Leo Trotzki

Terrorismus und Kommunismus

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Die Arbeiterklasse und ihre Sowjetpolitik

Das russische Proletariat

Die Initiative zur sozialistischen Revolution wurde durch die Macht der Dinge nicht dem alten Proletariat Westeuropas mit seinen mächtigen politischen und gewerkschaftlichen Organisationen, seinen schwerfälligen Traditionen des Parlamentarismus und Trade-Unionismus zugewiesen, sondern der jungen Arbeiterklasse eines rückständigen Landes. Die Geschichte ging, wie immer, in der Richtung des geringsten Widerstandes. Die revolutionäre Epoche stürmte durch die am wenigsten verrammelte Tür herein. Die außerordentlichen, wahrhaft übermenschlichen Schwierigkeiten, die sich hierbei vor dem russischen Proletariat anhäuften, haben die revolutionäre Arbeit des westeuropäischen Proletariats, die noch in der Zukunft liegt, vorbereitet, beschleunigt und wesentlich erleichtert.

Statt die russische Revolution vom Standpunkte der Aussichten der in der ganzen Welt angebrochenen revolutionären Epoche zu beurteilen, verbreitet sich Kautsky darüber, ob das russische Proletariat die Macht nicht zu früh in seine Hände genommen habe.

„Eine hohe Moral der Massen“, erläutert er, „ist die Vorbedingung des Sozialismus, eine Moral, die sich äußert nicht nur in starken sozialen Instinkten, Gefühlen der Solidarität usw. Eine solche Moral“, so belehrt uns Kautsky, „haben wir bei den Proletariern der Pariser Kommune bereits stark entwickelt gefunden. Sie fehlt der Masse, die heute im bolschewistischen Proletariat den Ton angibt.“ (S. 120)

Für die Zwecke Kautskys genügt es nicht, in den Augen seiner Leser die Bolschewiki als politische Partei in Verruf zu bringen. Da er weiß, daß der Bolschewismus sich mit dem russischen Proletariat verschmolzen hat, macht Kautsky den Versuch, das russische Proletariat als ganzes in Verruf zu bringen, es als eine unaufgeklärte, ideenlose, habgierige Masse hinzustellen, die sich von den Instinkten und Eingebungen des Augenblicks leiten läßt. Kautsky kommt in seiner Broschüre oftmals auf die Frage des geistigen und sittlichen Niveaus der russischen Arbeiter zurück, und jedesmal nur, um die Farbe bei der Kennzeichnung ihrer Unwissenheit, Stumpfheit und Barbarei möglichst dick aufzutragen. Um einen möglichst starken Kontrast zu erzielen, führt Kautsky das Beispiel an, wie die Vertreter eines einzigen Unternehmens der Kriegsindustrie zur Zeit der Kommune die obligatorische Nachtwache eines Arbeiters im Unternehmen einführten, damit die ausgebesserten Waffen auch des Nachts ausgeliefert werden konnten.

„Da es unter den gegebenen Umständen dringend notwendig ist, mit den Pfennigen der Kommune sparsam umzugehen“, hieß es im Reglement, „werden diese Nachtwachen nicht vergütet“ ...

„Wahrhaftig“, folgert Kautsky, „diese Arbeiter betrachteten die Zeit ihrer Diktatur nicht als eine günstige Konjunktur für eine Lohnbewegung. Die große allgemeine Sache stand ihnen höher als ihr persönliches Interesse.“ (S 65)

Ganz anders die russische Arbeiterklasse. Es fehlen ihr „Bewußtsein, Ideenstärke, Selbstaufopferung, Beharrlichkeit“ usw. Sie ist ebenso wenig imstande, sich selbst bevollmächtigte Führer zu erwählen, – höhnt Kautsky – wie Münchhausen imstande war, sich an seinem eigenen Zopfe aus dem Sumpf zu ziehen. Dieser Vergleich des russischen Proletariats mit dem Aufschneider Münchhausen, der sich aus dem Sumpf herauszieht, ist ein deutliches Beispiel für den unverschämten Ton, in dem Kautsky von der russischen Arbeiterklasse spricht.

Er führt Zitate aus einzelnen unserer Reden und Artikel an, wo die negativen Erscheinungen unter den Arbeitern festgenagelt werden, und sucht die Sache so darzustellen, als ob Passivität, Finsternis und Egoismus das Leben des russischen Proletariats in den Jahren 1917–20, d. h. in der größten aller Revolutionsepochen, völlig ausfüllten.

Kautsky weiß quasi nicht, er hat es nicht gehört, er ahnt es nicht, er vermutet es nicht, daß das russische Proletariat während des Bürgerkrieges mehr als einmal Gelegenheit hatte, seine Arbeit uneigennützig herzugeben und sogar „unentgeltliche“ Wachen einzurichten, – und zwar nicht nur eines Arbeiters im Laufe einer langen Reihe von sorgenvollen Nächten. In den Tagen und Wochen des Vormarsches von Judenitsch auf Petersburg genügte ein Telephonogramm des Sowjets, um viele tausend Arbeiter in allen Betrieben und in allen Stadtvierteln auf ihren Posten wachzuhalten. Und dies nicht in den ersten Tagen der Petersburger Kommune, sondern nach zweijährigem Kampfe, in Kälte und Hunger.

Unsere Partei macht zwei- bis dreimal im Jahr einen hohen Prozentsatz ihrer Mitglieder für die Front mobil. Auf einer 8.000 km langen Linie sterben sie und lehren andere sterben. Und als im hungrigen und kalten Moskau, das die Blüte seiner Arbeiterschaft für die Front hergegeben hatte, eine Parteiwoche veranstaltet wurde, da strömten im Laufe von sieben Tagen aus der Proletariermasse 15.000 Mann in unsere Reihen. Und in welchem Augenblick? Als die Gefahr eines Unterganges der Sowjetmacht aufs höchste gestiegen war, in einem Augenblick, da Orel eingenommen war und Denikin sich Tula und Moskau näherte, Judenitsch Petersburg bedrohte, in diesem schwersten Moment gab das Moskauer Proletariat im Laufe einer Woche für unsere Partei 15.000 Mann her, die neue Mobilmachungen an die Front zu gewärtigen hatten. Und man kann mit voller Gewißheit sagen, daß das Moskauer Proletariat noch nie, ausgenommen vielleicht die Wochen des Novemberaufstandes von 1917, in seiner revolutionären Begeisterung und seiner Bereitschaft zu selbstaufopferndem Kampfe so einmütig war, wie in diesen schwersten Tagen voller Gefahren und Opfer.

Als unsere Partei die Parole der kommunistischen Samstage und Sonntage ausgab, fand der revolutionäre Idealismus des Proletariats beredten Ausdruck in der Form der Arbeitswilligkeit. Anfangs gaben Dutzende und Hunderte, dann Tausende, jetzt geben Zehntausende und Hunderttausende von Arbeitern allwöchentlich einige Stunden ihrer freien Zeit unentgeltlich für die wirtschaftliche Wiederaufrichtung des Landes her. Und das tun halbhungrige Leute, in zerrissenen Stiefeln, in schmutziger Wäsche, – da das Land weder Schuhwerk noch Seife hat. So sieht in Wahrheit das bolschewistische Proletariat aus, dem Kautsky eine Vorlesung über Selbstverleugnung zu halten für nötig findet. Die Tatsachen und ihr Verhältnis zueinander treten uns noch ausgeprägter entgegen, wenn wir hierbei gleich daran erinnern, daß alle egoistischen spießbürgerlichen, grob-eigennützigen Elemente des Proletariats, – alle diejenigen, die sich vor der Front, vor den kommunistischen Samstagen drücken, sich mit Schleichhandel beschäftigen und die Arbeiter in Hungerwochen zu Ausständen anregen, – daß sie alle bei den Sowjetwahlen für die Menschewiki stimmen, d. h. für die russischen Kautskyaner.

Kautsky führt unsere Worte darüber an, daß wir uns auch vor der Novemberrevolution volle Rechenschaft gaben über die Mängel der Erziehung des russischen Proletariats, daß wir aber angesichts der Unvermeidlichkeit des Uebergangs der Macht an die Arbeiterklasse uns für berechtigt hielten, darauf zu hoffen, daß wir durch den Kampf selbst, durch seine Erfahrungen und bei der ständig wachsenden Unterstützung durch das Proletariat der anderen Länder mit den Schwierigkeiten fertig werden und den Uebergang Rußlands zur sozialistischen Ordnung sicherstellen könnten. Aus diesem Anlaß fragt Kautsky:

„Würde wohl Trotzki es wagen, eine Lokomotive zu besteigen und sie in Gang zu setzen, in der Ueberzeugung, er werde schon während ihres Laufes alles erlernen und einrichten? ... Man muß die Qualitäten zur Lenkung einer Lokomotive vorher erlangt haben, ehe man es unternimmt, sie in Gang zu setzen. So muß das Proletariat vorher die Eigenschaften erworben haben, die es zur Leitung der Produktion befähigen, wenn es diese übernehmen soll.“ (S. 117)

Dieser lehrreiche Vergleich würde jedem Dompfarrer Ehre machen. Trotzdem ist er einfältig. Mit unvergleichlich größerem Recht könnte man fragen: würde Kautsky es wagen, sich rittlings auf ein Pferd zu setzen, bevor er nicht gelernt hat, fest im Sattel zu sitzen und den Vierfüßler bei jeder Gangart zu lenken? Wir haben Grund, anzunehmen, daß Kautsky sich zu einem so gefährlichen, rein bolschewistischen Experiment nicht entschließen würde. Anderseits fürchten wir aber auch, daß Kautsky, wenn er kein Pferd zu besteigen wagt, hinsichtlich der Erforschung der Geheimnisse des Reitens in eine schwierige Lage geraten würde. Denn das grundlegende bolschewistische Vorurteil besteht eben darin, daß man das Reiten nur erlernen kann, wenn man fest auf einem Pferde sitzt.

Hinsichtlich der Führung einer Lokomotive ist das auf den ersten Blick weniger klar, aber nicht weniger richtig. Niemand hat je die Führung einer Lokomotive erlernt, indem er in seinem Kabinett blieb. Man muß auf die Lokomotive steigen, das Führerhäuschen betreten, den Regulator ergreifen und ihn drehen. Allerdings, bei der Lokomotive sind Uebungsmanöver unter der Leitung eines alten Lokomotivführers möglich. Beim Pferde kann man Hebungen in der Reitbahn unter der Leitung erfahrener Reiter machen. Aber auf dem Gebiet der Staatsverwaltung können so künstliche Bedingungen nicht geschaffen werden. Die Bourgeoisie errichtet für das Proletariat keine Akademien für Staatsverwaltung und überläßt ihm den Staatshebel nicht zu zeitweiligen Versuchen. Und auch das Reiten lernen die Arbeiter und Bauern nicht auf der Reitbahn und mit Hilfe von Bereitern.

Hier muß noch eine weitere Erwägung hinzugefügt werden, die vielleicht die wichtigste ist: niemand läßt dem Proletariat die Wahl, ob es das Pferd besteigen will oder nicht, ob es die Macht gleich ergreifen oder dies aufschieben soll. Unter gewissen Umständen ist die Arbeiterklasse genötigt, die Macht zu ergreifen, wenn es sich nicht für einen ganzen Geschichtsabschnitt selbst ausschalten will. Hat man die Macht ergriffen, so kann man nicht willkürlich die einen Folgen annehmen und die anderen ablehnen. Wenn die Bourgeoisie die Desorganisierung der Produktion bewußt und mit böser Absicht in ein Mittel des politischen Kampfes verwandelt, um die Staatsgewalt zurückzugewinnen, so ist das Proletariat genötigt, zur Sozialisierung überzugehen, ganz abgesehen davon, ob das im betreffenden Augenblick von Vorteil oder von Nachteil ist. Hat aber das Proletariat die Produktion übernommen, so ist es unter dem Druck der eisernen Notwendigkeit gezwungen, durch die Erfahrung die schwierige Arbeit selber zu erlernen, – die sozialistische Wirtschaft zu organisieren. Hat sich der Reiter einmal in den Sattel gesetzt, so ist er gezwungen, das Pferd zu regieren – wenn er sich nicht den Schädel einrennen will.

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Um seinen frommen Anhängern und Anhängerinnen die richtige Vorstellung vom sittlichen Niveau des russischen Proletariats zu geben, führt Kautsky auf Seite 116 seines Büchleins folgendes Mandat an, das angeblich vom Arbeiterrat in Murzilowka ausgestellt worden sein soll:

„Der Sowjet gibt hiermit dem Genossen Gregor Sarejew die Vollmacht, nach seiner Auswahl und nach seinen Anordnungen für den Gebrauch der in Murzilowka, Distrikt von Brjansk, garnisonierenden Artilleriedivision 60 Frauen und Mädchen der Klasse der Bourgeois und Spekulanten zu requirieren und in die Kaserne zu überführen. 16. September 1918.“ (Veröffentlicht von Dr. Nath. Wintch-Malejeff, What are the Bolchevists doing, Lausanne 1919, S. 10)

Obgleich ich nicht im geringsten daran zweifelte, daß dieses Dokument gefälscht und die ganze Mitteilung überhaupt erlogen ist, veranlaßte ich doch eine allseitige Untersuchung, um zu ermitteln, welche Tatsachen oder Episoden dieser Erfindung zu Grunde liegen konnten. Die sorgfältig durchgeführte Untersuchung ergab folgendes:

  1. Im Kreise Brjansk gibt es überhaupt keine Ansiedlung namens Murzilowka. Auch in den benachbarten Kreisen gibt es keine solche Ansiedlung. Dem Namen nach am nächsten kommt noch das Dorf Murrawjewka im Kreise Brjansk. Aber dort hat nie eine Artilleriedivision gestanden und sich überhaupt nichts zugetragen, was auch nur in irgend einer Verbindung zum oben angeführten „Dokument“ stehen könnte.
     
  2. Auch in bezug auf die Artillerieformierungen wurde die Untersuchung durchgeführt. Es ist absolut nirgends gelungen, auch nur eine indirekte Andeutung auf ein Geschehnis zu ermitteln, das dem von Kautsky an der Hand seines Inspirators mitgeteilten ähnlich sähe.
     
  3. Schließlich berührte die Untersuchung auch die Frage, ob am Ort nicht derartige Gerüchte im Umlauf gewesen sind. Auch in dieser Beziehung ist absolut nichts ermittelt worden. Und das ist nicht verwunderlich. Der ganze Inhalt der Fälschung steht in zu grobem Widerspruch zu den Sitten und zur öffentlichen Meinung der führenden Arbeiter und Bauern, die die Sowjets leiten, selbst in den zurückgebliebensten Bezirken.

Somit war das Dokument eine Fälschung niedrigster Sorte, die nur von den böswilligsten Sykophanten knallgelber Zeitungen verbreitet werden konnte.

Zur Zeit, als die soeben erwähnte Untersuchung im Gang war, übersandte der Genosse Sinowjew mir eine Nummer einer schwedischen Zeitung (Svenska Dagbladet) vom 9. November 1919, in der das Faksimile eines Mandats mit folgendem Wortlaut wiedergegeben war.

Mandat.

Dem Vorzeiger dieses, Genossen Karassejew, wird das Recht gewährt, in die Stadt Jekaterinod (verwischt) Seelen-Mädchen im Alter von 16 bis 36 Jahren zu sozialisieren, wen Genosse Karassejew bezeichnet.

 

Oberbefehlshaber Iwaschtschew“

Dieses Dokument ist noch dümmer und frecher als das von Kautsky gebrachte. Die Stadt Jekaterinodar (das Zentrum des Kubangebiets) befand sich bekanntlich nur sehr kurze Zeit in den Händen der Sowjetmacht. Der offenbar in der revolutionären Chronologie nicht gut beschlagene Autor der Fälschung hat das Datum auf seinem Dokument verwischt, damit es nicht unversehens ergeben möchte, daß der „Oberbefehlshaber Iwaschtschew“ die Frauen Jekaterinodars zu einer Zeit sozialisierte, als dort die Soldateska Denikins herrschte. Daß das Dokument einen stumpfsinnigen schwedischen Bourgeois irreführen konnte, – das ist weiter nicht verwunderlich. Dem russischen Leser aber ist es allzu klar, daß das Dokument nicht einfach gefälscht, sondern von einem Ausländer mit dem Wörterbuch in der Hand gefälscht ist. Aeußerst interessant ist, daß die Namen beider Frauensozialisierer – „Grigori Sarejew“ und „Gen. Karassejew“ – absolut nicht russisch klingen. Die Endung ejew kommt, bei russischen Familiennamen selten und nur in ganz bestimmten Verbindungen vor. Aber der Name des Entlarvers der Bolschewiki selbst, des Verfassers der englischen Broschüre, auf die sich Kautsky beruft, endet gerade auf ejew (Wintch-Malejeff). Es ist klar, daß dieses in Lausanne sitzende englisch-bulgarische Polizeisubjekt die Sozialisierer von Frauen im buchstäblichen Sinne des Wortes nach seinem eigenen Vorbilde schafft.

Jedenfalls hat Kautsky eigenartige Inspiratoren und Mithelfer.
 

Die Sowjets, die Gewerkschaften und die Partei

Die Sowjets als Organisationsform der Arbeiterklasse stellen laut Kautsky „gegenüber der Partei- und Gewerkschaftsorganisation der weiter entwickelten Länder nicht eine höhere Form proletarischer Organisation dar, sondern zunächst nur einen Notbehelf, aus ihrem Fehlen geboren“. (S. 51) Angenommen, daß das hinsichtlich Rußlands richtig wäre? Warum sind aber dann in Deutschland Räte entstanden? Muß man auf sie in der Republik Eberts nicht völlig verzichten? Wir wissen jedoch, daß Hilferding, der nächste Gesinnungsgenosse Kautskys, beantragt hat, die Räte in der Verfassung zu verankern. Kautsky schweigt.

Die Einschätzung der Sowjets als „primitive“ Organisation ist so weit richtig, als der offene Revolutionskampf „primitiver“ ist als der Parlamentarismus. Aber die künstliche Kompliziertheit des letzteren erfaßt nur die zahlenmäßig verschwindend kleinen Spitzen. Die Revolution jedoch ist nur da möglich, wo die Massen am Lebensnerv gepackt werden. Die Novemberrevolution stellte ungeheure Massenschichten auf, von denen die vorrevolutionäre Sozialdemokratie nicht einmal zu träumen vermochte. So ausgedehnt die Organisationen der Partei und der Gewerkschaften in Deutschland auch waren, die Revolution erwies sich sofort als ungleich umfassender. Ihre unmittelbare Vertretung fanden die revolutionären Massen in der einfachsten und allgemein zugänglichen Delegiertenorganisation, dem – Sowjet. Es mag zugegeben werden, daß der Sowjet der Deputierten sowohl hinter der Partei als auch hinter der Gewerkschaft an Klarheit des Programms und Straffheit der Organisation zurückbleibt. Aber er übertrifft sowohl die Partei als auch die Gewerkschaften weitaus durch die Zahl der von ihm in den Organisationskampf hineingezogenen Massen, und dieser zahlenmäßige Vorrang verleiht dem Sowjet ein unbestreitbares revolutionäres Uebergewicht. Der Sowjet umfaßt Arbeiter aller Unternehmungen, aller Berufe, aller Stufen kultureller Entwicklung, aller Grade politischer Erkenntnis, und eben dadurch wird er objektiv genötigt, die gemeinsamen Interessen des Proletariats zu formulieren.

Das Manifest der Kommunistischen Partei erblickte die Aufgabe der Kommunisten eben darin, die allgemeinen geschichtlichen Interessen der Arbeiterklasse als Ganzes zu formulieren.

„Die Kommunisten“, heißt es im Manifest, „unterscheiden sich von den übrigen proletarischen Parteien nur dadurch, daß sie einerseits in den verschiedenen nationalen Kämpfen der Proletarier die gemeinsamen von der Nationalität unabhängigen Interessen des gesamten Proletariats hervorheben und zur Geltung bringen, anderseits dadurch, daß sie in den verschiedenen Entwicklungsstufen, welche der Kampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie durchläuft, stets das Interesse der Gesamtbewegung vertreten.“

In der Form der allumfassenden Klassenorganisation der Sowjets nimmt die Bewegung sich selbst „als Ganzes“. Hieraus wird klar, warum die Kommunisten die führende Partei der Sowjets werden konnten und mußten.

Hieraus wird aber auch all das Unrichtige der Einschätzung der Sowjets als „Notbehelf“ für die Partei (Kautsky) ersichtlich, sowie die ganze Stumpfsinnigkeit des Versuchs, die Sowjets in Gestalt eines Hilfshebels in den Mechanismus der bürgerlichen Demokratie einzufügen (Hilferding). Die Sowjets sind Organisationen der proletarischen Revolution und haben als Organ des Kampfes um die Macht oder aber als Apparat der Macht der Arbeiterklasse ihre Berechtigung.

Da Kautsky die revolutionäre Rolle der Sowjets nicht begreifen kann, so sieht er ihre Hauptmängel da, wo ihre wesentlichsten Vorzüge liegen:

„Die Abgrenzung des Bourgeois vom Arbeiter“, schreibt er, „ist nirgends genau zu ziehen, ihr haftet stets etwas Willkürliches an, was den Rätegedanken sehr geeignet macht zur Grundlage für eine diktatorische Willkürherrschaft, aber sehr ungeeignet zum Aufbau einer klaren und systematisch auf gebauten Staatsverfassung.“ (S. 115)

Die Klassendiktatur kann sich nach Kautsky keine ihrer Natur entsprechenden Einrichtungen schaffen, weil es keine einwandfreien Grenzlinien zwischen den Klassen gibt. Aber was soll denn, wenn dem so ist, mit dem Klassenkampf überhaupt werden? Gerade in der großen Zahl der Zwischenstufen zwischen Bourgeoisie und Proletariat haben ja die kleinbürgerlichen Ideologen stets das Hauptargument gegen das „Prinzip“ des Klassenkampfes an sich gesehen. Für Kautsky aber beginnen die prinzipiellen Bedenken gerade da, wo das Proletariat, nachdem es die Formlosigkeit und Unsicherheit der Zwischenklassen überwunden, einen Teil derselben mit sich gerissen, die anderen ins Lager der Bourgeoisie hinübergeschleudert und seine Diktatur tatsächlich in der Staatsordnung der Sowjets organisiert hat. Eben darum sind ja die Sowjets ein unersetzlicher Apparat der Proletarierherrschaft, weil ihr Rahmen elastisch und biegsam ist, so daß nicht nur soziale, sondern auch politische Veränderungen im gegenwärtigen Verhältnis der Klassen und Schichten im Sowjetapparat unverzüglich Ausdruck finden können. Mit den größten Betrieben beginnend, ziehen die Sowjets dann die Arbeiter der Werkstätten und die Handelsangestellten in ihre Organisation hinein, greifen aufs Dorf hinüber, organisieren die Bauern gegen die Gutsbesitzer und dann die unteren und mittleren Schichten der Bauernschaft gegen die Kulacks (Dorfwucherer). Der Arbeiterstaat wählt sich zahlreiche Bestände von Angestellten, in bedeutendem Maße aus den Kreisen der Bourgeoisie und der bürgerlichen Intelligenz. Nach Maßgabe ihrer Disziplinierung durch das Sowjetregime finden sie ihre Vertretung im Sowjetsystem. Indem es sich erweitert – oder zuweilen verengert – entsprechend der Erweiterung oder Verengerung der vom Proletariat eroberten sozialen Stellung, bleibt das Sowjetsystem der Staatsapparat der sozialen Revolution, in ihrer inneren Dynamik, ihrer Ebbe und Flut, ihren Fehlern und Errungenschaften. Gleichzeitig mit dem endgültigen Siege der sozialen Revolution wird sich das Sowjetsystem auf die ganze Bevölkerung ausdehnen, um somit die Züge eines Staatswesens zu verlieren und in einer mächtigen Pro- duktions- und Konsumgenossenschaft aufzugehen.

Wenn die Partei und die Gewerkschaften Organisationen zur Vorbereitung der Revolution waren, so sind die Sowjets das Werkzeug der Revolution selbst. Nach ihrem Siege werden die Sowjets zu Organen der Macht. Die Rolle der Partei und der Gewerkschaften wird nicht verringert, ändert sich aber wesentlich.

In den Händen der Partei wird die allgemeine Leitung konzentriert. Sie regiert nicht unmittelbar, weil ihr Apparat nicht darauf eingestellt ist. Aber ihr steht das entscheidende Wort in allen grundlegenden Fragen zu. Noch mehr, – unsere Praxis hat dazu geführt, daß überhaupt in allen Streitfragen, bei Konflikten zwischen den Behörden und persönlichen Konflikten in den Behörden, das letzte Wort dem Zentralkomitee der Partei gehört. Das ergibt eine außerordentliche Ersparnis an Zeit und Kraft und sichert unter den schwierigsten und verwickeltsten Umständen die notwendige Einheit der Aktion. Ein solches Regime ist nur möglich, wenn die Autorität der Partei unwidersprochen und ihre Disziplin tadellos ist. Zum Glück für die Revolution besitzt unsere Partei beides in gleichem Maße. Ob auch in anderen Ländern, die aus der Vergangenheit keine feste revolutionäre Organisation mit großer Kampferprobtheit übernommen haben, zum Zeitpunkt der proletarischen Umwälzung eine über ebensolche Autorität verfügende Kommunistische Partei erstehen wird, läßt sich schwer voraussagen. Aber es ist völlig klar, daß von dieser Frage in hohem Maße der Gang der sozialistischen Revolution in jedem Lande abhängt.

Die außerordentliche Rolle der Kommunistischen Partei in der siegreichen proletarischen Revolution ist völlig verständlich. Es handelt sich um die Diktatur der Klasse. Im Bestände der Klasse gibt es verschiedene Schichten, ungleichartige Stimmungen, verschiedene Entwicklungsstufen. Dabei aber setzt die Diktatur Einheit des Willens, der Richtung, der Aktion voraus. Auf welchem anderen Wege kann diese also verwirklicht werden? Die revolutionäre Herrschaft des Proletariats hat im Proletariat selbst die politische Herrschaft einer Partei mit klarem Aktionsprogramm und unverletzlicher innerer Disziplin zur Voraussetzung.

Die Politik von Blocks widerspricht innerlich dem Regime der revolutionären Diktatur. Wir meinen nicht einen Block mit den bürgerlichen Parteien, von dem überhaupt nicht die Rede sein kann, sondern einen Block der Kommunisten mit anderen „sozialistischen“ Organisationen, die verschiedene Stufen der Rückständigkeit und der Vorurteile der werktätigen Massen vertreten.

Die Revolution untergräbt rasch alles Unsichere, nutzt rasch alles Künstliche ab; die im Block verhüllten Gegensätze werden unter dem Andrang der revolutionären Ereignisse rasch aufgedeckt. Wir haben das an dem Beispiele Ungarns gesehen, wo die Diktatur des Proletariats die politische Form einer Koalition der Kommunisten mit den sich rot gebärdenden Kompromißlern angenommen hat. Die Koalition zerfiel bald. Die Kommunistische Partei büßte schwer für die revolutionäre Unfähigkeit und den politischen Verrat ihrer Weggenossen. Es ist völlig klar, daß es für die ungarischen Kommunisten vorteilhaft gewesen wäre, später zur Macht zu gelangen und vorher den linken Kompromißlern die Möglichkeit zu geben, sich endgültig zu kompromittieren. Wie weit das möglich war, ist eine andere Frage. Jedenfalls aber verhüllte der Block mit den Kompromißlern nur zeitweilig die verhältnismäßige Schwäche der ungarischen Kommunisten, hinderte sie zugleich daran, auf Kosten der Kompromißler zu erstarken und führte sie zur Katastrophe.

Derselbe Gedanke wird durch das Beispiel der russischen Revolution hinlänglich verdeutlicht. Der Block der Bolschewiki mit den linken Sozialrevolutionären, der einige Monate währte, endete mit einem blutigen Bruch. Freilich, die Rechnungen des Blocks hatten weniger wir Kommunisten zu bezahlen, als unsere ungetreuen Weggenossen. Es ist klar, daß ein solcher Block, in dem wir die stärkere Partei waren und daher beim Versuch, eine geschichtliche Wegstrecke lang den äußersten linken Flügel der kleinbürgerlichen Demokratie auszunutzen, nicht allzuviel riskierten, taktisch völlig gerechtfertigt ist. Trotzdem aber zeigt die Episode mit den linken Sozialrevolutionären ganz deutlich, daß ein Regime der Kompromisse, der Abkommen, der gegenseitigen Konzessionen – und das ist eben das Blockregime – sich nicht lange zu halten vermag in einer Epoche, wo die Situationen mit außerordentlicher Schnelligkeit wechseln und wo die höchste Einheit des Standpunktes erforderlich ist, um die Aktionsfreiheit möglich zu machen.

Man hat uns vielfach vorgeworfen, wir hätten die Diktatur der Sowjets nur vorgetäuscht, in Wirklichkeit aber eine Diktatur unserer Partei ausgeübt. Dabei kann aber mit vollem Recht gesagt werden, daß die Diktatur der Sowjets nur möglich geworden ist vermittelst der Diktatur der Partei: dank der Klarheit ihrer theoretischen Erkenntnis und ihrer festen revolutionären Organisation sicherte die Partei den Sowjets die Möglichkeit, sich aus formlosen Parlamenten der Arbeit in einen Apparat der Herrschaft der Arbeit zu verwandeln. In dieser „Unterschiebung“ der Macht der Partei an Stelle der Macht der Arbeiterklasse liegt nichts Zufälliges, und dem Wesen nach ist auch durchaus keine Unterschiebung vorhanden. Die Kommunisten bringen die grundlegenden Interessen der Arbeiterklasse zum Ausdruck. Es ist ganz natürlich, daß in der Periode, wo die Geschichte diese Interessen in vollem Umfange auf die Tagesordnung setzt, die Kommunisten die anerkannten Vertreter der Arbeiterklasse als Ganzes werden.

„Wo habt ihr aber die Garantie dafür – fragen uns einige weise Leute – daß gerade eure Partei die Interessen der geschichtlichen Entwicklung zum Ausdruck bringt? Indem ihr die anderen Parteien vernichtet oder in den illegalen Zustand versetzt habt, habt ihr dadurch ihren politischen Wetteifer mit euch ausgeschaltet und also auch euch selbst der Möglichkeit beraubt, eure Richtungslinie nachzuprüfen.“

Dieses Argument ist von einer rein liberalen Vorstellung vom Gang der Revolution diktiert. Zu einer Zeit, wo alle Gegensätze einen offenen Charakter annehmen und der politische Kampf rasch in den Bürgerkrieg übergeht, verfügt die herrschende Partei zur Nachprüfung ihrer Richtung über eine genügende Anzahl materieller Kriterien, auch abgesehen von der eventuellen Existenz menschewistischer Blätter. Noske schlägt auf die Kommunisten ein, aber sie wachsen. Wir haben die Menschewiki und Sozialrevolutionäre unterdrückt – und sie sind wesenlos geworden. Dieses Kriterium genügt uns. Jedenfalls besteht unsere Aufgabe nicht darin, in jedem Augenblick die Gruppierung der Richtungen statistisch festzustellen, sondern darin, unserer Richtung, die die Richtung der revolutionären Diktatur ist, den Sieg zu sichern. Und in der Entfaltung dieser Diktatur, in ihren inneren Reibungen, sind hinreichende Kriterien zur Selbstüberprüfung zu finden.

Eine dauernde „Unabhängigkeit“ der Gewerkschaftsbewegung im Zeitalter der Revolution des Proletariats ist ebenso unmöglich, wie die Blockpolitik. Die Gewerkschaftsverbände werden zu den wichtigsten wirtschaftlichen Organen des sich an der Macht befindenden Proletariats. Dadurch geraten sie unter die Führung der Kommunistischen Partei. Nicht nur die prinzipiellen Fragen der Gewerkschaftsbewegung, sondern auch die ernsten Organisationskonflikte in ihr werden vom Zentralkomitee unserer Partei entschieden.

Die Kautskyaner beschuldigen die Sowjetmacht, die Diktatur eines „Teils“ der Arbeiterklasse zu sein. „Wenn die Diktatur“, sagen sie, „wenigstens von der ganzen Klasse durchgeführt werden würde.“ Es ist nicht leicht, zu begreifen, was sie sich darunter eigentlich vorstellen. Die Diktatur des Proletariats bedeutet ihrem innersten Wesen nach die unmittelbare Herrschaft des revolutionären Vortrupps, der sich auf die schweren Massen stützt und erforderlichenfalls das zurückgebliebene Ende zwingt, sich nach der Spitze zu richten. Das gilt auch von den Gewerkschaften. Nach der Eroberung der Macht durch das Proletariat nehmen sie einen Zwangscharakter an. Sie müssen alle Industriearbeiter umfassen. Die Partei nimmt nach wie vor die bewußtesten und selbstlosesten von ihnen in ihre Reihen auf. Sie erweitert ihre Reihen nur unter strenger Prüfung. Hieraus entspringt die Führerrolle der kommunistischen Minderheit in den Gewerkschaften, die der Herrschaft der Kommunistischen Partei in den Sowjets entspricht und der politische Ausdruck für die Diktatur des Proletariats ist.

Die Gewerkschaften werden zu unmittelbaren Trägern der gesellschaftlichen Produktion. Sie drücken nicht nur die Interessen der Industriearbeiter, sondern auch die Interessen der Industrie selbst aus. In der ersten Periode erheben die trade-unionistischen Tendenzen in den Gewerkschaften noch mehrfach ihr Haupt, veranlassen die Gewerkschaften, mit dem Sowjetstaat zu feilschen, ihm Bedingungen zu stellen und von ihm Garantien zu fordern. Mit der Zeit jedoch erkennen die Gewerkschaften immer mehr ihre Eigenschaft als Produktionsorgane des Sowjetstaats und übernehmen die Verantwortung für seine Schicksale, nicht im Gegensatz zu ihm, sondern in Identifizierung mit ihm. Die Gewerkschaften werden zu Vollstreckern der Arbeitsdisziplin. Sie verlangen von den Arbeitern angestrengte Arbeit unter den schwierigsten Verhältnissen, soweit der Arbeiterstaat noch nicht imstande ist, diese Verhältnisse zu ändern. Die Gewerkschaften führen die revolutionären Repressalien gegen die undisziplinierten zügellosen Schmarotzerelemente der Arbeiterklasse durch. Von der trade-unionistischen Politik, die bis zu einem gewissen Grade von der Gewerkschaftsbewegung im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft untrennbar ist, gehen die Gewerkschaften auf der ganzen Linie zur Politik des revolutionären Kommunismus über.
 

Die Bauernpolitik

Die Bolschewiki „wollten auf dem Dorfe die besitzenden Bauern“, so enthüllt Kautsky, „dadurch lahmlegen, daß sie die politischen Rechte ausschließlich den ärmsten Bauern vorbehielten. Sie haben den besitzenden Bauern wieder eine Vertretung zugestanden.“ (S. 143)

Kautsky zählt die äußeren „Widersprüche“ unserer Bauernpolitik auf, ohne nach ihrer allgemeinen Richtung und nach den inneren Widersprüchen zu fragen, die in der politischen und wirtschaftlichen Lage des Landes begründet sind.

In der russischen Bauernschaft gab es, als sie in die Sowjetordnung eintrat, drei Schichten: die Armen, die im wesentlichen vom Verkauf ihrer Arbeitskraft lebten und Lebensmittel für ihren Bedarf hinzukaufen mußten; die Mittelschicht, die ihren Bedarf durch die Produkte ihrer eigenen Wirtschaft deckte und den Ueberschuß in beschränktem Maße verkaufte; die Oberschicht, d. h. die reichen Bauern, die Wucherer, die systematisch Arbeitskraft kauften und Landwirtschaftsprodukte in großem Maßstabe verkauften. Es braucht nicht gesagt zu werden, daß diese Gruppen sich weder durch Bestimmtheit der Merkmale, noch durch Gleichartigkeit in allen Teilen des Landes auszeichnen. Immerhin aber waren die armen Bauern im großen und ganzen der natürliche und unstreitige Verbündete des städtischen Proletariats, die Wucherer (Kulaks) dagegen sein ebenso unstreitiger und unversöhnlicher Feind; die größten Schwankungen zeigte die breiteste mittlere Schicht der Bauernschaft.

Wenn das Land nicht so erschöpft wäre und das Proletariat die Möglichkeit hätte, den Bauernmassen die erforderlichen Mengen von Waren und Kulturgütern zur Verfügung zu stellen, dann hätte sich der Anschluß der werktätigen Mehrheit der Bauernschaft weit schmerzloser vollzogen. Der wirtschaftliche Verfall des Landes, der nicht ein Ergebnis unserer Agrar- und Ernährungspolitik war, sondern durch Gründe hervorgerufen ist, die dieser Politik vorausgingen, benahm der Stadt auf längere Zeit hinaus jede Möglichkeit, dem Dorfe Produkte der Textil- und Metallindustrie, Kolonialwaren usw. zu liefern. Zu gleicher Zeit konnte die Industrie nicht darauf verzichten, aus dem Dorfe wenigstens eine minimale Lebensmittel menge zu schöpfen. Das Proletariat verlangte von der Bauernschaft Lebensmittelvorschüsse, eine wirtschaftliche Beleihung der Werte, die es erst zu schaffen beabsichtigte. Als Symbol dieser künftigen Werte erscheint der endgültig entwertete Kreditschein. Aber die Bauernschaft ist zu geschichtlichen Abstraktionen wenig veranlagt. Mit der Sowjetmacht durch die Liquidierung des privaten Großgrundbesitzes verknüpft und in ihr die Garantie gegen die Wiederherstellung des Zarismus sehend, wirkt die Bauernschaft gleichzeitig der Erfassung des Getreides vielfach entgegen, da sie darin ein unvorteilhaftes Geschäft sieht, solange sie selbst dafür noch nicht Kattun, Nägel und Petroleum erhält.

Die Sowjetmacht war naturgemäß bestrebt, die Hauptlast der Lebensmittelsteuer den Oberschichten des Dorfes aufzubürden. Aber unter den noch nicht fest gestalteten sozialen Verhältnissen des Dorfes fand das einflußreiche Wuchertum, das gewohnt war, die Mittelbauern mit sich zu ziehen, Dutzende von Mitteln, um die Lebensmittelsteuer von sich auf die breiten Massen der Bauernschaft abzuwälzen und diese zu gleicher Zeit der Sowjetmacht feindlich gegenüberzustellen. Es war notwendig, in den bäuerlichen Unterschichten Mißtrauen und Feindseligkeit gegen die wucherischen Oberschichten wachzurufen. Dieser Aufgabe dienten die Armenkomitees. Sie wurden aus den Unterschichten geschaffen, aus Elementen, die in der vorhergehenden Epoche gedrückt, in die Ecke gedrängt, rechtlos waren. Selbstverständlich zeigte sich auch in ihren Kreisen eine gewisse Anzahl halbschmarotzerischer Elemente. Dies diente als Hauptmotiv für die Demagogie der Narodniki-„Sozialisten“, deren Reden in den Herzen der Wucherer ein dankbares Echo fanden. Aber an sich war die Tatsache der Uebergabe der Macht an die Dorfarmen von unermeßlicher revolutionärer Bedeutung. Zur Leitung der dörflichen Halbproletarier entsandte die Partei aus den Städten hochentwickelte Arbeiter, die im Dorfe eine unschätzbare Arbeit geleistet haben. Die Armenkomitees wurden zu Stoßorganen gegen die Wucherer. Da sie von der Staatsgewalt unterstützt wurden, zwangen sie hierdurch die Mittelschicht der Bauern, nicht nur zwischen der Sowjetmacht und der Gutsherrenmacht zu wählen, sondern auch zwischen der Diktatur des Proletariats und der halbproletarischen Elemente des Dorfes einerseits und der Uebermacht der Wucherer anderseits. Durch eine Reihe von Lehren, deren einige sehr hart waren, wurde das mittlere Bauerntum zur Erkenntnis genötigt, daß das Sowjetregime, das die Gutsbesitzer und Kreishauptleute verjagt hat, seinerseits der Bauernschaft neue Verpflichtungen auferlegt und von ihr Opfer fordert. Die politische Pädagogik in bezug auf Dutzende von Millionen von Mittelbauern hat sich nicht so leicht und glatt durchführen lassen, wie im Schulzimmer, und hat nicht sofort unbestreitbare Ergebnisse gezeitigt. Es hat Aufstände der Mittelbauern gegeben, die sich mit den Wucherern vereinigten und hierbei in allen Fällen unbedingt unter die Führung der weißgardistischen Gutsbesitzer kamen; es hat Mißbräuche der örtlichen Agenten der Sowjetmacht, sowie vor allem der Armenkomitees gegeben. Aber das politische Hauptziel war erreicht. Die mächtige Wuchererschaft wurde, wenn auch nicht endgültig vernichtet, so doch tief erschüttert, ihr Selbstbewußtsein wurde untergraben. Die mittlere Bauernschaft, die politisch formlos blieb, wie sie wirtschaftlich formlos ist, lernte allmählich ihren Vertreter im fortgeschrittenen Arbeiter sehen, wie sie ihn früher im schreierischen Wucherer gesehen hatte. Nachdem dieses grundlegende Ergebnis erzielt war, mußten die Armenkomitees, als zeitweilige Körperschaften, als ein in die Massen des Dorfes hineingetriebener scharfer Keil, ihren Platz den Sowjets räumen, in denen die armen Bauern zusammen mit den Mittelbauern vertreten sind.

Die Armenkomitees haben ungefähr 6 Monate lang bestanden, vom Juni bis zum Dezember 1918. In ihrer Einsetzung wie auch in ihrer Auflösung sieht Kautsky nichts als „Schwankungen“ der Sowjetrepublik. Dabei findet sich aber bei ihm selbst nicht einmal eine Andeutung von praktischen Fingerzeigen. Und woher sollten sie auch kommen? Die Versuche, die wir in dieser Hinsicht anstellten, haben keine Präzedenzfälle, und für die Fragen, die die Sowjetmacht praktisch löst, gibt es keine papiernen Rezepte. Was Kautsky als politische Widersprüche bezeichnet, ist in Wirklichkeit nichts anderes als ein aktives Manövrieren des Proletariats in der lockeren, ungegliederten Masse der Bauernschaft. Ein Segelschiff muß dem Winde entsprechend manövrieren, aber niemand sieht Widersprüche in Manövern, die das Fahrzeug zum Ziele führen.

In der Frage der landwirtschaftlichen Kommunen und Sowjetwirtschaften könnte man ebenfalls nicht wenig „Widersprüche“ aufzählen, in denen neben vereinzelten Fehlern die verschiedenen Etappen der Revolution zum Ausdruck kommen. Welches Areal der Sowjetstaat in der Ukraine sich selbst vorbehalten und wieviel er den Bauern übergeben soll; welche Richtung den landwirtschaftlichen Kommunen gegeben werden soll; in welcher Form ihnen Unterstützung zu erweisen ist, um sie nicht zu Quellen des Schmarotzertums zu machen; in welcher Gestalt die Kontrolle über sie zu sichern ist; – das alles sind völlig neue Aufgaben des sozialistisch wirtschaftlichen Schaffens, die weder theoretisch noch praktisch vorausbestimmt sind und bei deren Lösung die prinzipielle Programmlinie ihre tatsächliche Anwendung und erfahrungsgemäße Nachprüfung erst finden muß, und zwar durch unvermeidliche zeitweilige Abweichungen nach rechts und nach links.

Aber sogar die bloße Tatsache, daß das russische Proletariat in der Bauernschaft eine Stütze gefunden hat, wird von Kautsky gegen uns ausgespielt:

„Dies hat in das Sowjetregime ein wirtschaftlich reaktionäres Element hineingebracht, von dem die Pariser Kommune verschont geblieben ist (!), da ihre Diktatur sich nicht auf Bauernräte stützte.“

Als ob wir in der Tat das Erbe der feudalbürgerlichen Ordnung hätten antreten können, indem wir das „wirtschaftlich-reaktionäre Element“ willkürlich aus ihr entfernten! Aber auch damit noch nicht genug. Nachdem die Bauernschaft die Sowjetmacht durch das „reaktionäre Element“ vergiftet hatte, hatte sie uns ihre Stütze entzogen. Heute „haßt“ sie die Bolschewiki. Das alles weiß Kautsky ganz zuverlässig aus den Funksprüchen Clemenceaus und aus den Kassibern der Menschewiki.

In Wirklichkeit ist das eine richtig, daß breite Schichten der Bauernschaft unter dem Mangel an notwendigen Industrieprodukten leiden. Ebenso richtig ist aber auch, daß jedes andere Regime – und es hat ihrer in den verschiedenen Teilen Rußlands im Laufe der letzten drei Jahre nicht wenige gegeben – sich für die Schultern der Bauern als bedeutend schwerer erwies. Weder die monarchistischen noch die demokratischen Regierungen vermochten die Warenbestände zu erhöhen. Sowohl die einen als auch die anderen bedurften des bäuerlichen Getreides und der bäuerlichen Pferde. Zur Durchführung ihrer Politik benutzten die bürgerlichen Regierungen, darunter auch die menschewistisch-kautskyanischen, einen rein bürokratischen Apparat, der den Bedürfnissen der bäuerlichen Wirtschaft in unermeßlich geringerem Grade Rechnung trug, als der aus Arbeitern und Bauern bestehende Sowjetapparat. Letzten Endes kommt der Mittelbauer, trotz aller Schwankungen, Unzufriedenheit und Empörungen, unfehlbar zu dem Schluß, daß, wie schwer er es gegenwärtig unter den Bolschewiki auch haben mag, er es unter jedem anderen Regime noch unvergleichlich schwerer haben würde. Es ist ganz richtig, daß die Kommune vor der bäuerlichen Stütze „verschont“ geblieben ist. Dafür aber blieb die Kommune nicht verschont vor der Erwürgung durch die Bauernarmee Thiers! Unsere Armee aber, die zu vier Fünfteln aus Bauern besteht, kämpft mit Begeisterung und Erfolg für die Sowjetrepublik. Und dieser eine Umstand, der Kautsky und seine Inspiratoren widerlegt, bildet die beste Bewertung der Bauernpolitik der Sowjetmacht.
 

Die Sowjetmacht und die Fachleute

„Die Bolschewiki gedachten anfangs, sich ohne die Intellektuellen, ohne ‚Fachleute‘ zu behelfen“, erklärt Kautsky. (S. 128) Dann aber, nachdem sie sich von der Notwendigkeit der Intellektuellen überzeugt hatten, seien sie von harten Repressalien dazu übergegangen, die Intellektuellen auf jede Weise zur Arbeit heranzuziehen, auch durch eine hohe Bezahlung der Arbeit. „Somit also“, ironisiert Kautsky, „ist der ,richtige‘ Weg zur Heranziehung der Fachleute der, zuerst auf ihnen ‚erbarmungslos‘ herumzutrampeln.“ (S. 129) Ganz gewiß. Mit Erlaubnis aller Philister besteht die Diktatur des Proletariats gerade darin, auf den bisher herrschenden Klassen „herumzutrampeln“ und sie zur Anerkennung und Unterwerfung unter die neue Ordnung zu zwingen. Die in den Vorurteilen ihrer Allmacht erzogene Bourgeoisie, die beruflichen Intellektuellen haben es lange nicht geglaubt, wollten und konnten es nicht glauben, daß die Arbeiterklasse tatsächlich imstande ist, das Land zu regieren, daß sie die Macht nicht durch Zufall ergriffen hat, daß die Diktatur des Proletariats eine unwiderlegliche Tatsache ist. Die bürgerlichen Intellektuellen nahmen daher ihre Verpflichtungen dem Arbeiterstaat gegenüber äußerst leicht, sogar wenn sie in seine Dienste traten und glaubten, daß es unter dem Regime des Proletariats etwas ganz natürliches und einfaches sei, von Wilson, Clemenceau und Mirbach Geld für die Agitation gegen die Sowjets zu empfangen oder Kriegsgeheimnisse und technische Hilfsmittel an die Weißgardisten und die ausländischen Imperialisten auszuliefern. Es mußte ihnen durch die Tat gezeigt werden, und zwar gehörig, daß das Proletariat die Macht nicht dazu ergriffen hat, um derartige Späße zu dulden.

In den harten Strafen gegen die Intellektuellen sieht unser spießbürgerlicher Idealist die „Konsequenz einer Politik, die die Intellektuellen nicht durch Ueberzeugung, sondern durch Fußtritte von vorn und hinten zu gewinnen suchte“. (S. 129) Kautsky meint also allen Ernstes, daß man die bürgerlichen Intellektuellen zum Aufbau des Sozialismus durch bloße Ueberzeugung heranzuziehen vermag; und das in einer Lage, wo noch in allen anderen Ländern die Bourgeoisie herrscht, die vor keinem Mittel zurückschreckt, um die russischen Intellektuellen einzuschüchtern, zu verführen oder zu bestechen und sie zu einem Werkzeug der kolonialen Unterjochung Rußlands zu machen.

Anstatt den Verlauf des Kampfes zu analysieren, gibt Kautsky in bezug auf die Intellektuellen Schulrezepte. Es ist ganz falsch, daß unsere Partei gemeint habe, ohne die Intellektuellen auszukommen, daß sie sich nicht Rechenschaft ablegte über ihre Bedeutung für die uns bevorstehende wirtschaftliche und kulturelle Arbeit. Im Gegenteil. Als der Kampf um die Eroberung und Sicherung der Macht aufs schärfste entbrannt war und die Mehrheit der Intellektuellen die Rolle eines Stoßtrupps der Bourgeoisie spielte, offen gegen uns kämpfte oder unsere Institutionen sabotierte, da kämpfte die Sowjetmacht eben deshalb schonungslos gegen die Fachleute, weil sie ihre gewaltige organisatorische Bedeutung kannte, insofern sie nicht eine selbständige „demokratische“ Politik zu führen versuchen, sondern die ihnen von einer der Hauptklassen auf erlegten Aufgaben erfüllen. Erst nachdem der Widerstand der Intellektuellen in hartem Kampfe gebrochen wurde, eröffnete sich die Möglichkeit, die Fachleute zur Arbeit heranzuziehen. Wir haben diesen Weg unverzüglich beschritten. Er erwies sich als nicht ganz einfach. Die Beziehungen, die unter den kapitalistischen Verhältnissen zwischen Arbeiter und Direktor, Schreiber und Chef, Soldat und Offizier bestanden, hatten ein sehr tiefgehendes Mißtrauen gegen die Spezialisten hinterlassen, das sich in der ersten Periode des Bürgerkrieges noch verschärfte, als die Intellektuellen bestrebt waren, die Arbeiterrevolution um jeden Preis durch Hunger und Kälte zu brechen. Es war nicht leicht, diese Stimmungen zu überwinden und von rasender Erbitterung zu friedlicher Zusammenarbeit überzugehen. Die Arbeitermassen mußten sich allmählich daran gewöhnen, im Ingenieur, im Agronomen, im Offizier nicht den Unterdrücker von gestern, sondern den nützlichen Arbeiter von heute zu sehen, den unentbehrlichen, der Arbeiter- und Bauernmacht zur Verfügung stehenden Fachmann. Wir haben bereits gesagt, daß Kautsky unrecht hat, wenn er der Sowjetmacht das prinzipielle Streben nachsagt, die Fachleute durch Proletarier zu ersetzen. Aber daß eine derartige Tendenz sich in breiten Kreisen des Proletariats bemerkbar machen mußte, das ist unbestreitbar. Die junge Klasse, die den Beweis geliefert hatte, daß sie imstande ist, die größten Hindernisse auf ihrem Wege zu überwinden, die den Schleier der Mystik, der die Machthaber umgab, in Fetzen gerissen hatte, die sich davon überzeugt hatte, daß nicht Götter die Lehmtöpfe brennen – diese revolutionäre Klasse war in der Person ihrer unreiferen Elemente naturgemäß geneigt, in der ersten Zeit ihre Fähigkeit, alle und jede Aufgabe ohne die Hilfe der von der Bourgeoisie erzogenen Fachleute zu lösen, zu überschätzen.

Den Kampf gegen derartige Tendenzen, soweit sie bestimmte Formen annahmen, haben wir nicht erst seit gestern begonnen.

„Gegenwärtig, in einer Periode, wo die Macht der Sowjets gesichert ist“, sagten wir auf der Moskauer Stadtkonferenz am 28. März 1918, „muß die Bekämpfung der Sabotage ihren Ausdruck darin finden, daß die gestrigen Saboteure in Diener, in Vollstrecker, in technische Leiter überall da verwandelt werden, wo das neue Regime dies nötig hat. Wenn wir das nicht fertig bringen, wenn wir alle uns unentbehrlichen Kräfte nicht heranzuziehen und in den Sowjetdienst einzustellen vermögen, dann wird hierdurch unser gestriger, kriegsrevolutionärer Kampf gegen die Sabotage als völlig vergeblich und fruchtlos zu verurteilen sein.“

„Wie in den toten Maschinen, so ist auch in diesen Technikern, Ingenieuren, Aerzten, Lehrern, ehemaligen Offizieren, ein bestimmtes Nationalkapital unseres Volkes verkörpert, das wir verpflichtet sind auszubeuten, auszunutzen, wenn wir die grundlegenden Fragen, vor denen wir stehen, überhaupt lösen wollen.“

„Die Demokratisierung besteht durchaus nicht darin – das ist das ABC für jeden Marxisten, – die Bedeutung der qualifizierten Kräfte, die Bedeutung der Leute, die Fachkenntnisse besitzen, aufzuheben und sie stets und überall durch gewählte Kollegien zu ersetzen.“

„Die gewählten Kollegien, die aus den besten Vertretern der Arbeiterklasse bestehen, aber nicht über die unumgänglichen technischen Kenntnisse verfügen, können nicht einen Techniker ersetzen, der eine Fachschule durchgemacht hat und weiß, wie die entsprechende Facharbeit geleistet werden muß. Die weitgehende Ausdehnung der Kollegialität, die bei uns auf allen Gebieten zu beobachten ist, erscheint als völlig natürliche Reaktion der jungen, revolutionären, gestern noch geknechteten Klasse, die das individuelle Prinzip der gestrigen Gebieter, Besitzer, Kommandeure beiseite wirft und überall ihre gewählten Vertreter einsetzt. Das ist, sage ich, eine ganz natürliche und ihrem Ursprünge nach ganz gesunde Reaktion. Aber das ist nicht das letzte Wort des wirtschaftlichen Staatsaufbaues der Proletarierklasse.“

„Der nächste Schritt muß in der Selbstbeschränkung des Kollegialprinzips bestehen, in einer gesunden und heilsamen Beschränkung der Arbeiterklasse, die da weiß, wo der gewählte Vertreter der Arbeiter selbst das entscheidende Wort sprechen kann und wo der Platz dem Techniker, dem Fachmann eingeräumt werden muß, der mit bestimmten Kenntnissen ausgerüstet, dem eine große Verantwortlichkeit auferlegt ist, und der unter eine wachsame politische Kontrolle gestellt werden muß. Aber dem Fachmann muß notwendig die Möglichkeit zu freier Betätigung gegeben werden, weil kein einziger einigermaßen befähigter und begabter Fachmann auf seinem Gebiet zu arbeiten vermag, wenn er in seiner Facharbeit einem Kollegium von Leuten untersteht, die dieses Gebiet nicht kennen. Die politische kollegiale Sowjetkontrolle muß stets und überall ausgeübt werden, aber für die Ausführungsfunktionen ist es erforderlich, technische Fachleute zu ernennen, sie auf verantwortliche Posten zu stellen und ihnen die Verantwortung zu übertragen.“

„Wer sich davor fürchtet, der verrät, wenn er sich dessen auch unbewußt ist, tiefes inneres Mißtrauen gegenüber dem Sowjetregime. Wer da glaubt, daß die Heranziehung der Saboteure von gestern zur Leitung fachtechnischer Aemter geradezu die Grundlagen des Sowjetregimes bedroht, der gibt sich seinerseits keine Rechenschaft darüber, daß das Sowjetregime nicht über irgend einen Ingenieur, nicht über irgend einen General von gestern stolpern kann, – in politischer, revolutionärer, militärischer Hinsicht ist das Sowjetregime unbesiegbar – sondern nur über seine eigene Unfähigkeit, mit den schöpferischen Organisationsaufgaben fertig zu werden.“

„So muß aus den alten Institutionen alles das herausgeholt werden, was dort an Lebensfähigem und Wertvollem vorhanden ist, und in die neue Arbeit eingespannt werden.“

„Wenn wir das nicht tun, Genossen, dann werden wir mit unseren wesentlichsten Aufgaben nicht zurechtkommen, denn aus unserem Innern, aus unserer Mitte heraus binnen kürzester Frist alle erforderlichen Fachleute aufzustellen, unter Verwerfung alles dessen, was früher aufgespeichert worden ist, wäre ganz unmöglich.“

„Es wäre das, im Grunde genommen, dasselbe, wie wenn wir sagen würden, daß wir jetzt alle die Maschinen verwerfen, die bisher zur Ausbeutung der Arbeiter gedient haben. Das wäre Wahnwitz. Die Heranziehung gelehrter Fachleute ist für uns ebenso notwendig, wie die Registrierung aller Produktions- und Transportmittel und überhaupt aller Reichtümer des Landes. Wir müssen, und zwar unverzüglich, die Fachtechniker, die wir haben, registrieren und für sie die wirkliche Arbeitspflicht einführen, ihnen zugleich ein weites Tätigkeitsfeld eröffnen und sie unter politische Kontrolle stellen.“ [1]

Am akutesten war das Fachleuteproblem von Anfang an im Militärressort. Hier ist es unter dem Druck der eisernen Notwendigkeit zuerst entschieden worden.

Auf dem Gebiete der Verwaltung der Industrie und des Transportwesens sind die erforderlichen Organisationsformen auch bis zum heutigen Tage noch längst nicht völlig erreicht. Die Ursache muß in dem Umstande gesucht werden, daß wir im Laufe der ersten zwei Jahre genötigt waren, die Interessen der Industrie und des Transportwesens den Bedürfnissen der militärischen Verteidigung unterzuordnen. Der äußerst wechselvolle Gang des Bürgerkriegs hat seinerseits die Herstellung geregelter Beziehungen zu den Fachleuten verhindert. Die qualifizierten Techniker der Industrie und des Verkehrs, Aerzte, Lehrer, Professoren schlossen sich entweder den weichenden Truppen Koltschaks und Denikins an oder wurden von ihnen gewaltsam mitgeschleppt. Erst jetzt, wo der Bürgerkrieg sich seinem Ende genähert hat, söhnen sich die Intellektuellen in ihrer Masse mit der Sowjetmacht aus oder beugen sich ihr. Die Wirtschaftsaufgaben treten in den Vordergrund. Zu den wichtigsten unter ihnen gehört die wissenschaftliche Organisierung der Produktion. Den Fachleuten eröffnet sich ein unermeßliches Arbeitsfeld. Ihnen wird die für schöpferische Arbeit unumgängliche Selbständigkeit gewährt. Die gesamtstaatliche Leitung der Industrie konzentriert sich in den Händen der Partei des Proletariats.
 

Die internationale Politik der Sowjetmacht

„Die Bolschewiki“, sagt Kautsky, „gewannen die Kraft, die politische Macht an sich zu reißen, dadurch, daß sie unter den politischen Parteien Rußlands diejenigen waren, die am energischsten den Frieden forderten, den Frieden um jeden Preis, den Separatfrieden, unbekümmert darum, wie sich dadurch die allgemeine internationale Situation gestaltete, ob sie den Sieg und die Weltherrschaft der deutschen Militärmonarchie dadurch förderten oder nicht, zu deren Schützlingen sie lange Zeit ebenso zählten, wie indische oder irische Rebellen und italienische Anarchisten.“ (S. 42)

Kautsky weiß über die Gründe unserer Siege nur das eine: daß wir für die Friedensparole eingetreten sind. Er erklärt aber nicht, wodurch die Sowjetmacht sich hat halten können, als sie den bedeutendsten Teil der Soldaten der imperialistischen Armee von neuem mobil machte, um ihre politischen Feinde zwei Jahre lang erfolgreich zurückzuweisen.

Die Friedensparole hat unstreitig eine gewaltige Rolle in unserem Kampfe gespielt; aber dies eben deshalb, weil sie gegen den imperialistischen Krieg gerichtet war. Am ausgeprägtesten wurde die Friedensparole nicht von den erschöpften Soldaten, sondern von den vorgeschrittenen Arbeitern unterstützt, für die sie nicht Erholung, sondern unversöhnlichen Kampf gegen die Ausbeuter bedeutete. Diese selben Arbeiter setzten dann unter der Losung des Friedens ihr Leben an den Sowjetfronten ein.

Die Behauptung, wir hätten den Frieden gefordert, ohne uns darum zu kümmern, welchen Einfluß er auf die internationale Lage ausüben würde, ist eine verspätete Nachbeterei kadettisch-menschewistischer Verleumdungen. Der Versuch, uns mit den germanophilen Nationalisten Indiens und Irlands gleichzusetzen, stützt sich darauf, daß der deutsche Imperialismus tatsächlich versucht hat, uns in gleicher Weise auszunutzen wie die Hindus und Irländer. Aber die Chauvinisten Frankreichs haben nicht geringe Mühe darauf verwendet, Liebknecht und Rosa Luxemburg – und sogar Kautsky und Bernstein! – für ihre Interessen auszunutzen. Die ganze Frage ist die, ob wir gestattet haben, uns auszunutzen: Haben wir durch unser Verhalten den europäischen Arbeitern gegenüber auch nur den Schein einer Veranlassung dazu gegeben, uns mit dem deutschen Imperialismus in einen Topf zu werfen? Es genügt, an den Verlauf der Brester Verhandlungen, ihren Abbruch und den deutschen Vormarsch im Februar 1918 zu erinnern, um den Zynismus der Beschuldigung Kautskys restlos aufzudecken. Frieden zwischen uns und dem deutschen Imperialismus hat es eigentlich nicht einen einzigen Tag lang gegeben. An der ukrainischen und der kaukasischen Front setzten wir nach Maßgabe unserer damals äußerst schwachen Kräfte den Krieg fort, ohne ihn offen so zu nennen. Wir waren zu schwach, um uns an der ganzen russisch-deutschen Front zu erheben, wir nährten zeitweilig die Fiktion des Friedens, unter Ausnutzung des Umstandes, daß die deutschen Hauptkräfte nach dem Westen abgelenkt waren. Wenn der deutsche Imperialismus 1917–18 stark genug war, um uns den Brester Frieden aufzuzwingen, trotz aller unserer Anstrengungen, uns dieser Schlinge zu entwinden, so lag die Hauptursache dafür in dem schmählichen Verhalten der deutschen Sozialdemokratie, deren integrierender und notwendiger Bestandteil Kautsky blieb. Der Frieden von Brest-Litowsk ist am 4. August 1914 vorausbestimmt worden. Damals hat Kautsky dem deutschen Militarismus nicht nur den Krieg nicht erklärt, was er später von der im Jahre 1918 militärisch noch machtlosen Sowjetmacht verlangte, – er beantragte sogar, „unter bestimmten Bedingungen“ für die Kriegskredite zu stimmen, und legte überhaupt ein Verhalten an den Tag, daß man monatelang nicht wußte, ob er für oder gegen den Krieg war. Und dieser politische Feigling, der im entscheidenden Augenblick die Grundstellungen des Sozialismus aufgab, wagt es, uns anzuklagen, weil wir in einem bestimmten Augenblick genötigt waren, zu weichen – nicht geistig, sondern materiell – und warum? Weil die vom Kautskyanertum, d. h. von der theoretisch maskierten politischen Ohnmacht verderbte deutsche Sozialdemokratie uns verraten hatte.

Wir hätten uns nicht um die internationale Lage gekümmert! In Wirklichkeit besaßen wir hinsichtlich der internationalen Lage ein bedeutend tiefer schürfendes Kriterium, – und es hat uns nicht betrogen. Schon vor der Februarrevolution hatte die russische Armee als Kampfkraft zu existieren aufgehört. Ihr endgültiger Zerfall war unausbleiblich. Wenn die Februarrevolution nicht ausgebrochen wäre, hätte der Zarismus sich mit der deutschen Monarchie verständigt. Aber die Februarrevolution, die dies Geschäft vereitelte, hat eben deshalb, weil sie eine Revolution war, die auf dem monarchischen Prinzip beruhende Armee endgültig untergraben. Einen Monat früher oder später mußte die Armee in Stücke zerfallen. Die Kriegspolitik Kerenskis war eine Vogelstraußpolitik.

Er wollte die Zersetzung der Armee nicht sehen, redete tönende Phrasen und drohte dem deutschen Imperialismus mit Worten.

Unter diesen Umständen gab es für uns nur einen Ausweg: uns auf den Boden des Friedens als der unvermeidlichen Folgerung aus der militärischen Machtlosigkeit der Revolution zu stellen und diese Losung in ein Mittel zur revolutionären Einwirkung auf alle Völker Europas zu verwandeln; d. h.: statt zusammen mit Kerensky die endgültige militärische Katastrophe passiv abzuwarten, die die Revolution unter ihren Trümmern hätte begraben können, mußte man sich der Friedensparole bemächtigen und das Proletariat Europas für sie gewinnen, vor allem die Arbeiter Oesterreichs und Deutschlands. Von diesem Gesichtspunkte aus haben wir unsere Friedensverhandlungen mit den Mittelmächten geführt, in diesem Geiste unsere Noten an die Regierungen der Entente abgefaßt. Wir haben die Verhandlungen verschleppt, so lange wir konnten, um den europäischen Arbeitermassen die Möglichkeit zu geben, sich über den Sinn der Sowjetmacht und ihrer Politik klar zu werden. Der Januarstreik von 1918 in Deutschland und Oesterreich hat gezeigt, daß unsere Bemühungen nicht vergeblich waren. Dieser Streik war der erste ernste Vorbote der deutschen Revolution. Die deutschen Imperialisten begriffen, daß gerade wir eine tödliche Gefahr für sie bildeten. Im Buche Ludendorffs wird dafür ein sehr beredtes Zeugnis abgelegt. Sie wagten es allerdings bereits nicht mehr, einen offenen Kreuzzug gegen uns zu unternehmen. Aber überall da, wo sie versteckt gegen uns kämpfen konnten, unter Irreführung der deutschen Arbeiter mit Hilfe der deutschen Sozialdemokratie, haben sie es getan: in der Ukraine, am Don, im Kaukasus. In Zentralrußland, in Moskau stand Graf Mirbach vom ersten Tage seines Eintreffens an im Brennpunkt der gegenrevolutionären Verschwörungen gegen die Sowjetmacht, wie Genosse Joffe in Berlin in engster Beziehung zur Revolution stand. Die äußerste Linke der deutschen Revolution, die Partei Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs, ging mit uns die ganze Zeit über Hand in Hand. Die deutsche Revolution nahm sofort die Form von Sowjets an, und das deutsche Proletariat zweifelte trotz des Brester Friedens keinen Augenblick daran, daß wir mit Liebknecht waren und nicht mit Ludendorff. In seinen Aussagen vor der Reichstagkommission im November 1919 hat Ludendorff erzählt, wie „der Oberbefehl die Schaffung einer Institution forderte, die die Aufgabe haben sollte, die Beziehungen der revolutionären Bestrebungen in Deutschland zu Rußland aufzudecken. Joffe traf in Berlin ein, und in verschiedenen Städten wurden russische Konsulate eröffnet. Das ist für Heer und Flotte folgenschwer gewesen.“ Kautsky aber hat den traurigen Mut, zu schreiben: „wenn es ... zur deutschen Revolution kam, waren sie (die Bolschewiki) nicht schuld daran.“ (S. 110–111)

Selbst wenn wir 1917–18 die Möglichkeit gehabt hätten, die alte zaristische Armee durch revolutionäre Abstinenz aufrechtzuerhalten, anstatt ihre Zersetzung zu beschleunigen, so hätten wir dadurch nur der Entente in die Hände gearbeitet und die räuberische Niedermachung Deutschlands, Oesterreichs und überhaupt aller Länder der Welt durch unsere Teilnahme gedeckt. Bei dieser Politik hätten wir im entscheidenden Augenblick der Entente vollständig waffenlos gegenübergestanden, noch wehrloser, als heute Deutschland. Dank der Oktoberrevolution und dem Brester Frieden aber sind wir jetzt das einzige Land, das der Entente mit dem Gewehr in der Hand gegenübersteht. Durch unsere internationale Politik haben wir dem Hohenzollern nicht nur nicht geholfen, eine weltbeherrschende Stellung einzunehmen, sondern wir haben durch die Novemberumwälzung mehr als irgend jemand sonst seinen Sturz beschleunigt. Zu gleicher Zeit haben wir uns eine Kriegspause gesichert, während der wir eine zahlreiche und feste Armee schufen, die größte Armee des Proletariats in der Geschichte, mit der jetzt alle Kettenhunde der Entente nicht mehr fertig zu werden vermögen.

Der kritischste Augenblick in unserer internationalen Lage trat im Herbst 1918 ein, nach der Zerschmetterung der deutschen Armeen. Statt zweier mächtiger Lager, die einander mehr oder weniger neutralisierten, stand vor uns die siegreiche Entente auf dem Gipfel ihrer Weltmachtstellung und das zertretene Deutschland, dessen Junkergesindel es sich als Glück und Ehre angerechnet hätte, für einen Knochen aus der Küche Clemenceaus das russische Proletariat an der Kehle zu packen. Wir boten der Entente den Frieden an und waren abermals bereit – denn wir waren gezwungen –, die härtesten Bedingungen zu unterzeichnen. Aber Clemenceau, in dessen imperialistischem Räubertum alle Züge des kleinbürgerlichen Stumpfsinns sich vollkommen erhalten haben, verweigerte den Junkern den Knochen und faßte gleichzeitig den Beschluß, den Invalidendom um jeden Preis mit den Skalps der Führer Sowjetrußlands zu schmücken. Durch diese Politik hat Clemenceau uns einen nicht geringen Dienst erwiesen. Wir haben uns bewahrt und behauptet.

Worin bestand nun die leitende Idee unserer Außenpolitik, nachdem die ersten Monate des Bestehens der Sowjetmacht eine noch bedeutende Festigkeit der kapitalistischen Begierungen Europas offenbart hatten? Eben in dem, was Kautsky jetzt mit Erstaunen als Zufallsergebnis feststellt: im Durchhalten! Wir erkannten nur allzuklar, daß allein schon die Tatsache der Existenz der Sowjetmacht von der größten revolutionären Bedeutung ist. Und diese Erkenntnis diktierte uns Zugeständnisse und zeitweilige Rückzüge, – nicht in den Prinzipien, sondern in den praktischen Folgerungen aus der nüchternen Einschätzung der eigenen Kraft. Wir wichen zurück, wie eine Armee, die dem Feinde eine Stadt, sogar eine Festung preisgibt, um sich durch den Rückzug nicht nur für die Verteidigung, sondern auch für den Angriff zu konzentrieren. Wir wichen wie Streikende, deren Kräfte und Mittel für heute erschöpft sind, die aber mit zusammengebissenen Zähnen zu einem neuen Kampfe rüsten. Wären wir nicht von unerschütterlichem Glauben an die

Weltbedeutung der Sowjetdiktatur durchdrungen gewesen, so wären wir in Brest-Litowsk nicht auf so ungeheuer schwere Opfer eingegangen. Wenn unser Glaube sich als im Widerspruch zur tatsächlichen Entwicklung der Dinge stehend erwiesen hätte, dann wäre der Brest-Litowsker Vertrag in die Geschichte als nutzlose Kapitulation eines zum Untergang verurteilten Regimes eingegangen. So haben damals nicht nur die Kühlmann, sondern auch die Kautsky aller Länder die Lage eingeschätzt. Aber es zeigte sich, daß wir hinsichtlich der Einschätzung sowohl unserer damaligen Schwäche als auch unserer zukünftigen Stärke recht hatten. Die Existenz der Ebertrepublik mit ihrem allgemeinen Wahlrecht, ihrer parlamentarischen Falschspielerei, der „freien“ Presse und der Ermordung der Arbeiterführer ist einfach das nächstfolgende Glied in der geschichtlichen Kette der Sklaverei und Niederträchtigkeit. Die Existenz der Sowjetmacht ist eine Tatsache von unermeßlicher revolutionärer Bedeutung. Man mußte sie aufrechterhalten, unter Ausnutzung der Rauferei der kapitalistischen Nationen, des noch nicht beendeten imperialistischen Krieges, der selbstbewußten Frechheit der Hohenzollernbande, der Engstirnigkeit der Weltbourgeoisie in den Grundfragen der Revolution, des Antagonismus zwischen Amerika und Europa, der verwickelten Beziehungen innerhalb der Entente, – man mußte das noch nicht völlig fertiggestellte Sowjetschiff durch stürmische Wogen, zwischen Felsen und Riffen hindurchsteuern und es unterwegs fertig bauen und panzern.

Kautsky übernimmt es, den gegen uns erhobenenVorwurf zu wiederholen, daß wir Anfang 1918 waffenlos, wie wir waren, uns nicht auf den mächtigen Feind gestürzt haben. Wenn wir das getan hätten, wären wir geschlagen worden. [2]

Der erste große Versuch einer Machtergreifung durch das Proletariat wäre gescheitert. Dem revolutionären Flügel des europäischen Proletariats wäre ein ungeheuer schwerer Schlag beigebracht worden. Ueber der Leiche der russischen Revolution hätte die Entente sich mit den Hohenzollern ausgesöhnt, die kapitalistische Weltreaktion hätte für eine Reihe von Jahren Aufschub erhalten. Wenn Kautsky sagt, daß wir beim Abschluß des Brester Friedens seinen Einfluß auf die Schicksale der deutschen Revolution nicht in Betracht gezogen hätten, so ist das eine schändliche Verleumdung. Wir haben diese Frage allseitig erörtert, und unser einziges Kriterium war das Interesse der internationalen Revolution. Wir gelangten zu dem Schluß, daß dieses Interesse die Aufrechterhaltung der einzigen Sowjetmacht der Welt erfordert. Und es erwies sich, daß wir recht hatten. Aber Kautsky erwartete unseren Sturz, wenn nicht mit Ungeduld, so doch mit Sicherheit, und auf diesen erwarteten Sturz gründete er seine ganze internationale Politik.

Die vom Ministerium Bauer veröffentlichten Protokolle der Sitzung der Koalitionsregierung vom 19. November 1918 besagen:

„1. Fortsetzung der Debatten über das Verhalten Deutschlands zur Sowjetrepublik. Haase rät zu einer Verschleppungspolitik. Kautsky schließt sich Haase an: man muß die Entscheidung hinausschieben, die Sowjetregierung wird sich nicht lange halten, sie wird im Laufe einiger Wochen unausbleiblich fallen“ ...

In der Periode also, wo die Lage der Sowjetmacht tatsächlich äußerst schwierig war – die Zerschmetterung des deutschen Militarismus schuf, wie es schien, für die Entente die volle Möglichkeit, „im Laufe einiger Wochen“ mit uns ein Ende zu machen, – in diesem Augenblick eilt Kautsky uns nicht nur nicht zur Hilfe und wäscht auch nicht einmal seine Hände einfach in Unschuld, sondern er nimmt am aktiven Verrat gegen das revolutionäre Rußland teil. Um Scheidemann seine Rolle als Hüter der Bourgeoisie – statt der programmatischen Rolle ihres Totengräbers – zu erleichtern, beeilt sich Kautsky, selbst ein Totengräber der Sowjetmacht zu werden. Aber die Sowjetmacht lebt. Sie wird alle ihre Totengräber überleben.

* * *

Anmerkungen

1. Arbeit, Disziplin, Ordnung werden die sozialistische Sowjetrepublik retten, Moskau 1918. Kautsky kennt diese Broschüre, da er sie mehrmals zitiert. Das hindert ihn jedoch nicht, die oben angeführte Stelle, die die Stellung der Sowjetmacht zu den Intellektuellen klarlegt, zu übergehen.

2. Die Wiener Arbeiterzeitung stellt, wie sichs gehört, die russischen Kommunisten als vernünftige Leute den österreichischen gegenüber.

„Hat Trotzki nicht“, schreibt das Blatt, „mit klarem Blick und Erkenntnis der Möglichkeiten den Brester Gewaltfrieden unterschrieben, obgleich er der Festigung des deutschen Imperialismus diente? Der Brester Frieden war ebenso hart und schmachvoll wie der von Versailles. Aber soll damit gesagt sein, daß Trotzki eine Fortsetzung des Krieges gegen Deutschland hätte wagen sollen? Wäre das Schicksal der russischen Revolution dann nicht schon längst entschieden? Trotzki beugte sich der unabwendbaren Notwendigkeit und unterzeichnete den schmachvollen Vertrag in der Voraussicht der deutschen Revolution.“

Das Verdienst der Voraussicht aller Folgen des Brester Friedens gebührt Lenin. Aber das ändert natürlich nichts am Inhalte der Argumente des Blattes der Wiener Kautskyaner.


Zuletzt aktualisiert am 8. Februar 2020