Leo Trotzki

 

Der Kampf um die Macht [16]

(17. Oktober 1915)


Anhang zu
Ergebnisse und Perspektiven



Aus der Zeitung Nasche Slowo (Unser Wort), Paris, 17. Oktober 1915.
Transkription: Einde O’Callaghan.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan und Jørn Andersen für das Marxists’ Internet Archive, August 2000.


Vor uns liegt ein Flugblatt zu Fragen des Programms und der Taktik mit dem Titel Die Aufgabe des russischen Proletariats. Brief an die Genossen in Rußland. Dieses Dokument ist unterzeichnet von P. Axelrod, Astrow, A. Martynow, L. Martow und S. Semkowski. Das Problem der Revolution wird in diesem Brief sehr allgemein gestellt, wobei Klarheit und Genauigkeit in dem Maße schwinden, in dem die Autoren von der Beschreibung der durch den Krieg geschaffenen Situation zu den politischen Perspektiven und taktischen Schlußfolgerungen übergehen; die Terminologie wird immer verschwommener, und die sozialen Definitionen werden doppeldeutig.

Im äußeren Zustand Rußlands scheinen auf den ersten Blick zwei Stimmungen vorzuherrschen: erstens die Sorge um die nationale Verteidigung (von Romanow bis Plechanow) und zweitens eine allgemeine Unzufriedenheit – von der oppositionell-bürokratischen Fronde bis zum Ausbruch von Meutereien auf der Straße. Diese beiden vorherrschenden Stimmungen erzeugen auch die Illusion künftiger Freiheit des Volkes, die aus dem Werk der nationalen Verteidigung hervorgehen wird. Diese beiden Stimmungen aber sind weitgehend dafür verantwortlich, daß die Frage nach der „Volksrevolution“ so unbestimmt gestellt wird, selbst wenn man sie der „nationalen Verteidigung“ gegenüberstellt.

Der Krieg selbst hat mit seinen Niederlagen weder das Problem der Revolution noch irgendwelche revolutionäre Kräfte zu dessen Lösung hervorgebracht. Die Geschichte beginnt für uns keineswegs mit der Übergabe Warschaus an den bayerischen Prinzen. Die revolutionären Widersprüche wie die sozialen Kräfte sind dieselben, mit denen wir 1905 zum ersten Male zu tun hatten – ergänzt durch die sehr bedeutsamen Veränderungen, die das darauffolgende Jahrzehnt an ihnen vorgenommen hat. Der Krieg hat lediglich mit mechanischer Anschaulichkeit die objektive Unhaltbarkeit des Regimes enthüllt. Zugleich hat er im gesellschaftlichen Bewußtsein Verwirrung gestiftet, die den Anschein erweckt, als sei „jedermann“ mit dem Verlangen angesteckt, Hindenburg Widerstand zu leisten, und gleichzeitig mit Haß gegen das Regime des 3. Juni erfüllt. [17] Aber soweit die Organisation eines „Volkskrieges“ schon bei ihren ersten Schritten auf die zaristische Polizei stößt und sich zeigt, daß das Rußland des 3. Juni eine Tatsache und der „Volkskrieg“ eine Fiktion ist, so stößt schon der erste Schritt „zu einer Volksrevolution“ sofort auf die sozialistische Polizei Plechanows, den man freilich zusammen mit seiner ganzen Gefolgschaft als eine Fiktion betrachten könnte, stünden nicht hinter ihm Kerenski, Miljukow, Gutschkow und überhaupt die nichtrevolutionäre und anti-revolutionäre Nationaldemokratie und der Nationalliberalismus.

Der Brief kann natürlich die Klassenspaltung der Nation nicht ignorieren, die sich durch eine Revolution vor den Folgen des Krieges und des gegenwärtigen Regimes retten soll. „Die Nationalisten und Oktobristen, die Fortschrittler und die Kadetten, die Industriellen und auch ein Teil (!) der radikalen Intelligenz schreien wie aus einem Munde von der Unfähigkeit der Bürokratie, das Land zu verteidigen, und fordern zugleich die Mobilisierung der gesellschaftlichen Kräfte für die Sache der Verteidigung ...“ Der Brief zieht den ganz richtigen Schluß, daß diese Position, die den „Zusammenschluß mit den in Rußland gegenwärtig Herrschenden mit den Bürokraten, Adligen und Generalen für die Sache der Landesverteidigung“ voraussetzt, einen antirevolutionären Charakter trägt. Der Brief weist auch ganz richtig auf die anti-revolutionäre Position der „bürgerlichen Patrioten aller Schattierungen“ hin und, können wir hinzufügen, der Sozialpatrioten, die der Brief überhaupt nicht erwähnt.

Daraus müssen wir schließen, daß die Sozialdemokratie nicht nur die konsequenteste Partei der Revolution, sondern die einzige revolutionäre Partei im Lande ist, daß die Gruppierungen neben ihr nicht nur in der Anwendung revolutionärer Methoden weniger entschieden sind, sondern nichtrevolutionäre Parteien darstellen. Mit anderen Worten: daß die Sozialdemokratie mit ihrer revolutionären Aufgabenstellung in der politischen Arena trotz der „allgemeinen Unzufriedenheit“ gänzlich isoliert ist. Das ist die erste Schlußfolgerung, über die man sich ganz klar Rechenschaft ablegen muß. Parteien sind selbstverständlich noch keine Klassen. Zwischen der Position einer Partei und den Interessen der sozialen Schicht, auf die sie sich stützt, kann es Unstimmigkeiten geben, die sich später zu einem tiefen Widerspruch entwickeln können. Das Verhalten der Parteien kann sich unter dem Einfluß der Stimmung der Volksmassen verändern. Dies unterliegt keinem Zweifel. Um so nötiger ist es, daß wir aufhören, uns bei unseren Berechnungen auf weniger stabile und vertrauenswürdige Elemente zu verlassen, wie es die Losungen und taktischen Schritte der Parteien sind, und uns statt dessen auf zuverlässigere historische Faktoren beziehen: auf die soziale Struktur einer Nation, auf das Kräfteverhältnis der Klassen, auf die Entwicklungstendenzen.

Indessen lassen die Autoren des Briefes diese Probleme völlig außer acht. Was bedeutet eine „Volksrevolution“ im Rußland des Jahres 1915? Sie erklären uns nur, daß sie vom Proletariat und der Demokratie gemacht werden „muß“. Wir wissen, was das Proletariat ist; aber was ist „die Demokratie“? Eine politische Partei? Nach dem oben Gesagten offensichtlich nicht. Dann die Volksmassen? Welche? Ganz offensichtlich das Kleinbürgertum in Handel und Industrie, die Intelligenz und die Bauernschaft – nur von ihnen kann die Rede sein.

In der Artikelserie Die Krise des Krieges und die politischen Perspektiven haben wir eine allgemeine Beurteilung der möglichen revolutionären Bedeutung dieser sozialen Kräfte gegeben. Ausgehend von den Erfahrungen der letzten Revolution haben wir untersucht, welche Korrekturen das letzte Jahrzehnt am Verhältnis der Kräfte von 1905 aufgebracht hat: für die (bürgerliche) Demokratie oder gegen sie? Das ist die zentrale historische Frage für die Beurteilung der Perspektiven der Revolution und der Taktik des Proletariats: Ist die bürgerliche Demokratie seit 1905 in Rußland stärker geworden oder ist sie noch tiefer gefallen? Alle unsere Diskussionen gingen um die Frage nach dem Schicksal der bürgerlichen Demokratie, und wer auf diese Frage noch immer keine Antwort hat, tappt im Dunkeln. Wir haben eine Antwort auf diese Frage gegeben: Eine nationale bürgerliche Revolution in Rußland ist unmöglich, weil es dort keine wirklich revolutionäre bürgerliche Demokratie gibt. Die Zeit der nationalen Revolutionen ist – zumindest in Europa vorbei, ebenso wie die Zeit nationaler Kriege hinter uns liegt. Zwischen dem einen und dem anderen besteht ein tiefer innerer Zusammenhang. Wir leben in der Epoche des Imperialismus, der nicht nur durch ein System kolonialer Eroberungen, sondern auch durch ein bestimmtes inneres Regime gekennzeichnet ist. Er stellt nicht die bürgerliche Nation der alten Ordnung gegenüber, sondern das Proletariat der bürgerlichen Nation.

Die kleinbürgerliche Handwerker und Händler spielten schon in der Revolution von 1905 eine unbedeutende Rolle. Ganz ohne Frage ist die soziale Bedeutung dieser Schicht während der letzten zehn Jahre noch weiter gesunken: der Kapitalismus in Rußland rechnet sehr viel härter und radikaler mit den Zwischenklassen ab als in den Ländern mit einer alten ökonomischen Kultur.

Die Intelligenz ist zweifellos zahlenmäßig gewachsen. Es wuchs auch ihre wirtschaftliche Rolle. Gleichzeitig ist aber ihre selbst früher scheinbare „Unabhängigkeit“ vollständig geschwunden: die soziale Bedeutung der Intelligenz ist gänzlich bestimmt durch ihre Rolle bei der Organisierung der kapitalistischen Wirtschaft und der bürgerlichen öffentlichen Meinung. Ihre materielle Bindung an den Kapitalismus hat sie durch und durch mit imperialistischen Tendenzen durchtränkt. Wie wir schon gehört haben, sagt der Brief: „Selbst ein Teil der radikalen Intelligenz ... fordert die Mobilisierung der gesellschaftlichen Kräfte für die Sache der Verteidigung.“

Das ist völlig falsch. Nicht ein Teil, sondern die gesamte radikale Intelligenz. Man müßte sagen: nicht nur die gesamte radikale, sondern ein beachtlicher Teil, wenn nicht die Mehrheit der sozialistischen Intelligenz. Wir werden die Kader der „Demokratie“ schwerlich durch eine schönfärberische Darstellung des Charakters der Intelligenz vergrößern.

Die Industrie- und Handelsbourgeoisie ist noch weiter gesunken, die Intelligenz hat ihre revolutionären Positionen aufgegeben. Die städtische Demokratie kann nicht als revolutionärer Faktor angesprochen werden. Es bleibt nur die Bauernschaft. Aber soweit wir wissen, hat weder Axelrod noch Martow jemals übertriebene Hoffnungen in ihre revolutionäre Rolle gesetzt. Sind sie zu dem Schluß gelangt, daß die unaufhörliche Klassendifferenzierung unter den Bauern im Laufe der letzten zehn Jahre diese Rolle vergrößert hat? Eine solche Überlegung widerspräche allen theoretischen Überlegungen und allen historischen Erfahrungen.

Aber von welcher „Demokratie“ redet denn der Brief? Und in welchem Sinne von „Volksrevolution“?

Die Losung einer konstituierenden Versammlung setzt eine revolutionäre Situation voraus. Ist diese gegeben? Ja, aber sie ist am allerwenigsten von der endlichen Geburt einer bürgerlichen Demokratie in Rußland bestimmt, der man zuschreibt, sie sei jetzt bereit und in der Lage, mit dem Zarismus abzurechnen. Im Gegenteil: wenn dieser Krieg etwas sehr deutlich werden läßt, so das Fehlen einer revolutionären Demokratie im Lande.

Der Versuch des Rußlands vom 3. Juni, die inneren revolutionären Probleme auf dem Weg des Imperialismus zu lösen, hat offensichtlich zu einem Fiasko geführt. Das heißt nicht, daß die verantwortlichen oder halbverantwortlichen Parteien des 3. Juni sich nun für den Weg der Revolution entscheiden werden. Aber es bedeutet, daß das durch die militärische Katastrophe enthüllte revolutionäre Problem, das die Herrschenden noch weiter auf den Weg des Imperialismus treiben wird, jetzt die Bedeutung der einzigen revolutionären Klasse des Landes verdoppelt.

Der Block des 3. Juni ist erschüttert, heimgesucht von inneren Reibungen und Konflikten. Das heißt nicht, daß die Oktobristen und Kadetten sich mit dem revolutionären Problem der Macht auseinandersetzen und sich darauf vorbereiten, die Stellungen der Bürokratie und des vereinten Adels zu stürmen. Aber es heißt, daß die Widerstandskraft des Regimes gegenüber revolutionärem Druck unzweifelhaft für eine Weile geschwächt ist.

Monarchie und Bürokratie sind kompromittiert. Das bedeutet nicht, daß sie die Macht kampflos preisgeben. Mit der Auflösung der Duma und den letzten Ministerwechseln haben sie denen, auf die es ankommt, gezeigt, daß es bis dahin noch lange hin ist. Aber die Politik bürokratischer Instabilität, die sich nur noch verstärken wird, muß der Sozialdemokratie die revolutionäre Mobilisierung des Proletariats außerordentlich erleichtern.

Die unteren Volksschichten in den Städten und auf dem Lande werden immer erschöpfter, enttäuschter, unzufriedener und wütender. Das bedeutet nicht, daß neben dem Proletariat eine selbständige Kraft revolutionärer Demokratie operieren wird. Hierfür gibt es weder das gesellschaftliche Material noch die führenden Personen. Aber es bedeutet ohne Frage, daß die Atmosphäre tiefer Unzufriedenheit bei den unteren Volksschichten den revolutionären Druck der Arbeiterklasse erleichtern muß. Je weniger das Proletariat auf das Erscheinen der bürgerlichen Demokratie wartet, je weniger es sich an die Passivität und Borniertheit des Kleinbürgertums und der Bauernschaft anpaßt, je entschlossener und unversöhnlicher sein Kampf und je offensichtlicher seine Bereitschaft sein wird, bis zum „Ende“, d. h. bis zur Eroberung der Macht zu gehen, desto größer werden seine Chancen sein, im entscheidenden Moment auch die nichtproletarischen Massen mitzureißen. Mit Losungen allein, wie Konfiskation des Bodens usw., kann man hier natürlich nichts machen. Das gilt noch weit mehr für die Armee, mit der die Staatsgewalt steht und fällt. Die Masse der Soldaten wird nur dann auf die Seite der revolutionären Klasse zu bringen sein, wenn sie sich davon überzeugt, daß diese nicht nur murrt und demonstriert, sondern um die Macht kämpft und Chancen hat, sie zu ergreifen.

Es gibt ein objektiv revolutionäres Problem im Lande, das vom Krieg und den Niederlagen klar verdeutlicht wurde – das Problem der Staatsgewalt. Die Herrschenden befinden sich in einem Zustand zunehmender Desorganisation. Die Unzufriedenheit der städtischen und ländlichen Massen wächst. Aber der revolutionäre Faktor, der sich diese Situation zunutze machen kann, ist allein das Proletariat – heute in unvergleichlich größerem Maße als im Jahre 1905.

Der Brief nähert sich in einem Satz irgendwie diesem zentralen Punkt der Sache. Er sagt, daß die sozialdemokratischen Arbeiter Rußlands „sich an die Spitze dieses Volkskampfes für den Sturz der Monarchie des 3. Juni“ stellen müssen. Was mit „Volks“-Kampf gemeint sein kann, haben wir gerade gesagt. Wenn aber „an der Spitze“ nicht einfach in dem Sinne zu verstehen ist, daß die fortgeschrittenen Arbeiter großzügiger als alle anderen ihr Blut vergießen sollten, ohne sich deutlich Rechenschaft darüber abzulegen, was dabei eigentlich herauskommt, sondern in dem Sinne, daß die Arbeiter die politische Führung des gesamten Kampfes übernehmen müssen, der vor allem ein Kampf des Proletariats selbst sein wird, dann ist klar, daß der Sieg in diesem Kampf die Macht dem übergeben muß, der den Kampf geleitet hat, d. h. dem sozialdemokratischen Proletariat.

Es handelt sich also nicht einfach um eine „revolutionäre provisorische Regierung“ (eine leere Form, die von dem historischen Prozeß jeweils einen unbekannten Inhalt erhalten muß), sondern um eine „revolutionäre Arbeiterregierung“, die Eroberung der Macht durch das russische Proletariat.

Die allrussische konstituierende Versammlung, die Republik, der Achtstundentag, die Konfiskation des Bodens der Gutsbesitzer – das sind alles Losungen, die gemeinsam mit den Losungen der sofortigen Beendigung des Krieges, des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen und der Vereinigten Staaten von Europa eine ungeheure Rolle in der Agitationsarbeit der Sozialdemokratie spielen. Die Revolution aber ist zunächst und vor allem eine Frage der Macht – nicht eine Frage der Staatsform (Verfassunggebende Versammlung, Republik, Vereinigte Staaten), sondern des sozialen Inhalts der Macht. Die Losung der Verfassunggebenden Versammlung oder der Konfiszierung des Bodens der Gutsbesitzer verlieren unter den gegenwärtigen Bedingungen alle unmittelbar revolutionäre Bedeutung ohne die direkte Bereitschaft des Proletariats, für die Eroberung der Macht zu kämpfen. Denn wenn nicht das Proletariat der Monarchie die Macht entreißt, wird dies niemand tun.

Die Geschwindigkeit des revolutionären Prozesses ist ein besonderes Problem. Sie hängt ab von einer Reihe militärischer, politischer, nationaler und internationaler Faktoren. Diese Faktoren können die Entwicklung verlangsamen oder beschleunigen, den revolutionären Sieg sicherstellen oder zu einer erneuten Niederlage führen. Aber unter all diesen Bedingungen muß das Proletariat klar seinen Weg vor Augen haben und ihn bewußt gehen. Vor allem muß es frei sein von Illusionen. Und die schlimmste Illusion des Proletariats ist in seiner ganzen Geschichte immer noch die Hoffnung auf andere gewesen.


Anmerkungen

16. Aus der Zeitung Nasche Slowo (Unser Wort), Paris, 17. Oktober 1915.

17. Am 3. (16.) Juni 1907 ließ Stolypin die zweite Duma auflösen.


Zuletzt aktualiziert am 5.9.2011