Leo Trotzki

Terrorismus und Kommunismus

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Der Terrorismus

Das Hauptthema des Büchleins von Kautsky bildet der Terrorismus. Die Anschauung, als gehöre der Terrorismus mit zum Wesen der Revolution, erklärt Kautsky für einen weitverbreiteten Irrtum. Es sei nicht wahr, daß derjenige, der die Revolution wolle, sich auch mit dem Terrorismus abfinden müsse. Was ihn, Kautsky, anbelangt, so sei er im allgemeinen für die Revolution, aber entschieden gegen den Terrorismus. Weiter beginnen aber Schwierigkeiten.

„Die Revolution – klagt Kautsky in seinem Buch Terrorismus und Kommunismus – bringt uns den blutigsten Terrorismus, ausgeübt von sozialistischen Regierungen. Die Bolschewiki in Rußland gingen voran, aufs schärfste deswegen verurteilt von allen Sozialisten, die nicht auf dem bolschewistischen Standpunkt standen, darunter auch den deutschen Mehrheitssozialisten. Aber kaum fühlen diese sich in ihrer Herrschaft bedroht, greifen sie zu den Mitteln des gleichen Schieckensregiments, das sie eben noch im Osten gebrandmarkt haben.“ (S. 9)

Hieraus, scheint es, müßte der Schluß gezogen werden, daß der Terrorismus viel tiefer mit dem Wesen der Revolution verbunden ist, als einige Weise dies annehmen wollen. Kautsky aber kommt zu einer direkt entgegengesetzten Schlußfolgerung: die gigantische Entwicklung des roten und weißen Terrorismus in allen letzten Revolutionen – der russischen, deutschen, österreichischen und ungarischen – zeugt für ihn davon, daß diese Revolutionen von ihrem rechten Wege abgewichen sind und sich nicht als die Revolutionen erwiesen haben, die den theoretischen Traumbildern Kautskys entsprechen. Ohne uns in die Erörterung der Frage zu vertiefen, ob der Terrorismus „als solcher“ in der Revolution „als solcher“ „begründet“ sei, wollen wir das Beispiel einiger Revolutionen anführen, wie sie an uns in der lebendigen menschlichen Geschichte vorübergegangen sind.

Rufen wir uns zuerst die religiöse Reformation, diese Wasserscheide zwischen der mittelalterlichen und neuen Geschichte ins Gedächtnis: je tiefer die Interessen der Volksmassen waren, die sie berührte, desto größer war ihre Wucht, desto heftiger entfaltete sich unter dem religiösen Banner der Bürgerkrieg; desto schonungsloser gestaltete sich auf beiden Seiten der Terror.

Im XVII. Jahrhundert machte England zwei Revolutionen durch: die erste, die große soziale Erschütterungen und Kriege hervorrief, führte unter anderem zur Hinrichtung König Karls I., die zweite aber endete glücklich mit der Thronbesteigung einer neuen Dynastie. Die englische Bourgeoisie und ihre Historiker schätzen diese Revolutionen ganz verschieden ein: die erste ist für sie der Exzeß des Pöbels, der „große Aufruhr“; der zweiten haftet die Benennung der „glorreichen Revolution“ an. Die Ursache eines solchen Unterschiedes der Wertung hat schon der französische Historiker Augustin Thierry erklärt: in der ersten Revolution, im großen Aufruhr, war das Volk die handelnde Person, in der zweiten bewahrte es fast „Stillschweigen“. Hieraus folgt, daß es schwer ist, unter den Bedingungen der Klassenknechtschaft den unterjochten Massen gute Manieren beizubringen. Aus der Fassung gebracht, wenden sie den Knüppel, den Stein, das Feuer und den Strick an. Die Hofgeschichtsschreiber der Ausbeuter fühlen sich beleidigt. Aber als großes Ereignis ist in die Geschichte des neuen (bürgerlichen) England trotzdem nicht die „ruhmvolle“ Revolution, sondern der große Aufruhr auf genommen.

Nach der Reformation und dem „großen Aufruhr“ bildet das größte Ereignis der neuen Geschichte, das die beiden vorhergegangenen an Bedeutung weit übertrifft, die Große Französische Revolution des XVIII. Jahrhunderts.

Dieser klassischen Revolution entspricht ein klassischer Terrorismus. Kautsky ist bereit, den Jakobinern den Terror zu verzeihen, da er annimmt, daß sie durch andere Maßnahmen die Republik nicht retten konnten. Doch mit dieser nachträglichen Rechtfertigung ist niemandem geholfen. Die Kautsky vom Ende des XVIII. Jahrhunderts (die Führer der französischen Girondisten) sahen in den Jakobinern eine Höllenbrut. Der Feder eines spießbürgerlichen französischen Historikers entstammt folgender, in seiner Brutalität sehr lehrreiche Vergleich zwischen den Jakobinern und den Girondisten:

„Die einen wie die anderen wollten die Republik“ ... Aber „die Girondisten wollten eine freie, gesetzmäßige, gnädige Republik. Die Montagnards wünschten (!) eine despotische und schreckliche Republik. Die einen wie die anderen verfochten die Oberherrschaft des Volkes; unter Volk aber verstanden die Girondisten alle; für die Montagnards ... war das Volk nur die werktätige Klasse; darum mußte, nach der Meinung der Montagnards, nur diesen Leuten die Herrschaft gehören.“

Der Gegensatz zwischen den großmütigen Rittern der Konstituante und den blutgierigen Trägern der revolutionären Diktatur ist hier mit genügender Vollständigkeit angedeutet, nur in den politischen Kunstausdrücken der Epoche.

Die eiserne Diktatur der Jakobiner war durch die ungeheuer schwere Lage des revolutionären Frankreich hervorgerufen. Darüber erzählt ein bürgerlicher Historiker folgendes:

„Die ausländischen Truppen hatten das französische Territorium von vier Seiten betreten: vom Norden – die Engländer und Oesterreicher, im Elsaß – die Preußen, in der Dauphiné bis Lyon – die Piemontesen, im Roussillon – die Spanier. Und das zu einer Zeit, wo der Bürgerkrieg an vier verschiedenen Punkten wütete: in der Normandie, in der Vendée, in Lyon und Toulon.“

Hierzu müssen noch die inneren Feinde hinzugefügt werden, die zahlreichen heimlichen Anhänger der alten Ordnung, die bereit waren, dem Feinde mit allen Mitteln zu helfen.

Die Strenge der proletarischen Diktatur in Rußland – sagen wir es gleich hier – war durch nicht weniger schwierige Verhältnisse bedingt. Eine ununterbrochene Front im Norden wie im Süden, im Westen wie im Osten. Außer den russischen weißgardistischen Armeen Koltschaks, Denikins usw. kämpften gegen Sowjetrußland gleichzeitig oder nacheinander: die Deutschen und Oesterreicher, die Tschechoslowaken, Serben, Polen, Ukrainer, Rumänen, Franzosen, Engländer, Amerikaner, Japaner, Finnen, Esten, Litauer ... Im Lande, das von der Blockade gewürgt wurde und am Verhungern war, fanden ununterbrochen Verschwörungen, Aufstände, terroristische Akte, Zerstörungen von Vorratslagern, Wegen und Brücken statt.

„Die Regierung, die den Kampf mit den unzähligen äußeren und inneren Feinden aufgenommen hatte, besaß weder genug Geld, noch genug Truppen, besaß nichts als grenzenlose Energie, die heiße Unterstützung seitens der revolutionären Elemente des Landes und die ungeheure Kühnheit, alle Maßnahmen zur Rettung der Heimat zu treffen, wie willkürlich, ungesetzlich und streng diese auch waren.“

Mit diesen Worten hat einst Plechanow die Regierung ... der Jakobiner charakterisiert. (Der Sozialdemokrat. Literarisch-politische Vierteljahres-Revue. Februar, I. Buch. London 1890. Artikel Das Jahrhundert der Großen Revolution (S. 6–7))

Wenden wir uns der Revolution zu, die sich in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts im Lande der „Demokratie“, in den Vereinigten Staaten Nordamerikas abspielte. Es handelte sich durchaus nicht um die Aufhebung des Privateigentums überhaupt, sondern nur um die Abschaffung des Eigentums an den Schwarzen; dessenungeachtet waren die Institutionen der Demokratie durchaus unfähig, den Konflikt auf friedliche Weise beizulegen. Die bei der Präsidentenwahl von 1860 geschlagenen südlichen Staaten beschlossen, um jeden Preis den Einfluß zurückzuerobern, über den sie bis dahin im Interesse der Sklaverei verfügt hatten, und betraten den Weg des Aufruhrs der Sklavenbesitzer, wobei sie, wie es sich gehört, tönende Phrasen über Freiheit und Unabhängigkeit im Munde führten. Hieraus entsprangen unausbleiblich alle weiteren Folgen des Bürgerkrieges. Schon zu Beginn des Kampfes hatten die Militärautoritäten in Baltimore einige Bürger, Anhänger der Sklavenbesitzer des Südens, ungeachtet des „habeas corpus“ in das Fort Max Henry eingesperrt. Die Frage dei' Gesetzlichkeit oder Ungesetzlichkeit derartiger Handlungen wurde zum Gegenstand eines heißen Streites zwischen den sogenannten „höheren Autoritäten“. Der Oberrichter Tenney entschied, daß der Präsident weder das Recht habe, die Wirkung des „habeas corpus“ aufzuheben, noch die militärischen Behörden dazu zu bevollmächtigen.

„Das ist aller Wahrscheinlichkeit nach die richtige konstitutionelle Entscheidung dieser Frage“, sagt einer der ersten Historiker des amerikanischen Krieges. „Die Sachlage war aber bis zu einem solchen Grade kritisch und die Notwendigkeit, gegen die Bevölkerung von Baltimore entschiedene Maßnahmen zu ergreifen, bis zu einem solchen Grade zwingend, daß nicht nur die Regierung, sondern auch das Volk der Vereinigten Staaten die energischsten Maßnahmen unterstützte.“ (Geschichte des Amerikanischen Krieges von Fletcher, Oberst der schottländischen Gardeschützen, 1867, S. 95)

Einige Gegenstände, deren der aufrührerische Süden bedurfte, wurden ihm von nördlichen Kaufleuten heimlich zugestellt. Natürlich blieb den Nordländern nichts anderes übrig, als ihre Zuflucht zu Repressalien zu nehmen. Am 6. August 1861 bestätigte der Präsident den Beschluß des Kongresses „über die Konfiskation des zu Insurrektionszwecken benutzten Eigentums“. Das Volk, in der Person der demokratischsten Schichten, war für äußerste Maßnahmen; die republikanische Partei hatte im Norden das entschiedene Uebergewicht, und Leute, die des Sezessionismus, d. h. der Unterstützung der abtrünnigen südlichen Staaten verdächtig waren, wurden Gewalttaten ausgesetzt. In einigen nördlichen Städten und sogar in den durch ihre Ordnung berühmten Staaten Neu-Englands drang das Volk nicht selten in die Geschäftsstellen der Zeitschriften ein, die die aufrührerischen Sklavenbesitzer unterstützten, und zertrümmerte die Druckerpressen. Es kam vor, daß reaktionäre Herausgeber mit Teer beschmiert, mit Federn geschmückt durch die Straßen geführt und darauf gezwungen wurden, dem Bunde den Eid der Treue zu leisten. Eine solche mit Teer beschmierte Persönlichkeit eines Plantagenbesitzers sah einem „Selbstzweck“ wenig ähnlich, so daß der kategorische Imperativ Kants im Bürgerkrieg der Staaten große Einbuße erlitt. Das ist aber nicht alles.

„Die Regierung“, erzählt uns der Historiker, „ergriff ihrerseits allerhand Straf maßregeln gegen die Verleger, die mit ihrer Meinung nicht einverstanden waren, und in kurzer Zeit befand sich die bis dahin freie amerikanische Presse in einer Lage, die kaum besser war als die der autokratischen europäischen Staaten.“

Das gleiche Schicksal ereilte auch die Redefreiheit.

„Auf diese Weise“, fährt Oberst Fletcher fort, „entsagte das amerikanische Volk in dieser Zeit dem größten Teil seiner Freiheit. Es ist bemerkenswert – fügte er belehrend hinzu –, daß die Mehrheit des Volkes bis zu einem solchen Grade vom Kriege in Anspruch genommen, bis zu einem solchen Grade von der Notwendigkeit, zur Erreichung ihres Ziels jede Art von Opfer bringen zu müssen, durchdrungen war, daß es nicht nur den Verlust der Freiheit nicht beklagte, sondern ihn fast nicht bemerkte.“ (Geschichte des Amerikanischen Krieges, S. 162–164)

Ungleich schonungsloser behandelten die blutgierigen Sklavenbesitzer des Südens ihr aufrührerisches Gesinde.

„Ueberall, wo sich eine Mehrheit für die Anhänger der Sklaverei bildete“, erzählt der Graf von Paris, „verhielt sich die öffentliche Meinung der Minderheit gegenüber despotisch. Alle, die die Nationalfahne beklagten ... wurden gezwungen, zu schweigen. Bald genügte aber auch dieses nicht; wie bei jeder Revolution wurden die Gleichgültigen gezwungen, ihrer Sympathie für die neue Ordnung Ausdruck zu verleihen ... Diejenigen, die darauf nicht eingingen, fielen dem Haß und den Gewalttätigkeiten der Volksmenge zum Opfer ... In jedem Zentrum der entstehenden Zivilisation (Südweststaaten) bildeten sich Komitees der Wachsamkeit aus allen denen, die sich durch Leidenschaft im Wahlkampf auszeichneten ... Die Schenke war der gewöhnliche Ort ihrer Sitzungen, und lärmende Orgien mischten sich mit der verächtlichen Parodie auf die souveränen Formen der Justiz. Eine Anzahl toller Leute, die rings um das Schreibpult saßen, auf das sich Gin und Whisky ergoß, richteten ihre anwesenden und abwesenden Mitbürger. Der Angeklagte sah schon, ehe er gefragt wurde, wie der verhängnisvolle Strick vorbereitet wurde. Wer nicht vor Gericht kam, fand durch die Kugel des in der Waldschonung versteckten Henkers“ ein Ende ...

Dieses Bild erinnert sehr an die Szenen, die sich tagaus, tagein im Lager von Denikin, Koltschak, Judenitsch und anderer Helden der anglo-französischen und amerikanischen „Demokratie“ abspielen.

Wie es mit dem Terrorismus in bezug auf die Pariser Kommune von 1871 bestellt war, werden wir weiter unten sehen. Auf jeden Fall sind die Versuche Kautskys, uns die Kommune entgegenzustellen, in ihrer Wurzel hinfällig und bringen den Verfasser nur zu Redewendungen niedrigster Art.

Das Institut der Geiseln muß augenscheinlich als in dem Terrorismus des Bürgerkrieges „begründet“ betrachtet werden. Kautsky ist gegen den Terrorismus und gegen das Institut der Geiseln, aber für die Pariser Kommune. (NB. Die Kommune hat vor fünfzig Jahren gelebt.) Die Kommune indessen hat Geiseln genommen. Es entsteht eine Verlegenheit. Wozu aber existiert die Kunst der Exegetik ?

Das Dekret der Kommune über die Geiseln und über deren Erschießung als Antwort auf die Grausamkeiten der Versailler war, der scharfsinnigen Deutung Kautskys zufolge, „aus dem Bestreben, Menschenleben zu erhalten, und nicht, sie zu zerstören“, entstanden. Eine vortreffliche Entdeckung! Sie muß nur erweitert werden. Man kann und muß erklären, daß wir im Bürgerkrieg die Weißgardisten vernichten, damit sie nicht die Arbeiter vernichten. Folglich besteht unsere Aufgabe nicht in der Vernichtung, sondern in der Erhaltung von Menschenleben. Da aber um die Erhaltung der Menschenleben mit der Waffe in der Hand gekämpft werden muß, so führt das zur Vernichtung von Menschenleben – ein Rätsel, dessen dialektisches Geheimnis schon der alte Hegel erklärt hat, um nicht noch ältere Weise anzuführen.

Die Kommune konnte nur durch grausamen Kampf mit den Versaillern sich halten und erstarken. Die Versailler hatten eine bedeutende Anzahl von Agenten in Paris. Im Kampf mit den Banden von Thiers konnte die Kommune nicht anders, als die Versailler an der Front und im Hinterland vernichten. Wäre ihre Herrschaft über die Grenzen von Paris hinausgegangen, so hätte sie in der Provinz – im Prozeß des Bürgerkrieges gegen die Armee der Nationalversammlung – noch mehr geschworene Feinde unter der friedlichen Bevölkerung gefunden. Da sie gegen die Royalisten kämpfte, konnte die Kommune den Agenten der Royalisten im Hinterland nicht die Freiheit gewähren.

Kautsky begreift ungeachtet aller gegenwärtigen Weltereignisse nicht, was der Krieg im allgemeinen und was der Bürgerkrieg im besonderen bedeutet. Er versteht nicht, daß jeder oder fast jeder Anhänger von Thiers in Paris nicht einfach ein ideeller „Gegner“ der Kommunards war, sondern ein Agent und Spion von Thiers, ein grausamer Feind, bereit, aus dem Hinterhalt hervorzubrechen. Ein Feind muß unschädlich gemacht werden; in Kriegszeiten heißt das: ihn vernichten.

Die Aufgabe der Revolution wie des Krieges besteht darin, den Willen des Feindes zu brechen und ihn zur Kapitulation und zur Annahme der Bedingungen des Siegers zu zwingen. Der Wille ist natürlich eine Tatsache der geistigen Welt, aber im Gegensatz zur Versammlung, zum öffentlichen Disput oder Kongreß verfolgt die Revolution ihr Ziel durch Anwendung von materiellen Mitteln, – wenn auch in geringerem Maße als der Krieg.

Die Bourgeoisie selbst hat die Macht durch Aufstände erobert und durch den Bürgerkrieg gefestigt. In Friedenszeiten erhält sie die Macht durch ein kompliziertes System von Repressivmaßregeln aufrecht. Solange die auf den tiefsten Antagonismen beruhende Klasseneinteilung der Gesellschaft bestellt, bleiben die Repressalien das notwendige Mittel zur Unterwerfung des Willens der gegnerischen Seite.

Sogar wenn die Diktatur in dem einen oder anderen Lande im äußeren Rahmen der Demokratie entstände, so wäre dadurch der Bürgerkrieg durchaus nicht beseitigt. Die Frage, wer im Lande zu herrschen hat, d. h. ob die Bourgeoisie leben oder untergehen soll, wird von beiden Seiten nicht durch Hinweise auf die Verfassungsparagraphen, sondern durch Anwendung aller Arten der Gewalt entschieden werden. Wie genau Kautsky auch die Nahrung der Affenmenschen (siehe S. 85 und folg, seines Buches) und andere nahe und entfernte Umstände zur Bestimmung der Ursachen der menschlichen Grausamkeit untersucht, er wird in der Geschichte keine anderen Mittel finden, um den Klassenwillen des Feindes zu brechen, als die zweckmäßige und energische Anwendung von Gewalt.

Der Grad der Erbitterung des Kampfes hängt von einer Reihe innerer und internationaler Umstände ab. Je erbitterter und gefährlicher der Widerstand des niedergeworfenen Klassenfeindes ist, desto unvermeidlicher verdichtet sich das System der Repressalien zu einem System des Terrors.

Hier aber nimmt Kautsky unerwartet eine neue Stellung im Kampf gegen den Sowjetterrorismus ein: er wehrt ganz einfach die Hinweise auf die Grausamkeit des gegenrevolutionären Widerstandes der russischen Bourgeoisie ab. „Von solcher Wildheit – sagt er – ließen sie weder im November 1917 in Petersburg und Moskau und noch weniger jüngst in Budapest etwas merken.“ (S. 102) Bei einer so glücklichen Fragestellung erweist sich der revolutionäre Terrorismus einfach als Produkt der Blutgier der Bolschewiki, die gleichzeitig den Traditionen des grasfressenden Anthropopithecus und den moralischen Lehren der Kautskyaner untreu werden.

Die anfängliche Eroberung der Macht durch die Sowjets Anfang November 1917 vollzog sich an und für sich mit geringen Opfern. Die russische Bourgeoisie fühlte sich so sehr von den Volksmassen isoliert, so innerlich kraftlos, durch den Gang und den Ausgang des Krieges so kompromittiert, durch das Regime Kerenskis so demoralisiert, daß sie fast keinen Widerstand wagte. In Petrograd wurde die Regierung Kerenski fast ohne Kampf gestürzt. In Moskau zog sich der Widerstand hauptsächlich infolge der Unentschlossenheit unserer eigenen Handlungen hin. In den meisten Provinzstädten übernahmen die Sowjets die Macht infolge eines Telegramms aus Petersburg oder Moskau. Wenn sich die Sache darauf beschränkt hätte, so hätte von einem roten Terror nicht die Rede sein können. Aber schon der November 1917 ist Zeuge des beginnenden Widerstandes der Besitzenden. Freilich war die Einmischung der imperialistischen Regierungen des Westens nötig, um der russischen Gegenrevolution den Glauben an sich und ihrem Widerstande wachsende Kraft zu verleihen. Das kann man an großen und kleinen Tatsachen tagaus, tagein während der ganzen Epoche der Sowjetrevolution sehen.

Der „Stab“ Kerenskis hatte keine Stütze unter den Soldaten und war geneigt, die Sowjetmacht widerstandslos anzuerkennen, die mit den Deutschen in Verhandlungen über den Waffenstillstand eintrat. Es erfolgte aber ein von offenen Drohungen begleiteter Protest der Militärmission der Entente. Der Stab erschrak; von den „verbündeten“ Offizieren aufgestachelt, schlug er den Weg des Widerstandes ein. Das führte zum bewaffneten Konflikt und zur Ermordung des Feldstabschefs, General Duchonin, durch eine Gruppe revolutionärer Matrosen.

In Petrograd organisierten die offiziellen Agenten der Entente, besonders die französische Militärmission, Hand in Hand mit den Sozialrevolutionären und den Menschewiki den offenen Widerstand, indem sie vom Tage nach dem Sowjetumsturz an die Junker und überhaupt die bürgerliche Jugend mobilisierten, bewaffneten und auf uns hetzten. Der Aufstand der Junker am 10. November forderte hundertmal mehr Opfer als der Umsturz vom 7. November. Der damals von der Entente angestiftete abenteuerliche Vormarsch Kerenskis und Kraßnows gegen Petrograd brachte die ersten Elemente der Erbitterung in den Kampf hinein. Dessenungeachtet wurde General Kraßnow auf sein Ehrenwort hin in Freiheit gesetzt. Der Aufstand in Jaroslaw (im Sommer 1918), der so viel Opfer kostete, wurde von Sawinkow auf Bestellung der französischen Botschaft und mit ihren Mitteln organisiert. Archangelsk wurde nach dem Plan der englischen Marineagenten mit Hilfe der englischen Kriegsschiffe und Flieger besetzt. Der Grund zur Herrschaft Koltschaks, des Schützlings der amerikanischen Börse, wurde durch das fremdländische tschechoslowakische Korps gelegt, das von der französischen Regierung unterhalten wurde. Kaledin und der von uns in Freiheit gesetzte Kraßnow, die ersten Führer der Gegenrevolution am Don, konnten nur dank der offenen militärischen und finanziellen Unterstützung von Seiten Deutschlands teilweise Erfolge erzielen. In der Ukraine wurde die Sowjetmacht zu Beginn des Jahres 1918 durch den deutschen Militarismus gestürzt. Die freiwillige Armee Denikins wurde mit Hilfe der finanziellen und technischen Mittel Großbritanniens und Frankreichs geschaffen. Nur in der Hoffnung auf die Einmischung Englands und mit seinei’ materiellen Unterstützung wurde die Armee von Judenitsch geschaffen. Die Politiker, Diplomaten und Journalisten der Ententestaaten erörterten mit voller Offenheit zwei Jahre lang die Frage, ob die Finanzierung des Bürgerkrieges in Rußland ein hinreichend vorteilhaftes Unternehmen sei. Unter diesen Bedingungen muß man wahrlich eine eherne Stirn haben, um die Ursachen des blutigen Charakters des Bürgerkrieges in Rußland im bösen Willen der Bolschewiki und nicht in den internationalen Verhältnissen zu suchen.

Das russische Proletariat hatte als erstes den Weg der sozialen Revolution betreten, und die russische Bourgeoisie, die politisch kraftlos war, wagte es nur deshalb, sich mit ihrer politischen und ökonomischen Enteignung nicht zufriedenzugeben, weil sie in allen Ländern ihre ältere Schwester, die noch über ökonomische, politische, zum Teil auch über die militärische Gewalt verfügte, an der Macht sah.

Hätte sich unser Novemberumsturz einige Monate oder auch nur einige Wochen nach der Errichtung der Herrschaft des Proletariats in Deutschland, Frankreich und England ereignet, so wäre – darüber besteht kein Zweifel – unsere Revolution die „friedlichste“, die „unblutigste“ aller auf der sündhaften Erde überhaupt möglichen Revolutionen gewesen. Diese historische Reihenfolge aber, die auf den ersten Blick die „natürlichste“ und auf jeden Fall die vorteilhafteste für die russische Arbeiterklasse ist, wurde – nicht durch unsere Schuld, sondern durch den Willen der Ereignisse – gestört: anstatt das letzte zu sein, war das russische Proletariat das erste. Gerade dieser Umstand verlieh dem Widerstand der Klassen, die vorher in Rußland geherrscht hatten – nach der ersten Periode der Verwirrung –, einen verzweifelten Charakter und zwang das russische Proletariat, in Augenblicken der größten Gefahr, der äußeren Angriffe, der inneren Verschwörungen und Aufstände zu den harten Maßnahmen des staatlichen Terrors zu greifen. Daß diese Maßnahmen nicht wirksam waren, das wird jetzt niemand sagen. Vielleicht aber muß man sie für ... „unzulässig“ halten? ...

Die Arbeiterklasse, die die Macht im Kampfe errungen hatte, hatte die Aufgabe, die Pflicht, diese Macht unerschütterlich zu befestigen, ihre Herrschaft unbestreitbar sicherzustellen, ihren Feinden die Lust zu Staatsumwälzungen zu nehmen und sich dadurch die Möglichkeit sozialistischer Reformen zu sichern. Sonst hätte sie die Macht nicht zu erobern brauchen.

Die Revolution fordert „logisch“ keinen Terrorismus, wie sie „logisch“ auch keinen bewaffneten Aufstand fordert. Was für eine vielversprechende Banalität! Dafür verlangt aber die Revolution von der revolutionären Klasse, daß sie ihr Ziel mit allen Mitteln erreiche, die ihr zur Verfügung stehen: wenn nötig – durch bewaffneten Aufstand, wenn nötig – durch Terrorismus. Die revolutionäre Klasse, die mit der Waffe in der Hand die Macht erobert hat, ist verpflichtet, alle Versuche, ihr die Macht zu entreißen, ebenfalls mit der Waffe in der Hand zu unterdrücken. Dort, wo sie die feindliche Armee gegen sich haben wird, wird sie ihr die eigene Armee entgegenstellen. Dort, wo sie es mit einem bewaffneten Aufstand, einem Attentat, einem Aufruhr zu tun haben wird, wird strenge Justiz die Häupter der Feinde treffen. Vielleicht hat Kautsky andere Mittel erfunden? Vielleicht kommt bei ihm alles auf die Abstufung der Repressalien an und er schlägt vor, in allen Fällen die Gefängnisstrafe an Stelle des Todes durch Erschießen anzuwenden?

Die Frage der Form oder Abstufung der Repressalien ist natürlich keine „prinzipielle“ Frage. Das ist eine Frage der Zweckmäßigkeit. In der Epoche der Revolution kann die der Macht beraubte Partei, die sich mit der Stabilität der herrschenden Partei nicht aussöhnt und dies durch rasenden Kampf gegen sie beweist, nicht durch die Drohung mit Gefängnisstrafen abgeschreckt werden, da sie nicht an deren Dauer glaubt. Aus dieser einfachen, aber entscheidenden Tatsache ist die häufige Anwendung des Erschießens während des Bürgerkrieges zu erklären.

Oder will Kautsky sagen, daß das Erschießen überhaupt nicht zweckentsprechend sei, daß man „Klassen nicht abschrecken könne“? Das ist unrichtig. Der Terror ist machtlos – und auch nur „im Endresultat“, – wenn er von der Reaktion gegen eine historisch aufsteigende Klasse angewandt wird. Aber gegen eine reaktionäre Klasse in Anwendung gebracht, die nicht den Schauplatz verlassen will, kann der Terror sehr wirksam sein. Die Abschreckung ist ein machtvolles Mittel der Politik, der internationalen wie der inneren. Der Krieg ist ebenso wie auch die Revolution auf Abschreckung begründet. Der allgemeinen Regel nach vernichtet der siegreiche Krieg nur einen unbedeutenden Teil der besiegten Armee, die übrigen schreckt er ab und bricht so ihren Willen. Ebenso wirkt die Revolution: sie tötet einzelne und schreckt Tausende ab. In diesem Sinne unterscheidet sich der rote Terror prinzipiell nicht vom bewaffneten Aufstand, dessen direkte Fortsetzung er ist. Den staatlichen Terror der revolutionären Klasse kann nur der „moralisch“ verurteilen, der überhaupt jede Gewalttätigkeit – folglich auch jeden Krieg und jeden Aufstand – prinzipiell (in Worten!) ablehnt. Dazu muß man einfach ein heuchlerischer Quäker sein.

„Aber wodurch unterscheidet sich in diesem Falle eure Taktik von der Taktik des Zarismus?“ fragen uns die Pfaffen des Liberalismus und des Kautskyanertums.

Das versteht ihr nicht, Frömmler? Wir wollen euch das erklären. Der Terror des Zarismus war gegen das Proletariat gerichtet. Die zaristische Gendarmerie würgte die Arbeiter, die für die sozialistische Ordnung kämpften. Unsere Außerordentlichen Kommissionen erschießen die Gutsherren, Kapitalisten, Generale, die die kapitalistische Ordnung wiederherzustellen bestrebt sind. Erfaßt ihr diese ... Nuance? Ja? Für uns Kommunisten genügt sie vollkommen!
 

Die Preßfreiheit

Ein Punkt beunruhigt Kautsky, den Verfasser einer übergroßen Anzahl von Büchern und Artikeln: das ist die Preßfreiheit. Ist es zulässig, Zeitungen zu verbieten?

Während des Krieges werden alle Institutionen und Organe der Staatsgewalt zu Organen der Kriegführung. In erster Linie bezieht sich das auf die Presse. Keine Regierung, die einen ernsten Krieg führt, kann erlauben, daß auf ihrem Territorium Schriften herausgegeben werden, die offen oder verhüllt den Feind unterstützen. Noch mehr trifft dies im Bürgerkriege zu. Es liegt in der Natur des Bürgerkrieges, daß jedes der kämpfenden Lager im Bücken der Armeen bedeutende Bevölkerungskreise hat, die auf Seiten des Feindes stehen. Im Kriege, wo von Erfolg oder Mißerfolg Tod und Leben abhängen, werden die in den Bücken der Armee eingedrungenen feindlichen Agenten erschossen. Das ist nicht human, niemand aber hat bis jetzt den Krieg als eine Schule der Humanität angesehen, – um wieviel weniger den Bürgerkrieg. Kann man ernsthaft verlangen, daß während des Krieges gegen die weißgardistischen Banden Denikins, in Moskau oder Petrograd ungehindert Schriften der Parteien herausgegeben werden, die Denikin unterstützen? Dies im Namen der „Preßfreiheit“ vorschlagen, ist dasselbe, wie im Namen der Oeffentlichkeit die Veröffentlichung von militärischen Geheimnissen verlangen.

„Eine belagerte Stadt“, schreibt der Kommunard Arthur Arnould, „kann nicht zulassen, daß in ihrer Mitte offen ihr Fall gewünscht werde, daß die Kämpfer, die sie verteidigen, zum Verrat aufgerufen werden, daß dem Feinde die Bewegung ihrer Truppen mitgeteilt werde. Dies war die Lage von Paris unter der Kommune.“

Dies ist die Lage der Sowjetrepublik seit den zwei Jahren ihrer Existenz. Hören wir jedoch, was Kautsky darüber sagt:

„Die Rechtfertigung dieses Systems (d. h. der Repressalien in bezug auf die Presse) läuft einfach auf die naive Auffassung hinaus, es gäbe eine absolute Wahrheit (!) und nur die Kommunisten seien in deren Besitz (!). Nicht minder – fährt Kautsky fort – läuft sie auf die andere Auffassung hinaus, alle Schriftsteller seien von Haus aus Lügner (!), nur die Kommunisten Fanatiker der Wahrheit (!). In Wahrheit sind natürlich Lügner und Fanatiker dessen, was sie als wahr ansehen, in allen Lagern zu finden“, usw. usw. (S. 119)

Auf diese Weise bleibt für Kautsky die Revolution in ihrer erbittertsten Phase, wo es sich für die Klassen um Tod und Leben handelt, nach wie vor eine literarische Diskussion zum Zwecke der Feststellung ... der Wahrheit. Welche Tiefe! ... Unsere „Wahrheit“ ist natürlich nicht absolut. Da wir aber gegenwärtig in ihrem Namen Blut vergießen, so haben wir weder Veranlassung noch die Möglichkeit, mit denen, die uns mit Hilfe von Waffen jeder Art „kritisieren“, eine literarische Diskussion über die Relativität der Wahrheit zu führen. Desgleichen besteht unsere Aufgabe nicht darin, die Lügner zu bestrafen und die Gerechten der Presse aller Richtungen anzuspornen, sondern darin, die Klassenlüge der Bourgeoisie zu ersticken und den Triumph der Klassenwahrheit des Proletariats sicherzustellen, – unabhängig davon, daß es in beiden Lagern Fanatiker und Lügner gibt.

„Die Sowjetmacht – klagt Kautsky weiter – hat das einzige Mittel zerstört, das gegen die Korruption helfen könnte: die Preßfreiheit allein vermag jene Abenteurer und Banditen im Zaume zu halten, die sich unvermeidlich an jede unbeschränkte, unkontrollierte Regierungsmacht herandrängen ...“ (S. 140)

Und so geht es in demselben Tone weiter.

Die Presse als sicheres Kampfmittel gegen die Korruption! Dieses liberale Rezept klingt besonders kläglich bei dem Gedanken an die beiden Länder mit der größten Preß-„Freiheit“, Nordamerika und Frankreich, die zugleich die Länder der höchsten Entfaltung der kapitalistischen Korruption sind.

Da er sich von dem veralteten Klatsch der politischen Hinterhöfe der russischen Revolution nährt, nimmt Kautsky an, daß der Sowjetapparat ohne die kadettisch-menschewistische Oeffentlichkeit von „Banditen und Abenteurern“ zerfressen werde. Dies war die Stimme der Menschewiki vor ein bis anderthalb Jahren. Jetzt wagen auch sie nicht, dies zu wiederholen. Mit Hilfe der Sowjetkontrolle und der Parteiwahl ist die Sowjetmacht in der Atmosphäre des angestrengten Kampfes mit den Banditen und Abenteurern, die im Augenblick der Umwälzung an die Oberfläche kamen, ungleich besser fertig geworden, als irgend eine Macht jemals mit ihnen fertig geworden ist.

Wir kämpfen. Wir ringen auf Tod und Leben. Die Presse ist nicht das Werkzeug einer abstrakten Gesellschaft, sondern zweier unversöhnlicher, bewaffneter und kämpfender Lager. Wir zerstören die Presse der Gegenrevolution ebenso, wie wir ihre befestigten Positionen, ihre Depots, ihre Verbindungen, ihre Rekognoszierung zerstören. Wir berauben uns der kadettisch-menschewistischen Enthüllungen der Korruption der Arbeiterklasse? Dafür zerstören wir siegreich die Grundlagen der kapitalistischen Korruption.

Aber Kautsky geht in der Entwicklung seines Themas weiter: er beklagt sich darüber, daß wir die Zeitungen der Sozialrevolutionäre und der Menschewisten verbieten und sogar – auch das kommt vor – ihre Führer verhaften. Handelt es sich hier etwa nicht um die „Schattierungen“ im Proletariat oder in der sozialistischen Bewegung? Der Schulpedant sieht hinter den gewohnten Worten die Tatsachen nicht. Die Menschewisten und Sozialrevolutionäre sind für ihn einfach Strömungen im Sozialismus, während sie sich im Laufe der Revolution in eine Organisation verwandelt haben, die sich in wirksamem Bunde mit der Gegenrevolution befindet und offen Krieg führt. Die Armee Koltschaks ist von den Sozialrevolutionären (wieviel Scharlatanerie klingt jetzt aus diesem Namen!) geschaffen und von den Menschewisten unterstützt worden. Diese wie jene haben im Laufe von anderthalb Jahren an der Nordfront Krieg gegen uns geführt und führen ihn noch. Die in Kaukasien regierenden Menschewisten, früher die Verbündeten der Hohenzollern, jetzt die Verbündeten Lloyd Georges, haben im Bunde mit den deutschen und englischen Offizieren die Bolschewiki verhaftet und erschossen. Die Menschewisten und Sozialrevolutionäre der Kuban’schen Rada haben die Armee Denikins geschaffen. Die zum Bestände der Regierung gehörenden estnischen Menschewiki waren am letzten Vormarsch Judenitschs auf Petrograd direkt beteiligt. So sehen diese „Strömungen“ im Sozialismus aus. Kautsky ist der Meinung, daß man sich während eines offenen Bürgerkrieges mit den Menschewisten und Sozialrevolutionären, die mit Hilfe der dank ihnen geschaffenen Heere Judenitschs, Koltschaks und Denikins um ihre „Schattierung“ des Sozialismus kämpfen, im Frieden befinden und diesen unschuldigen „Schattierungen“ im Rücken der Armee Preßfreiheit gewähren könne. Könnte der Streit mit den Sozialrevolutionären und Menschewiki durch Ueberredung und Abstimmung beigelegt werden – d. h. ständen hinter ihrem Rücken nicht die russischen und ausländischen Imperialisten –, so gäbe es keinen Bürgerkrieg.

Kautsky ist natürlich bereit, wie die Blockade, so auch die Unterstützung Denikins durch die Entente und den weißen Terror zu verurteilen (ein überflüssiger Tropfen Tinte!). Aber in seiner erhabenen Unparteilichkeit kann er letzterem mildernde Umstände nicht verweigern. Der weiße Terror nämlich verletzt seine Grundsätze nicht, während die Bolschewiki durch Anwendung des roten Terrors „den Grundsätzen der Heiligkeit des Menschenlebens untreu werden, die sie selbst verkündigt haben“. (S. 139)

Was das Prinzip der Heiligkeit des Menschenlebens in der Praxis bedeutet und wodurch es sich von dem Gebot „Du sollst nicht töten“ unterscheidet, erklärt Kautsky nicht. Wenn der Räuber das Messer gegen ein Kind zückt, darf man da den Räuber töten, um das Kind zu retten? Wird dadurch nicht das Prinzip der „Heiligkeit des Menschenlebens“ verletzt? Darf man den Räuber töten, um sich selbst zu retten? Ist ein Aufstand der unterjochten Sklaven gegen ihre Herren zulässig? Ist es zulässig, seine Freiheit mit dem Tode der Kerkermeister zu erkaufen? Wenn das Menschenleben überhaupt heilig und unantastbar ist, so muß man nicht nur die Anwendung des Terrors, nicht nur den Krieg, sondern auch die Revolution ablehnen. Kautsky legt sich einfach keine Rechenschaft über die gegenrevolutionäre Bedeutung des „Prinzips“ ab, das er uns aufzudrängen versucht. An einer anderen Stelle werden wir sehen, daß Kautsky uns den Abschluß des Brest-Litowsker Friedens vorwirft. Seiner Meinung nach hätten wir den Krieg fortsetzen müssen. Wie ist es aber hier um die Heiligkeit des Menschenlebens bestellt? Vielleicht hört das Leben auf heilig zu sein, wenn es sich um Menschen handelt, die eine andere Sprache sprechen? Oder nimmt Kautsky an, daß Massenmorde, die nach den Regeln der Strategie und der Taktik organisiert sind, keine Morde seien? Wahrlich, es ist schwer, in unserer Epoche ein „Prinzip“ aufzustellen, das gleichzeitig heuchlerischer und dümmer wäre. So lange die menschliche Arbeitskraft, folglich aber auch das Leben, ein Gegenstand des Schachers, der Ausbeutung und Ausplünderung ist, ist das Prinzip der Heiligkeit des Menschenlebens die schändlichste Lüge, die den Zweck hat, die unterjochten Sklaven im Zaum zu halten.

Wir haben gegen die von Kerenski eingeführte Todesstrafe gekämpft, weil diese Strafe von den Feldgerichten der alten Armee gegen Soldaten angewendet wurde, die sich weigerten, den imperialistischen Krieg fortzusetzen. Wir haben diese Waffe den Händen der alten Kriegsgerichte entrissen, wir haben diese Gerichte selbst vernichtet und die alte Armee, die sie geschaffen, aufgelöst. Durch Vernichtung der gegenrevolutionären Verschwörer in der Roten Armee und im Lande überhaupt, die bestrebt sind, durch Aufstände, Morde und Desorganisation das alte Regime wiederherzustellen, handeln wir gemäß den eisernen Gesetzen des Krieges, in dem wir uns den Sieg sichern wollen.

Will man schon formale Widersprüche suchen, so selbstverständlich auf Seiten des weißen Terrors, der das Werkzeug der Klassen ist, die sich christliche nennen, die idealistische Philosophie propagieren und fest überzeugt sind, daß die Persönlichkeit (ihre eigene) Selbstzweck ist. Was uns betrifft, so haben wir uns nie mit kantischem Pfaffengerede und vegetarischem Quäkergeschwätz über die „Heiligkeit des Menschenlebens“ beschäftigt. Wir waren Revolutionäre, als wir in der Opposition waren, und wir sind es auch jetzt, wo wir an der Macht sind. Um das Individuum heilig zu machen, muß das gesellschaftliche Regime abgeschafft werden, das dieses Individuum ans Kreuz schlägt. Diese Aufgabe aber kann nur durch Eisen und Blut erfüllt werden.

Zwischen dem weißen und dem roten Terror gibt es noch einen Unterschied, den der jetzige Kautsky außer acht läßt, der aber für den Marxisten von entscheidender Bedeutung ist. Der weiße Terror ist das Werkzeug einer historisch-reaktionären Klasse. Als wir die Machtlosigkeit der Repressalien des bürgerlichen Staates gegen das Proletariat entlarvten, haben wir niemals in Abrede gestellt, daß die herrschenden Klassen durch Verhaftungen und Hinrichtungen unter gewissen Bedingungen zeitweilig die Entwicklung der sozialen Revolution aufhalten können. Wir waren aber überzeugt, daß es ihnen nicht gelingen wird, sie zum Stillstand zu bringen. Wir stützten uns darauf, daß das Proletariat eine historisch aufsteigende Klasse ist und daß die bürgerliche Gesellschaft sich nicht entwickeln kann, ohne die Kräfte des Proletariats zu vergrößern. Die Bourgeoisie der gegenwärtigen Epoche ist eine untergehende Klasse! Nicht nur, daß sie in der Produktion keine notwendige Rolle mehr spielt; durch ihre imperialistischen Aneignungsmethoden zerstört sie die Weltwirtschaft und die menschliche Kultur. Die historische Zähigkeit der Bourgeoisie jedoch ist kolossal. Sie hält sich und will den Platz nicht räumen. Dadurch droht sie, die ganze Gesellschaft mit sich in den Abgrund zu ziehen. Sie muß zerrissen, zerhackt werden. Der rote Terror ist ein Werkzeug, das gegen eine dem Untergänge geweihte Klasse angewendet wird, die nicht untergehen will. Kann der weiße Terror nur den historischen Aufstieg des Proletariats verzögern, so kann der rote Terror den Untergang der Bourgeoisie beschleunigen. Die Beschleunigung – der Vorteil des Tempos – hat in gewissen Epochen eine entscheidende Bedeutung. Ohne den roten Terror hätte die russische Bourgeoisie im Verein mit der Weltbourgeoisie uns lange vor dem Eintritt der Revolution in Europa erwürgt. Man muß blind sein, um dies nicht zu sehen, man muß ein Heuchler sein, um dies zu bestreiten.

Wer der Tatsache der Existenz des Sowjetsystems revolutionäre Bedeutung beilegt, der muß auch den roten Terror anerkennen. Und Kautsky, der in den beiden letzten Jahren Berge von Papier gegen den Kommunismus und den Terrorismus beschrieben hat, muß am Schlüsse seiner Broschüre sich mit der Tatsache abfinden und unerwartet anerkennen, daß die russische Sowjetmacht jetzt den wichtigsten Faktor der Weltrevolution darstellt.

„Wie immer man sich zu den bolschewistischen Methoden stellen mag – schreibt er –, die Tatsache, daß eine proletarische Regierung in einem Großstaat nicht nur ans Ruder kommen, sondern auch sich durch bisher fast zwei Jahre unter den schwierigsten Bedingungen behaupten konnte, hebt das Kraftgefühl der Proletarier aller Länder ungemein. Für die wirkliche Weltrevolution haben die Bolschewiki dadurch Großes geleistet ...“ (S. 153)

Diese Erklärung ist erstaunlich als größte Ueberraschung, als Anerkennung der historischen Wahrheit von einer Seite, von der man das am wenigsten erwartete. Dadurch, daß sie sich zwei Jahre gegen die vereinte kapitalistische Welt gehalten haben, haben die Bolschewiki eine große historische Tat vollbracht. Die Bolschewiki haben sich aber nicht nur durch die Idee, sondern auch durch das Schwert gehalten. Die Anerkennung Kautskys ist eine unwillkürliche Anerkennung der Methoden des roten Terrors und zugleich die böseste Verurteilung seines eigenen kritischen Geschreibsels.
 

Der Einfluß des Krieges

Eine der Ursachen des äußerst blutigen Charakters des revolutionären Kampfes sieht Kautsky im Kriege, in seinem verwildernden Einfluß auf die Sitten. Ganz unbestreitbar. Diesen Einfluß mit allen hieraus entspringenden Folgen konnte man schon früher voraussehen, ungefähr zu der Zeit, als Kautsky nicht wußte, ob man für die Kriegskredite oder gegen sie stimmen müsse.

„Der Imperialismus riß die Gesellschaft gewaltsam aus dem Zustande labilen Gleichgewichts“, – schrieben wir vor fünf Jahren in der deutschen Broschüre Der Krieg und die Internationale. – „Er zerstörte die Schleusen, in die die Sozialdemokratie den Strom revolutionärer Energie des Proletariats eingezwängt hatte, und leitete diesen Strom in sein Bett. Dieses ungeheure geschichtliche Experiment, das mit einem Schlage der sozialistischen Internationale das Rückgrat gebrochen hat, birgt jedoch eine tödliche Gefahr für die bürgerliche Gesellschaft selbst in sich. Der Hammer wird den Händen der Arbeiter entrissen, gegen die Waffe umgetauscht. Der Arbeiter, der durch die Maschinerie der kapitalistischen Wirtschaft gebunden war, wird plötzlich aus seinem Rahmen herausgerissen und ihm wird gelehrt, höher als häusliches Glück und als das Leben selbst die Ziele der Gesamtheit zu stellen.

„Mit der Waffe, die er selbst verfertigt hat, in Händen, wird der Arbeiter in eine Lage gestellt, in der das politische Schicksal des Staates unmittelbar von ihm abhängt. Diejenigen, die ihn in normalen Zeiten bedrückten und verachteten, umschmeicheln ihn und kriechen vor ihm. Gleichzeitig kommt er in intimste Nähe derselben Kanonen, die nach Lassalle einen der wichtigsten Bestandteile der Konstitutionen ausmachen. Er überschreitet die Grenzen, beteiligt sich an gewaltsamen Requisitionen, unter seiner Mitwirkung gehen Städte aus einer Hand in die andere. Es geschehen Aenderungen, wie sie das lebende Geschlecht nicht gesehen hat.

„Wenn auch der Vorhut der Arbeiterschaft theoretisch bekannt war, daß die Macht die Mutter des Rechtes ist, so blieb doch ihr politisches Denken ganz vom Geiste der Possibilität, der Anpassung an die bürgerliche Gesetzlichkeit, durchdrungen. Jetzt lernt sie in der Tat diese Gesetzlichkeit verachten und gewaltsam stören. Jetzt treten in ihrer Psyche die statischen Momente den dynamischen den Platz ab. Die Mörser hämmern ihr den Gedanken in den Kopf, daß, wenn es unmöglich ist, ein Hindernis zu umgehen, die Möglichkeit bleibt, es zu vernichten. Beinahe die gesamte erwachsene männliche Bevölkerung wird durch diese in ihrem Realismus fürchterliche Schule des Krieges geführt, die einen neuen Menschentypus ausbildet.

„Ueber alle Normen der bürgerlichen Gesellschaft – mit ihrem Recht, ihrer Moral und Religion – erhebt sich jetzt die Faust der eisernen Notwendigkeit. „Not kennt kein Gebot!“ – sagte der deutsche Kanzler am 4. August 1914. Die Monarchen gehen auf die öffentlichen Plätze, um im Dialekt der Marktweiber einander der Lügenhaftigkeit zu beschuldigen; die Regierungen stoßen von ihnen feierlich anerkannte Verpflichtungen um, und die nationale Kirche schmiedet ihren Gott wie einen Katorgasträfling an die nationale Kanone. Ist es nicht klar, daß diese Umstände eine tiefe Veränderung in der Psyche der Arbeiterschaft hervorrufen müssen, sie radikal von der Hypnose der Legalität heilend, in der sich eine Epoche politischer Stagnation äußerte?

„Die besitzenden Klassen werden sich zu ihrem Schrecken bald hiervon überzeugen müssen. Das Proletariat, das durch die Schule des Krieges gegangen ist, wird beim ersten Hindernis innerhalb des eigenen Landes das Bedürfnis empfinden, die Sprache der Gewalt zu brauchen. „Not kennt kein Gebot“, so wird es demjenigen zurufen, der versuchen wird, es durch die Gebote bürgerlicher Gesetzlichkeit zurückzuhalten. Und die Not, jene furchtbare wirtschaftliche Not, die im Laufe dieses Krieges und nach seiner Einstellung herrschen wird, wird geeignet sein, die Massen zur Verletzung so mancher Gebote zu drängen.“ (S. 56–57)

Alles dies ist unbestreitbar. Dem Gesagten aber muß hinzugefügt werden, daß der Krieg auf die Bourgeoisie der herrschenden Klassen keinen geringeren Einfluß ausgeübt hat: in demselben Grade, wie die Massen anspruchsvoller geworden sind, ist die Bourgeoisie unnachgiebiger geworden.

In der Friedenszeit sicherten die Kapitalisten ihre Interessen mit Hilfe des „friedlichen“ Raubes der Lohnarbeit. Während des Krieges dienten sie denselben Interessen durch Vernichtung unzähliger Menschenleben. Das gab ihrem Herrenbewußtsein einen neuen, „napoleonischen“ Zug. Die Kapitalisten haben sich während des Krieges daran gewöhnt, Millionen Sklaven, stammverwandte und koloniale, wegen Kohlen-, Eisenbahn- und anderer Profite in den Tod zu schicken.

Im Laufe des Krieges sind aus der Mitte der Bourgeoisie, der großen, mittleren und kleinen, Hunderttausende von Offizieren, professionellen Kämpfern hervorgegangen – Leute, deren Charakter sich im Kampfe gestählt hat, die sich von jeglichen äußerlichen Hemmungen befreit haben –, qualifizierte Haudegen, die bereit und fähig sind, die privilegierte Stellung der Bourgeoisie, die sie dressiert hat, mit einer Erbitterung zu verteidigen, die in ihrer Art an Heldentum grenzt.

Die Revolution wäre vielleicht humaner, wenn das Proletariat die Möglichkeit hätte, „sich von dieser ganzen Bande loszukaufen“, wie sich einst Marx ausgedrückt hat.

Der Kapitalismus hat aber den Werktätigen während des Krieges eine zu große Schuldenlast aufgebürdet und den Boden der Produktion zu tief untergraben, als daß man ernsthaft von einem solchen Loskauf sprechen könnte, bei dem sich die Bourgeoisie schweigend mit dem Umsturz abfinden würde. Die Massen haben zuviel Blut verloren, haben zuviel gelitten, sind zu erbittert, um eine solche Entscheidung zu treffen, die ökonomisch über ihre Kraft gehen würde.

Es kommen noch andere Umstände hinzu, die in derselben Richtung wirken. Die Bourgeoisie der besiegten Länder ist durch die Niederlage erbittert, für die sie die Unterschichten, die Arbeiter und Bauern, verantwortlich machen will, die sich als unfähig erwiesen haben, den „großen nationalen Krieg“ zum siegreichen Ende zu führen. Von diesem Standpunkt aus sind die in ihrer Frechheit beispiellosen Erklärungen sehr lehrreich, die Ludendorff vor der Kommission der Nationalversammlung abgegeben hat. Die Ludendorffschen Banden brennen vor Begierde, für die äußeren Demütigungen am Blute des eigenen Proletariats Revanche zu nehmen. Was die Bourgeoisie der siegreichen Länder anbelangt, so ist sie von Hochmut erfüllt und mehr denn je geneigt, ihre soziale Stellung mit Hilfe der grausamen Maßnahmen, die ihr den Sieg gesichert haben, zu verteidigen. Wir haben gesehen, daß die internationale Bourgeoisie unfähig war, die Teilung der Beute ohne Krieg und Ruin zu organisieren. Kann sie ohne Kampf auf den Verzicht der Beute überhaupt eingehen? Die Erfahrung der letzten fünf Jahre läßt in dieser Beziehung gar keinen Zweifel aufkommen: war es schon früher die reinste Utopie, zu erwarten, daß die Expropriation der besitzenden Klassen sich dank der „Demokratie“ unbemerkt und schmerzlos vollziehen werde, ohne Aufstände, ohne bewaffnete Zusammenstöße, ohne Versuche der Gegenrevolution und ohne strenge Unterdrückung, so macht die vom imperialistischen Kriege hinterlassene Situation einen doppelt und dreifach intensiven Charakter des Bürgerkrieges und der Diktatur des Proletariats zur Bedingung.


Zuletzt aktualisiert am 8. Februar 2020