. Nach den formellen Erklärungen der Partei und den Aufsätzen der Presse zu urteilen, gibt es zwischen dem Gestern und Heute des deutschen Sozialismus keinerlei Zusammenhang. Es ist aber klar, dass dieser katastrophale Umfall nicht hätte geschehen können, wenn nicht seine Voraussetzungen in der vergangenen Epoche bereitet gewesen wären: Die Tatsache, dass zwei junge Parteien, die serbische und die russische, ihren internationalen Pflichten treu blieben, ist durchaus nicht eine Bestätigung der philiströsen Philosophie, welche Prinzipientreue als einen natürlichen Ausdruck der Unreife betrachtet. Doch diese Tatsache veranlasst uns, die Ursachen des Zusammenbruches der zweiten Internationale in eben jenen Bedingungen ihrer Entwicklung zu suchen, die am allerwenigsten auf ihre jungen Mitglieder Einfluss ausübten.

* * *

Das im Jahre 1847 verfasste Kommunistische Manifest schließt mit den Worten „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“ Doch dieses Losungswort erschien viel zu früh, um sogleich zur lebendigen Wirklichkeit zu werden. Auf der geschichtlichen Tagesordnung stand damals die bürgerliche Revolution von 1848. Den Verfassern des Manifestes selbst wurde in dieser Revolution nicht die Rolle von Führern eines internationalen Proletariat sondern die von Kämpfern auf der äußersten Linken der nationalen Demokratie zuteil.

Die Revolution des Jahres 1848 hat nicht eines der nationalen Probleme gelöst, sie hat diese nur aufgerollt. Die Konterrevolution zusammen mit dem industriellen Aufschwung riss den Faden der revolutionären Bewegung ab. Es verging ein neues Jahrzehnt der Ruhe, bis die von der Revolution nicht gelösten Widersprüche sich neuerdings so weit verschärften, dass sie die Einmischung des Schwertes heischten. Es war aber diesmal nicht das den Händen der Bourgeoisie entfallene Schwert der Revolution, sondern das aus der dynastischen Scheide gezogene Kriegsschwert. Die Kriege von 1859, 64, 66 und 70 schufen ein neues Italien und ein neues Deutschland. Die Feudalen haben auf ihre Art das Vermächtnis der Revolution vom Jahre 1848 erfüllt. Der politische Bankrott der Bourgeoisie, der sich in diesem geschichtlichen Austausch der Rollen äußerte, wurde auf der Grundlage der rapiden kapitalistischen Entwicklung ein entschiedener Ansporn zu einer selbständigen proletarischen Bewegung.

Im Jahre 1863 gründet Lassalle in Deutschland den politischen Arbeiterverein. 1864 wird unter Marxens Leitung in London die erste Internationale geschaffen. Die abschließende Losung des Mommunistischen Manifestes geht in das erste Rundschreiben der Internationalen Arbeiterassoziation über. Es ist für die Tendenzen der modernen Arbeiterbewegung im höchsten Grade bezeichnend, dass sie bei ihren ersten Schritten eine Organisation internationalen Charakters schafft. Nichtsdestoweniger erscheint diese Organisation weitaus mehr als eine Vorausnahme der weiteren Bedürfnisse der Bewegung, denn als ein wirklich leitender Apparat des Klassenkampfes. Eine weite Kluft lag noch zwischen dem Endziel der Internationale, der kommunistischen Revolution, und ihrer unmittelbaren Praxis, die vorwiegend in der internationalen Mitwirkung zur chaotischen Aufstandsbewegung [gemeint: Ausstandsbewegung?] der Arbeiter in den verschiedenen Ländern aufging. Selbst die Schöpfer der Internationale hofften, dass der revolutionäre Gang der Ereignisse in kürzester Frist den Missstand zwischen Ideologie und Praxis überwinden werde. Der Generalrat hat zugleich mit der Überweisung von Geldbeträgen an die einzelnen Gruppen in England und auf den Kontinent klassische Versuche gemacht, die Aktion der Arbeiter aller Länder auf dem Gebiet der Weltpolitik zusammen zu fasse

Doch diese Bestrebungen hatten noch keine ausreichende materielle Unterlage. Die Tätigkeit der ersten Internationale fällt zeitlich mit jener Kriegsepoche zusammen, die in Europa und Nordamerika den Weg zur kapitalistischen Entwicklung ebneten. Die Einmischungsversuche seitens der Internationale mussten bei all ihrer prinzipiellen und erzieherischen Bedeutung den vorgeschritteneren Arbeitern aller Länder nur noch klarer ihre Ohnmacht gegenüber dem nationalen Klassenstaat fühlen lassen. Die aus dem Kriege emporgeflammte Pariser Kommune war der Kulminationspunkt in der Epoche der ersten Internationale. Wie das Kommunistische Manifest die theoretische Vorausnahme der modernen Arbeiterbewegung war, und die erste Internationale die organisatorische Vorausnahme der Arbeitervereinigung der ganzen Welt, so war die Pariser Kommune die revolutionäre Vorausnahme der Diktatur des Proletariats. Aber nur eine Vorausnahme. Eben darum zeigte sich, dass es dem Proletariat nicht möglich ist, allein nur durch seine revolutionäre Improvisation den Staatsapparat zu unterwerfen und die Gesellschaft umzuformen. Die aus den Kriegen hervorgegangenen nationalen Staaten schufen für diese historische Arbeit die einzig reale Grundlage, die nationale. Es muss darum durch die Schule der Selbsterziehung gehen. Die erste Internationale hat ihre Mission, die einer Pflanzschule der nationalen sozialistischen Parteien erfüllt. Nach dem deutsch-französischen Kriege und der Pariser Kommune schleppte die Internationale noch eine kurze Frist ihre halbaktive Existenz hin und wurde 1872 nach Amerika verlegt, wohin schon öfters mancherlei Experimente religiösen, sozialen und anderen Charakters wanderten, um dort zu sterben.

Es begann die Epoche mächtiger kapitalistischer Entwicklung auf der Grundlage des nationalen Staates. Für die Arbeiterbewegung war das die Epoche allmählicher Kraftsammlung, organisatorischer Gestaltung und politischen Possibilismus.

In England hat die stürmische Epoche des Chartismus, des revolutionären Erwachens des englischen Proletariats, sich völlig erschöpft, noch zehn Jahre vor dem Entstehen der ersten Internationale. Die Aufhebung der Getreidezölle (1846), das ihr folgende industrielle Aufblühen, welches England zur Werkstatt der Welt umwandelte; die Einführung des Zehnstundentages (1847), das Wachsen der Emigration aus Irland nach Amerika, und endlich die Ausdehnung des Stimmrechts auf die städtischen Arbeiter (1867) – alle diese Bedingungen, die die Lage der oberen Schichten des Proletariats bedeutend verbesserten, führten seine Klassenbewegung in den Strom des Trade-Unionismus und in die ihn ergänzende liberale Arbeiterpolitik über. Die Epoche des Possibilismus, d.h. der bewussten und planmäßigen Anpassung an die ökonomischen, rechtlichen und staatlichen Formen des nationalen Kapitalismus, begann für das englische Proletariat, als den ältern der Brüder, noch vor der Entstehung der Internationale, um zwei Jahrzehnte eher als für das kontinentale Proletariat. Wenn die großen englischen Gewerkschaften sich nichtsdestoweniger anfangs der Internationale anschlossen, so ausschließlich darum, weil es ihnen dadurch besser möglich wurde, sich vor dem Import kontinentaler Streikbrecher bei Lohnkonflikten zu schützen.

Die französische Arbeiterbewegung hat sich nur langsam von dem Blutverlust der Kommune erholt, auf dem Boden verlangsamter industrieller Entwicklung, in der Atmosphäre der giftigsten nationalen Revanchegier. Auf ihren Flanken der anarchistischen „Verneinung“ des Staates und der vulgär-demokratischen Kapitulation vor ihm schwankend, entwickelte sich die französische proletarische Bewegung durch die Anpassung an den sozialen und politischen Rahmen der bürgerlichen Republik.

Der Schwerpunkt der sozialistischen Bewegung übertrug sich, wie Marx schon 1870 voraussagte, nach Deutschland.

Nach dem deutsch-französischen Kriege begann für das vereinigte Deutschland eine Ära, ähnlich den vorausgegangenen Dezennien in England: das kapitalistische Aufblühen, das demokratische Wahlrecht, die Erhöhung der Lebenshaltung der oberen Schichten des Proletariats.

Theoretisch marschierte die Bewegung des deutschen Proletariats unter der Fahne des Marxismus. Doch in seiner Abhängigkeit von den Bedingungen der Epoche wurde der Marxismus für das deutsche Proletariat nicht zur algebraischen Formel der Revolution. wie er es in der Epoche seiner Schöpfung war, sondern zur theoretischen Methode der Anpassung an den mit dem preußischen Helm bekrönten national-kapitalistischen Staat. Der Kapitalismus, der ein zeitweiliges Gleichgewicht errungen, revolutionierte unaufhörlich die ökonomische Grundlage des nationalen Lebens. Die Erhaltung der aus dem Kriege hervorgegangenen Machtstellung forderte die Vergrößerung des stehenden Heeres, Die Bourgeoisie hat der feudalen Monarchie alle ihre politischen Positionen abgetreten, aber um so energischer hat sie sich unter dem Schutze des militärischen Polizeistaates‚ in ihren ökonomischen Positionen befestigt. Der siegreiche Kapitalismus, der auf kapitalistische Grundlage gestellte Militarismus, die aus dem Ineinanderwachsen der feudalen und kapitalistischen Klassen hervorgegangene politische Reaktion – die Revolutionisierung des ökonomischen Lebens und das völlige Fallenlassen revolutionärer Methoden und Traditionen im politischen Leben – das sind die Grundlinien der letzten Epoche, die vierundeinhalb Jahrzehnte umfasst. Die gesamte Tätigkeit der deutschen Sozialdemokratie war auf die Erweckung der rückständigen Arbeiterschichten mittels eines planmäßigen Kampfes für ihre unmittelbaren Bedürfnisse gerichtet – auf Anhäufung der Kräfte, Erhöhung der Mitgliederzahl, Füllung der Kassen, auf Entwicklung der Presse, Eroberung aller sich bietender Positionen, ihre Ausnützung, Erweiterung und Vertiefung. Das war die große geschichtliche Arbeit der Erweckung und Erziehung der bisher „unhistorischen“ Klasse. Unmittelbar an die Entwicklung der nationalen Industrien angelehnt, ihren Erfolgen auf dem nationalen und Weltmarkt angepasst, die Bewegung der Preise für Rohmaterialien und Fertigfabrikate kontrollierend, bildeten sich die mächtigen zentralisierten Berufsverbände Deutschlands. Dem Wahlrecht angepasst, örtlich den Wahlkreisen angeschmiegt, ihre Fühler in den städtischen und ländlichen Gemeinden ausstreckend, errichtete sie das einzigartige Gebäude der politischen Organisation des deutschen Proletariats, mit ihrer vielverzweigten bürokratischen Hierarchie, einer Million zahlender Mitglieder, vier Millionen Wählern, 91 Tageszeitungen und 65 Parteidruckereien. Diese ganze vielseitige Tätigkeit von unermesslicher historischer Bedeutung war praktisch durch und durch erfüllt vom Geiste des Possibilismus. In viereinhalb Jahrzehnten hat die Geschichte dem deutschen Proletariat nicht eine einzige Gelegenheit geboten, mit stürmischem Vorstoß ein Hindernis zu stürzen, in revolutionärem Anlauf irgend eine feindliche Position zu erobern. Infolge der wechselseitigen Beziehungen der sozialen Kräfte war es gezwungen, Hindernisse zu umgehen oder sich ihnen anzupassen. In dieser Praxis war der Marxismus als Denkmethode ein wertvolles Werkzeug politischer Orientierung. Aber er konnte nicht den possibilistischen Charakter der Klassenbewegung ändern, die ihrem Wesen nach in dieser Epoche in England, Frankreich und Deutschland gleichartig war. Die Taktik der Gewerkschaften war, bei unbestrittener Überlegenheit der deutschen Organisation, prinzipiell ein und dieselbe in Berlin und London: ihre Krönung bestand in dem System der Tarifverträge. Auf politischem Gebiete hatte der Unterschied einen unzweifelhaft viel tieferen Charakter. In der Zeit, wo das englische Proletariat unter der Fahne des Liberalismus marschierte, schufen die deutschen Arbeiter eine selbständige Partei mit sozialistischem Programm. Doch die politische Wirklichkeit dieses Unterschieds ist weit weniger tief, als seine ideologischen und organisatorischen Formen. Durch ihren Druck auf den Liberalismus erreichten die englischen Arbeiter jene beschränkten politischen Eroberungen auf dem Gebiete des Wahlrechts, der Koalitionsfreiheit und der Sozialgesetzgebung, welche das deutsche Proletariat mit Hilfe seiner selbständigen Partei bewahrte oder erweiterte. Angesichts der frühen Kapitulation des deutschen Liberalismus war das deutsche Proletariat genötigt, eine selbständige Partei zu schaffen. Doch diese Partei, die prinzipiell unter der Flagge des Kampfes um die politische Macht stand, war in ihrer ganzen Praxis gezwungen, sich der herrschenden Macht anzupassen, die Arbeiterbewegung vor ihren Schlägen zu schützen und einzelne Reformen zu erkämpfen. Mit andern Worten: kraft des Unterschiedes der historischen Traditionen und politischen Bedingungen passte sich das englische Proletariat an den kapitalistischen Staat an durch die Vermittlung der liberalen Partei; das deutsche Proletariat war gezwungen, für dieselben politischen Ziele eine selbständige Partei zu schaffen. Doch der Inhalt des politischen Kampfes des deutschen Proletariats hatte in dieser ganzen Epoche denselben historisch begrenzten, possibilistischen Charakter, wie der des englischen. Am klarsten tritt die Gleichartigkeit dieser beiden, in ihren Formen so verschiedenen Erscheinungen, in den letzten Resultaten der Epoche zu Tage: einerseits war das englische Proletariat im Kampfe für seine Tagesaufgaben gezwungen, eine selbständige Partei zu gründen, ohne jedoch mit seinen liberalen Traditionen zu brechen; andererseits hat die Partei des deutschen Proletariats, die durch den Krieg vor die Notwendigkeit einer entscheidenden Wahl gestellt wurde, eine Antwort im Geiste der national-liberalen Traditionen der englischen Arbeiterpartei gegeben.

Der Marxismus war natürlich nicht etwas Zufälliges oder Bedeutungsloses in der ‚deutschen Arbeiterbewegung. Aber es wäre völlig unbegründet, aus der offiziellen, marxistischen Ideologie der Partei auf ihren sozialrevolutionären Charakter zu schließen.

Die Ideologie ist ein wichtiger Faktor der Politik, aber nicht ein bestimmender; ihre Rolle ist eine politisch dienende. Jener tiefe Widerspruch, in dem sich die erwachende revolutionäre Klasse in ihrem Verhältnis zu dem feudal-reaktionären Staate befand, bedurfte einer unversöhnlichen Ideologie, welche die ganze Bewegung unter das Banner sozialrevolutionärer Ziele brachte. Da die historischen Bedingungen ihr eine possibilistische Taktik aufdrängten, so fand die Unversöhnlichkeit der proletarischen Klasse ihren Ausdruck in den revolutionären Formeln des Marxismus. Dialektisch hat der Marxismus den Widerspruch zwischen Reform und Revolution mit vollem Erfolg versöhnt. Doch die Dialektik der historischen Entwicklung ist etwas weit schwerfälligeres, als die Dialektik des theoretischen Denkens. Die Tatsache, dass die in ihren Tendenzen revolutionäre Klasse gezwungen war, jahrzehntelang sich dem monarchischen Polizeistaat anzupassen, der auf der mächtigen kapitalistischen Entwicklung ruhte, wobei in dieser Anpassung sich eine Millionenorganisation bildete und die die gesamte Bewegung leitende Arbeiter-Bürokratie erzogen wurde diese Tatsache hörte nicht auf zu existieren und verliert nicht ihre schwerwiegende Bedeutung dadurch, dass der Marxismus den sozialrevolutionären Charakter der künftigen Entwicklung vorweggenommen hat. Nur ein naiver Ideologismus konnte diese Vorausnahme der politischen Wirklichkeit der deutschen Arbeiterbewegung gleichstellen.

Die deutschen Revisionisten gingen von den Widerspruch zwischen der reformistischen Praxis der Partei und ihrer revolutionären Theorie aus. Sie verstanden nicht, dass dieser Widerspruch von zeitlichen, wenn auch lange andauernden Verhältnissen bedingt ist, und dass er nur durch die weitere gesellschaftliche Entwicklung überwunden werden kann. Für sie war es ein logischer Widerspruch. Der Fehler der Revisionisten lag nicht darin, dass sie den seinem Wesen nach reformistischen Charakter der Parteipolitik in der verflossenen Epoche konstatierten, sondern darin, dass sie den Reformismus theoretisch verewigen wollten, als die einzige Methode des proletarischen Klassenkampfes. Auf diesem Wege gerieten die Revisionisten in Widerspruch zu den objektiven Tendenzen der kapitalistischen Entwicklung, welche durch Verschärfung der Klassenwidersprüche zur sozialen Revolution führen muss, als den einzigen Weg zur Emanzipation des Proletariats. Aus dem theoretischen Streit ging der Marxismus auf der ganzen Linie als Sieger hervor. Doch der theoretisch geschlagene Revisionismus lebte fort, sich von der gesamten Praxis der Bewegung und ihrer Psychologie nährend. Die kritische Widerlegung des Revisionismus als einer Theorie bedeutete durchaus nicht seine taktische und psychologische Überwindung. Die Parlamentarier Gewerkschaftler und Genossenschaftler fuhren fort zu leben in der Atmosphäre allseitigen Possibilismus, praktischer Spezialisierung und nationaler Beschränktheit. Sogar der Erscheinung Bebels, des größten Repräsentanten dieser Epoche, drückte sie ihren deutlichen Stempel auf.

Besonders stark musste der Geist des Possibilismus sich des Geschlechtes bemächtigen, das in den achtziger Jahren in die Partei eintrat, in der Epoche Bismarckscher Ausnahmegesetze und drückender Reaktion in ganz Europa. Ohne den apostolischen Geist des mit der ersten Internationale verbundenen Geschlechts, in seinen ersten Schritten durch die Macht des siegreichen Imperiums niedergehalten, gezwungen, sich den Fallen und Schlingen des Sozialistengesetzes anzupassen, ist dieses Geschlecht ganz und gar groß gewachsen im Geiste der Mäßigung und des organischen Misstrauens gegen revolutionäre Perspektiven. Jetzt sind es alles Leute im Alter von 50 bis 60 Jahren und eben sie stehen an der Spitze der gewerkschaftlichen und politischen Organisationen. Der Reformismus ist ihre politische Psychologie, wenn nicht gar ihre Doktrin. Das allmähliche Hineinwachsen in den Sozialismus – das ist die Grundlage des Revisionismus – erwies sich als die jämmerlichste Utopie in Anbetracht der Tatsachen der kapitalistischen Entwicklung. Doch das allmähliche politische Hineinwachsen der Sozialdemokratie in den Mechanismus des nationalen Staates erwies sich – für das ganze Geschlecht – als eine tragische Wirklichkeit.

Die russische Revolution war das erste große Ereignis, das 35 Jahre nach der Pariser Kommune die abgestandene Atmosphäre Europas erschütterte. Das schnelle Entwicklungstempo der russischen Arbeiterklasse und die unerwartete Kraft ihrer konzentrierten revolutionären Tätigkeit machten einen großen Eindruck auf die ganze Kulturweit und gaben überall den Anstoß zur Verschärfung der politischen Widersprüche. In England hat die russische Revolution die Bildung einer selbständigen Arbeiterpartei beschleunigt. In Österreich hat sie dank besonderer Umstände zum allgemeinen Wahlrecht geführt. In Frankreich erschien als Echo der russischen Revolution der Syndikalismus, der in unzulänglicher taktischer und theoretischer Form den erwachten revolutionären Tendenzen des französischen Proletariats Ausdruck verlieh. Endlich zeigte sich der Einfluss der russischen Revolution auf Deutschland in der Verstärkung des jungen linken Flügels der Partei, in der Annäherung des leitenden Zentrums an ihn und der Isolierung des Revisionismus. Es erhob sich schärfer die Frage des preußischen Wahlrechts, dieses Schlüssels zu den politischen Positionen des Junkertums. Die revolutionäre Methode des allgemeinen Streiks wurde von der Partei prinzipiell adoptiert. Doch die äußeren Erschütterungen erwiesen sich als ungenügend, um die Partei auf den Weg der politischen Offensive zu stoßen. In Übereinstimmung mit der gesamten Partei-Tradition fand der Umschwung zum Radikalismus in Diskussionen und prinzipiellen Resolutionen seinen Ausdruck. Eine weitere Entwicklung erlangte er nicht.

Vor sechs bis sieben Jahren folgte der revolutionären Flut überall eine politische Ebbe. In Russland triumphierte die Gegenrevolution und eröffnete eine Periode politischen und organisatorischen Zerfalls des russischen Proletariats. In Österreich zerriss schnell der Faden der Eroberungen, die Arbeiterversicherung moderte in den Regierungskanzleien, die nationalen Kämpfe erneuerten sich in der Arena des allgemeinen Wahlrechts mit verdoppelter Kraft und führten die Sozialdemokratie zur Zersetzung und Schwächung. In England hat die Arbeiterpartei nach ihrer Absonderung vom Liberalismus sich wieder mit ihm aufs engste verbunden. In Frankreich sind die Syndikalisten in reformistische Positionen hinübergerückt; Gustav Hervé hat sich in kürzester Zeit in sein Gegenteil umgewandelt. In der deutschen Sozialdemokratie erhoben die Revisionisten das Haupt, ermutigt dadurch, dass die Geschichte ihnen eine solche Revanche verlieh. Die Süddeutschen vollbrachten ihr demonstratives Votum für das Budget. Die Marxisten waren genötigt, vom Angriff zur Verteidigung überzugehen. Die Anstrengungen des linken Flügels, die Partei auf den Weg einer mehr aktiven Politik hinüberzuziehen, blieben erfolglos. Das herrschende Zentrum näherte sich immer mehr dem rechten Flügel, die Radikalen isolierend. Der sich nach den Schlägen von 1905 erholende Konservatismus triumphierte auf der ganzen Linie. Aus Mangel an revolutionären Aktionen, wie auch realer reformistischer Möglichkeiten, ging die ganze Energie auf automatischen organisatorischen Ausbau: neue Partei- und Gewerkschaftsmitglieder, neue Zeitungen, neue Abonnenten. Im Laufe der Jahrzehnte zu einer Politik des possibilistischen Verharrens verurteilt, schuf die Partei den Organisationskult als Selbstzweck. Wohl nie hat der Geist organisatorischer Trägheit in der deutschen Sozialdemokratie so unbedingt geherrscht, wie in den letzten Jahren, die der großen Katastrophe unmittelbar vorangingen. Und es kann keinerlei Zweifel sein, dass die Frage der Erhaltung der Organisationen, Kassen, Volkshäuser, Druckereien bei der Bestimmung der Position der Reichstagsfraktion zum Kriege eine gar wichtige Rolle spielte. Das erste Argument, das ich von einem führenden deutschen Genossen hörte, war: „Hätten wir anders gehandelt, so hätten wir unsere Organisationen und unsere Presse dem Verderben geweiht.“ Wie bezeichnend ist doch für die Psychologie des organisatorischen Possibilismus die Tatsache, dass von 91 sozialdemokratischen Zeitungen nicht eine es für möglich erachtete, einen Protest gegen die Vergewaltigung Belgiens zu erheben. Nicht eine! Nach dem Fallen der Ausnahmegesetze hat die Partei lange gezögert, eigene Druckereien einzurichten, damit diese bei Eintreten wichtiger Ereignisse nicht von der Regierung konfisziert werden können. Und jetzt, nachdem sie eigene Druckereien errichtet, befürchtet die Parteihierarchie jeden entschiedenen Schritt, um keinen Anlass zur Konfiskation zu geben. Noch beredter erscheint der Zwischenfall mit dem Vorwärts, der die Erlaubnis erbat weiter zu existieren – auf der Grundlage eines neuen Programms, das bis auf weiteres den Klassenkampf suspendiert. Jeder Freund der deutschen Sozialdemokratie empfand das Gefühl einer reinigenden Kränkung, als er die Nummer des Zentralorgans mit der herabwürdigenden Vorschrift des „Oberkommandos“ erhielt. Wäre der Vorwärts unter dem Verbot geblieben, so wäre das eine bedeutende politische Tatsache, auf die sich später die Partei selbst mit Stolz berufen hätte. Jedenfalls wäre das weit ehrenwerter, als das Existieren mit dem Abdruck des Generalstiefels an der Stirn. Doch höher als alle Erwägungen der Politik und der Parteiwürde standen die Erwägungen des Unternehmens, des Verlages, der Organisation – und so existiert nun der Vorwärts als ein zweiseitiges Zeugnis der unbegrenzten Brutalität des kommandierenden Junkertums in Berlin wie in Leuven und des unbegrenzten Possibilismus der deutschen Sozialdemokratie.

Der rechte Flügel nahm eine mehr prinzipielle Position ein, die von politischen Erwägungen ausging. Diese prinzipiellen Erwägungen des deutschen Reformismus hat Wolfgang Heine sehr krass formuliert in einer lächerlichen Diskussion darüber, ob man den Sitzungssaal des Reichstages beim „Kaiserhoch“ verlassen oder sitzen bleiben solle. „Die Herstellung der Republik im deutschen Reiche liegt gegenwärtig und für lange Zeit außerhalb aller absehbaren Möglichkeiten, dass sie wirklich nicht Gegenstand unserer Tagespolitik ist.“ ... Die immer ausbleibenden praktischen Erfolge könnten erreicht werden, jedoch nur bei einen Zusammenarbeiten mit dem liberalen Bürgertum. „Aus diesem Grunde und nicht aus Zimperlichkeit habe ich darauf hingewiesen, dass die parlamentarische Zusammenarbeit erschwert wird durch Demonstrationen, die den größten Teil des Hauses unnötig in seinen Gefühlen verletzen.“ Wenn aber schon die Verletzung der monarchischen Etikette imstande war, die Hoffnung auf eine reformatorische Mitarbeit mit dem liberalen Bürgertum zu zerstören, so hätte der Bruch mit der bürgerlichen „Nation“ in der Stunde der nationalen „Gefahr“ für lange hinaus einen Strich gemacht nicht nur durch die erwünschten Reformen, sondern auch durch die reformistischen Wünsche. Jene Haltung, die den konservativen Routineuren des Parteizentrums durch die nackte Sorge um die organisatorische Selbsterhaltung diktiert war, ergänzte sich bei den Revisionisten durch politische Erwägungen. Der Standpunkt der Revisionisten erwies sich auf alle Fälle als weit umfassender und hat allerenden das Feld erobert. Fast die gesamte Parteipresse weist jetzt fleißig auf das hin, was sie früher hart verspottete: dass die patriotische Haltung der Arbeiterschaft ihnen nach dem Kriege die Wohlgeneigtheit der besitzenden Klassen für Reformen bringen müsse.

Sonach fühlte sich die deutsche Sozialdemokratie unter den Schlägen der großen Ereignisse nicht als eine revolutionäre Macht, welche vor sich Aufgaben hat, die weit über den Rahmen der Frage nach der Verschiebung der Staatsgrenzen hinausgehen, die sich nicht einen Augenblick in den nationalistischen Wirbel verliert, sondern den günstigsten Moment abwartet, um gleichzeitig mit den anderen Teilen der Internationale kraftvoll in den Gang der Ereignisse einzugreifen – nein, sie fühlte sich vor allem als ein schwerfälliger organisatorischer Train, den die feindliche Kavallerie bedroht. Darum hat sie auch die ganze Zukunft der Internationale der von ihr unabhängigen Frage der Verteidigung der Grenzen des Klassenstaates untergeordnet – weil sie sich selbst vor allem als ein konservativer Staat im Staate fühlte.

„Siehe Belgien!“ munterte der Vorwärts die Arbeiter-Soldaten auf. Dort sind die Arbeiterhäuser in Lazarette verwandelt, die Zeitungen geschlossen, das Leben unterdrückt. [1] Und darum haltet aus bis zum Ende – „bis der Sieg endgültig unser ist“. Mit anderen Worten: Zerstört weiter, erschrecket selbst vor dem Werke eurer Hände – „siehe Belgien!“ – und schöpfet aus diesem Schrecken Mut für neue Zerstörungen!

Das oben gesagte bezieht sich im Großen und Ganzem nicht nur auf die deutsche Sozialdemokratie, sondern auf alle alten Teile der Internationale, die die Geschichte des letzten halben Jahrhunderts durchgemacht haben. Doch mit dem Gesagten erschöpft sich nicht die Frage nach den Ursachen des Zusammenbruchs der zweiten Internationale. Es bleibt der bisher in diesem Zusammenhang ungeklärte Faktor, der in dem Kern aller durcherlebten Ereignisse ruht. Die Abhängigkeit der Klassenbewegung des Proletariats, insbesondere seiner ökonomischen Kämpfe, von Umfang und Erfolgen der imperialistischen Politik des Staates ist eine Frage, welche, soviel wir wissen, noch keiner Erörterung in der sozialistischen Presse unterzogen worden ist. Mit ihrer Lösung können auch wir uns nicht beschäftigen, im Rahmen eines politischen Pamphlets, als welches diese Broschüre ihrem Wesen nach erscheint. Was wir darüber sagen werden, wird daher notgedrungen den Charakter eines kurzen Überblickes haben.

Das Proletariat ist stark interessiert an der Entwicklung der Produktionskräfte. Als der Grundtypus der ökonomischen Entwicklung der vergangenen Epoche erschien der Nationalstaat, der in Europa in den Revolutionen und Kriegen der Jahre 1789 bis 1870 geschaffen wurde. Mit seiner ganzen bewussten Politik hat das Proletariat zu der Entwicklung der Produktionskräfte auf nationaler Grundlage beigetragen. Es unterstützte das Bürgertum in seinem Kampfe gegen äußere Feinde für nationale Befreiung; in seinem Kampfe gegen Monarchie, Feudalismus und Kirche für das Regime der politischen Demokratie. In dem Maße, als das Bürgertum „ordnungsfreundlich“ wurde, das heißt zur Reaktion überging, hat das Proletariat die von ihm nichtvollendete historische Arbeit auf sich genommen. Indem es gegen das Bürgertum eine Politik des Friedens, der Kultur und Demokratie verfocht, trug es zur Absatzvergrößerung auf dem nationalen Markt bei, es drängte also die Entwicklung der Produktionskräfte vorwärts. In gleichem Maße war es wirtschaftlich interessiert an der Demokratisierung und dem kulturellen Aufschwung aller anderen Länder, als Käufer oder Verkäufer im Verhältnis zu seinem eigenen Lande. Darin bestand die wichtigste Gewähr der internationalen Solidarität des Proletariats – nicht nur in seinem Endziele, sondern auch in seiner Tagespolitik. Der Kampf gegen die Überbleibsel feudaler Barbarei, gegen maßlose Forderungen des Militarismus, gegen Agrarzölle, gegen indirekte Steuer machten den Grundinhalt der Arbeiterpolitik aus und dienten direkt wie indirekt dem Werke der Entwicklung der Produktionskräfte. Eben darum ging die erdrückende Mehrheit der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter in ihrer Politik mit der Sozialdemokratie; jede Hemmung in der Entwicklung der Produktionskräfte berührt am unmittelbarsten die gewerkschaftlichen Organisationen des Proletariats.

In dem Maße, als der Kapitalismus vom nationalen Boden auf einen international-imperialistischen übertrat‚ geriet die nationale Produktion und mit ihr der ökonomische Kampf des Proletariats in unmittelbare Abhängigkeit von jenen Bedingungen des Weltmarktes, die mit Hilfe der Dreadnougths und Mörser gesichert werden. Mit anderen Worten: im Gegensatz zu den grundsätzlichen Interessen des Proletariats, in ihrem vollen historischen Umfang genommen, erwiesen sich die unmittelbaren beruflichen Interessen seiner einzelnen Schichten in direkter Abhängigkeit von den Erfolgen oder Misserfolgen der äußeren Politik der Regierung.

England hat viel früher seine kapitalistische Entwicklung auf die Grundlage imperialistischen Raubbaus gestellt. Es hat die oberen Schichten des Proletariats an seiner Weltherrschaft interessiert. Das englische Proletariat hat bei Verfechtung seiner Interessen sich darauf beschränkt, einen Druck auf die bürgerlichen Parteien auszuüben, die ihm einen Anteil an kapitalistischer Ausbeutung anderer Länder gewährten. Eine selbständige Politik begann es in dem Maße einzuschlagen, als England seine Position auf dem Weltmarkt verlor, zurückgedrängt unter anderem durch seinen Hauptrivalen Deutschland. Doch zugleich, mit der Zunahme der industriellen Weltrolle Deutschlands wuchs nicht nur die materielle, sondern auch die ideelle Abhängigkeit weiter Schichten des deutschen Proletariats vom Imperialismus. Am 11. August schrieb der Vorwärts, dass die deutschen Arbeiter, „die man bisher zu den politisch aufgeklärten gezählt hat und denen seit Jahren (wir müssen gestehen, mit recht wenig Erfolg) die Gefahren des Imperialismus gepredigt worden sind“, ebenso über die italienische Neutralität schimpfen, wie die extremsten Chauvinisten. Dies hat aber den Vorwärts nicht gehindert, die deutschen Arbeiter mit „nationalen“ und „demokratischen“ Argumenten zur Rechtfertigung der blutigen Arbeit des Imperialismus zu speisen – bei vielen Literaten sind die Rücken ebenso biegsam wie die Federn.

Doch ändert dies nichts sie den Tatsachen. In Bewusstsein der deutschen Arbeiter zeigte sich im entscheidenden Augenblick keine unversöhnliche Feindschaft gegen die imperialistische Politik – im Gegenteil, sie offenbarten eine außerordentliche Empfänglichkeit für ihre von nationaler und demokratischer Phraseologie umhülltem Einflüsterungen. Der sozialistische Imperialismus offenbart sich in der deutschen Sozialdemokratie nicht zum ersten Male. Es genügt, an die Tatsache zu erinnern, dass auf dem internationalen Kongress in Stuttgart die Mehrheit der deutschen Delegierten, besonders die Gewerkschafter, gegen die marxistische Resolution über die Kolonialpolitik stimmten. Erst im Lichte der jetzigen Ereignisse erhält die Tatsache, die damals Sensation hervorgerufen, ihre ganze Bedeutung. Gegenwärtig verquickt die Gewerkschaftspresse mit mehr Bewusstheit und nüchterner Sachlichkeit als die politische die Sache der deutschen Arbeiterklasse mit dem Werke der hohenzollernschen Armee.

Solange der Kapitalismus auf nationaler Grundlage verblieb, konnte sich das Proletariat an der Mitwirkung der Demokratisierung der politischen Beziehungen und der Entwicklung der Produktivkräfte mittels seiner parlamentarischen, kommunalen und sonstigen Tätigkeit nicht entziehen. Die Versuche der Anarchisten, dem politischen Kampf der Sozialdemokratie eine formal-revolutionäre Agitation entgegenzustellen, verurteilte sie zur Isolierung und zum Aussterben. Soweit aber die kapitalistischen Staaten aus nationalen Gebilden zu imperialistischen Weltstaaten werden, kann das Proletariat diesem Imperialismus keine Opposition entgegensetzen auf Grund des sogenannten Minimalprogramms, das seiner Politik im Rahmen des Nationalstaates die Richtung gebeben hat. Auf der Grundlage eines Kampfes um Tarifverträge und Sozialgesetzgebung ist das Proletariat außerstande, die gleiche Energie gegen den Imperialismus zu entwickeln, wie es dies gegen den Feudalismus getan hat. Indem es auf den veränderten kapitalistischen Grundlagen seine alte Methode des Klassenkampfes – der ständigen Anpassung an die Bewegung des Marktes – anwendet, gerät es selbst, materiell und ideell, in Abhängigkeit vom Imperialismus. Dem Imperialismus seine revolutionäre Kraft entgegenstellen, kann das Proletariat nur unter dem Banner des Sozialismus als einer unmittelbaren Aufgabe. Die Arbeiterklasse erweist sich umso machtloser gegen den Imperialismus, je länger ihre alten mächtigen Organisationen auf dem Boden der alten possibilistischen Taktik verbleiben; die Arbeiterklasse wird übermächtig gegen den Imperialismus, wenn sie den Kampfesweg der sozialen Revolution betritt.

Die Methoden national-parlamentarischer Opposition verbleiben nicht nur objektiv resultatlos, sondern verlieren für die Arbeitermassen jede subjektive Anziehungskraft angesichts der Tatsache, dass hinter dem Rücken der Parlamentarier der Imperialismus mit bewaffnetem Arm den Verdienst und selbst die Existenz des Arbeiters in immer größerer Abhängigkeit von seinen Erfolgen auf dem Weltmarkt bringt. Dass der Übergang des Proletariats vom Possibilismus zur Revolution nicht durch agitatorische Antreiberei, sondern nur durch historische Erschütterungen hervorgerufen werden kann, war jedem denkenden Sozialisten klar. Aber dass diesem unvermeidlichen Umschwung der Taktik die Geschichte einen solchen erschütternden Zusammenbruch der Internationale vorausschicken würde, hat niemand vorausgesehen. Die Geschichte arbeitet mit titanischer Erbarmungslosigkeit. Was bedeutet ihr die Kathedrale von Reims? Und was einige hundert oder tausend politische Reputationen? Und was ist ihr Leben oder Tod von Hunderttausenden oder Millionen? Das Proletariat hat sich zu lange in der Vorbereitungsklasse aufgehalten, viel länger als seine großen Vorkämpfer es sich gedacht haben – die Geschichte nahm den Besen zur Hand, warf die Internationale der Epigonen auseinander und führte die schwerfälligen Millionen ins Feld, wo ihnen mit Blut die letzten Illusionen abgewaschen werden. Ein schreckliches Experiment! Von seinem Ausgang hängt vielleicht das Schicksal der europäischen Kultur ab.

 

Fußnote von Trotzki

1. Ein Korrespondent des Vorwärts erzählt sentimental, wie er in Brüssel in der Maison du peuple die belgischen Genossen suchte und ein deutsches Lazarett fand. Wozu brauchte der Korrespondent des Vorwärts belgische Genossen? „Um sie für die Sache des deutschen Volkes zu gewinnen“ – in einem Moment, wo schon Brüssel selbst „für die Sache des deutschen Volkes“ gewonnen war.

 


Zuletzt aktualiziert am 23.1.2005