Leo Trotzki

Politische Perspektiven [1]

(November 1922)


Aus Leo Trotzki, Die Grundfragen der Revolution, S. 445–456.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Ich bin sehr erfreut, daß der Artikel des Genossen Friedänder mir Gelegenheit gibt, noch einmal und mit aller Entschiedenheit gegen die mechanistische, fatalistische, unmarxistische Auffassung vom Gang der Revolution aufzutreten, die trotz der wahrhaft erlösenden Arbeit des 3. Kongresses immer noch in einigen Köpfen, die sich augenscheinlich für linksradikal halten, herumspukt.

Auf dem 3. Kongreß haben wir gehört, die Wirtschaftskrise werde ununterbrochen andauern und sich verschärfen bis das Proletariat die Macht ergreift. Auf diese mechanische Anschauung stürzte sich der revolutionäre Optimismus einiger „Linker“. Als wir diesen erklärten, daß Konjunkturschwankungen in der Weltwirtschaft unausbleiblich seien und man sie voraussehen und in der Taktik berücksichtigen müsse, schien es diesen Genossen, als näherten wir uns schon einer Revision des ganzen Programms und der ganzen Taktik der Internationale. In Wirklichkeit beschäftigten wir uns nur mit der „Revision“ einiger linksradikaler Vorurteile.

Nun finden wir im Artikel des Genossen Friedländer, in der Rede des holländischen Genossen Ravesteyn und einigen anderen Erklärungen und Reden eine Uebertragung dieser selben mechanistischen antimarxistischen Konzeption von der Oekonomik auf das Gebiet der Politik. Das Kapital – sagt man uns – greift politisch und wirtschaftlich an; sein Ansturm wird immer stärker; der Aufstand des Proletariats wird in einem bestimmten Zeitpunkt die Antwort auf die immer heftiger werdende Offensive des Kapitals bilden. Woher sollte denn da eine neue, wenn auch nur kurze pazifistisch-reformistische Periode kommen?

Um das Mechanistische der Konzeption des Genossen Friedländer von vornherein und mit aller Anschaulichkeit aufzudecken, wollen wir als Beispiel Italien nehmen, wo die Konterrevolution ihren Höhepunkt erreicht hat. Wie lautet die politische Prognose für Italien? Wenn man annimmt, daß Mussolini sich längere Zeit zu halten vermag, genügend lange, um die Arbeiter der Stadt und des flachen Landes gegen sich zu vereinigen und ihnen Zeit zu geben, das verlorene Vertrauen zu ihrer Klassenstärke wiederzugewinnen und sich um die Kommunistische Partei zu scharen, so ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß das Regime Mussolini unmittelbar vom Regime der proletarischen Diktatur hinweggefegt wird. Doch gibt es auch eine andere Perspektive, die zum mindesten ebenso wahrscheinlich ist wie die eben erwähnte. Wenn nämlich das Regime Mussolini an den inneren Widersprüchen seiner eigenen sozialen Basis und an der Schwierigkeit der inneren und auswärtigen Lage scheitert, bevor noch das Proletariat Italiens den Zustand erreicht, der es im September 1920 charakterisierte, aber diesmal unter fester und entschlossener revolutionärer Führung, – so ist es augenscheinlich, daß in Italien abermals eine Uebergangsregierung entsteht, ein Regime der Phrase und Machtlosigkeit, ein Ministerium Nitti oder Turati oder auch Nitti-Turati, mit einem Wort: eine italienische Kerenski-Regierung, die dann durch ihren unvermeidlichen jämmerlichen Bankrott den Weg für das revolutionäre Proletariat endgültig freimachen muß.

Bedeutet nun diese zweite Annahme, die durchaus nicht weniger wahrscheinlich ist als die erste, eine Revision des Programms und der Taktik der italienischen Kommunisten? Mit nichten! Die italienischen Kommunisten werden den Kampf heute und morgen auf dem Boden des Regimes führen, das durch den Sieg Mussolinis geschaffen ist. Die Zersplitterung des italienischen Proletariats schließt für unsere italienischen Genossen die Möglichkeit aus, sich heute den Sturz des Fascismus mit bewaffneter Hand zur unmittelbaren Aufgabe zu machen. Unter sorgfältiger Vorbereitung der Elemente des künftigen bewaffneten Kampfes müssen die italienischen Kommunisten in erster Linie darauf bedacht sein, den Kampf durch umfassende politische Methoden zu entfalten. Ihre vorläufig unmittelbare Aufgabe – und zudem eine Aufgabe von ungeheurer Wichtigkeit – besteht darin, in den plebejischen, insbesondere den proletarischen Teil der Stürze der Fascisten die Keime der Zersetzung zu tragen und immer breitere Massen der Arbeiterschaft unter allgemeinen, wie Teilparolen der Verteidigung und des Angriffs zusammenzuschließen. Durch eine zielklare und elastische Politik können die italienischen Kommunisten den Sturz der Fascisten außerordentlich beschleunigen und dadurch die italienische Bourgeoisie zwingen, ihre Rettung vor der Revolution bei ihren linken Trümpfen zu suchen: bei Nitti oder auch sofort bei Turati. Was würde ein solcher Wechsel für uns bedeuten? Den weiteren Zerfall der bürgerlichen Herrschaft, das weitere Anwachsen der Angriffskräfte des Proletariats, die Stärkung unserer Kampforganisationen, die Schaffung der Vorbedingungen für die Ergreifung der Macht.

Wie liegen die Dinge in Frankreich? Schon am 16. Juni v. J. habe ich in meiner Rede in der Sitzung der Erweiterten Exekutive den Gedanken entwickelt, daß, wenn in Europa und Frankreich die revolutionären Ereignisse nicht früher eintreten, das gesamte parlamentarisch-politische Leben Frankreichs unvermeidlich anfangen wird, sich um die Achse eines „Linksblocks“, als eines Gegengewichtes zum gegenwärtig herrschenden „Nationalen Block“ zu drehen. Nun ist die Revolution im Verlauf dieser 1½ Jahre nicht ausgebrochen, und wer das Leben Frankreichs verfolgt, wird schwerlich leugnen, daß – wenn man die Kommunisten und die revolutionären Syndikalisten ausnimmt – Frankreichs Politik tatsächlich den Weg der Vorbereitung einer Ablösung des Nationalen Blocks durch einen Linksblock geht.

Gewiß steht Frankreich voll und ganz im Zeichen der Offensive des Kapitals, ununterbrochener Drohungen gegen Deutschland usw. Parallel damit wächst aber auch die Kopflosigkeit der bürgerlichen Klassen, insbesondere der Zwischenschichten, ihr Bangen um den nächsten Tag, ihre Enttäuschung hinsichtlich der „Reparationspolitik“, ihr Bemühen, die Finanzkrise durch Herabsetzung der Ausgaben für den Imperialismus zu mildern, ihre Hoffnung auf eine Wiederaufnahme der Beziehungen zu Rußland usw. Diese Stimmungen ergreifen durch Vermittlung der reformistischen Sozialisten und Syndikalisten auch einen bedeutenden Teil der Arbeiterklasse. Mehr noch, sie ergreifen gewisse Elemente unserer eigenen Partei, wofür das Verhalten des kürzlich ausgeschlossenen Baraban, der als Mitglied der Kommunistischen Parteizentrale sich mit der Propagierung eines Linksblocks beschäftigte, ein Beispiel ist. Somit steht also die andauernde Offensive des französischen Kapitals und der französischen Reaktion, durchaus nicht im Widerspruch damit, daß die französische Bourgeoisie ganz offensichtlich eine neue Orientierung vorbereitet.

In England ist die Lage nicht minder lehrreich. Die Herrschaft der liberal-konservativen Koalition ist infolge des Ergebnisses der kürzlich stattgefundenen Wahlen von einer rein konservativen Herrschaft abgelöst worden. Also ein offensichtlicher Schritt „nach rechts“! Andererseits aber beweisen gerade die Ziffern der letzten Wahlen, daß das bürgerlich-reformistische England für den Fall einer weiteren Verschärfung der Gegensätze und eines weiteren Anwachsens der Schwierigkeiten (und das eine wie das andere ist unvermeidlich) sich schon vollkommen auf eine neue Orientierung vorbereitet hat. Für die Konservativen sind weniger als 5½ Millionen Stimmen abgegeben worden, für die Arbeiterpartei, zusammen mit den Unabhängigen Liberalen, fast 7 Millionen. Somit haben die englischen Parlamentswähler sich in ihrer Mehrheit schon heute von den fetten Illusionen des imperialistischen Sieges zu den mageren Illusionen des Reformismus und Pazifismus abgewandt. Bedeutsam ist, daß der „Вund für demokratische Kontrolle“, der eine radikal-pazifistische Organisation darstellt, sein gesamtes Komitee ins Parlament hat hineinbringen können. Gibt es ernsthafte Gründe für die Ansicht, daß das gegenwärtige konservative Regime in England unmittelbar zur Diktatur des Proletariats führen wird? Wir sehen keine derartigen Gründe. Im Gegenteil, wir glauben, daß die ausweglosen wirtschaftlichen, kolonialen und internationalen Gegensätze innerhalb des heutigen Britischen Reiches der plebejisch-kleinbürgerlichen Opposition in Gestalt der sogenannten Arbeiterpartei sehr viel Nahrung zuführen werden. Alles spricht dafür, daß in England, mehr als in jedem anderen Lande der Welt, die Arbeiterklasse vor dem Uebergang zur Diktatur das Stadium einer Arbeiterregierung in Gestalt der reformistisch-pazifistischen Arbeiterpartei durchlaufen muß, die bereits bei den letzten Wahlen ungefähr 4,5 Millionen Stimmen errungen hat.

Aber – entgegnet Genosse Friedländer – bei dieser Perspektive wird vollkommen die deutsche Frage ausgeschaltet. Wieso wird sie ausgeschaltet? Das revolutionäre Deutschland bildet einen der wichtigsten Faktoren der europäischen und der Weltentwicklung, aber nicht den einzigen. Wir alle verfolgen mit größter Aufmerksamkeit die Erfolge unserer deutschen Partei. In ihrer Entwicklung ist nach den Märzereignissen des letzten Jahres eine neue Phase angebrochen. Die Märzereignisse selbst schließen die vorangegangene Phase ab. Die neue Phase begann mit der Kritik, der Märzereignisse, und wer den Sinn und Inhalt dieser neuen Etappe bis jetzt noch nicht begriffen hat, bei dem ist Hopfen und Malz verloren, und es lohnt sich nicht, ernstlich mit ihm zu debattieren. Die Kommunistische Partei Deutschlands wächst, bestimmt und fest. Gleichzeitig zersetzt sich die deutsche Wirtschaft immer mehr.

In welchem Augenblick wird nun die Kreuzung dieser und anderer Faktoren die deutsche Arbeiterklasse zur Machtergreifung führen? In einem Jahre, einem halben, in zwei Jahren? Es ist sehr schwer, Termine vorauszusagen. Wenn Deutschland isoliert dastünde oder nur mit Sowjetrußland an der Seite, würden wir hinsichtlich der Prognose uns für ein halbes Jahr gegenüber einem Jahr, für ein Jahr gegenüber zwei Jahren entscheiden. Nun gibt es aber noch ein Frankreich, gibt es einen Marschall Foch, gibt es ein Italien, dessen Krone Mussolini darstellt, gibt es ein England, mit Bonar Law und Curzon an der Spitze, gibt es eine sich noch entwickelnde Offensive des Kapitals. Alle diese Faktoren üben einen ungeheuren Einfluß auf den Entwicklungsgang der Revolution in Deutschland aus. Das bedeutet selbstverständlich nicht, daß die Kommunistische Partei Deutschlands ihre revolutionären Angriffsaktionen aufschieben müsse, bis die Revolution in Frankreich ausbricht. Von einem derartig platten Opportunismus, von dem Bestreben, die Revolution mit allen Garantien und einer Rückversicherung auf Paris und London zu haben, sind unsere deutschen Genossen unendlich weit entfernt. Doch ist es ganz klar, daß die Drohung einer militärischen Okkupation vom Westen her so lange einen hemmenden Einfluß auf die Entwicklung der deutschen Revolution ausüben wird, bis die Kommunistische Partei Frankreichs zeigt, daß sie fähig und bereit ist, eine solche Gefahr zu paralysieren.

Es ist durchaus nicht ausgeschlossen, daß die deutsche Revolution ausbrechen könnte, bevor noch in Frankreich, England, Italien die Ablösung der gegenwärtigen aggressiv-imperialistischen Regierungen stattgefunden hat. Ganz unzweifelhaft würde der Sieg des deutschen Proletariats der revolutionären Bewegung in allen ändern Europas einen mächtigen Anstoß geben. Aber wie unter dem Einfluß des Antriebs der russischen Revolution in Deutschland nach einem Jahr nicht Liebknecht, sondern Scheidemann zur Macht gelangte, so kann unter dem Einfluß des Antriebs der siegreichen proletarischen Revolution in Deutschland in England Henderson oder Clynes zur Macht gelangen und in Frankreich Caillaux im Bunde mit Blum und Jouhaux. Ein solches menschewistisches Regime wäre in Frankreich unter den gegebenen geschichtlichen Bedingungen nur eine sehr kurze Periode bürgerlicher Agonie. Es ist sogar möglich, daß in Frankreich das kommunistische Proletariat in diesem Falle über die Köpfe der Menschewiki hinweg unmittelbar zur Macht gelangen würde. In England ist das weniger wahrscheinlich. Auf jeden Fall setzt diese Perspektive einen Sieg der Revolution in Deutschland im Laufe der nächsten Monate voraus. Ist der Sieg innerhalb eines solchen Zeitraumes gesichert? Das wird schwerlich jemand im Ernste behaupten wollen. Jedenfalls wäre es ein höchst grober Fehler, unsere Prognose mit einer so einseitigen und bedingten Perspektive zu verknüpfen. Ohne Prognose überhaupt kann es aber keine revolutionäre Politik großen Stils geben. Die Prognose darf nur nicht mechanistisch, sondern muß dialektisch sein. Sie muß die Wechselwirkung der objektiven und subjektiven historischen Kräfte berücksichtigen, was die Möglichkeit eröffnet, mehrere Perspektiven zu entwickeln, je nachdem wie diese Wechselwirkung im lebendigen geschichtlichen Geschehen zutage tritt.

Es liegt also schwerlich ein Grund zu der kategorischen Behauptung vor, die proletarische Revolution in Deutschland würde siegen, bevor noch die inneren und äußeren Schwierigkeiten in Frankreich zu einer Regierungs- und Parlamentskrise geführt hätten. Eine solche Krise würde Neuwahlen bedeuten und Neuwahlen würden zum Siege des Linksblocks führen. Letzterer würde der konservativen Regierung in England einen schweren Schlag versetzen, die Opposition der Arbeiterpartei stärken und sehr wahrscheinlich zu einer Parlamentskrise, zu Neuwahlen und zu einem Siege der Arbeiterpartei, entweder allein oder im Bunde mit den Unabhängigen Liberalen führen. Welchen Einfluß würden diese Ereignisse auf die innere Lage Deutschlands haben? Die deutschen Sozialdemokraten würden sofort aus ihrer halboppositionellen Stellung heraustreten, um dem „Volk“ zur Wiederherstellung friedlicher, normaler und ähnlicher Beziehungen zu den „großen Demokratien des Westens“ ihre Dienste anzubieten. In diesem Sinne gerade sprach ich davon, daß ein Umschwung in der inneren Politik Frankreichs und Englands, wenn er vor einem Siege der Kommunisten in Deutschland erfolge, für eine gewisse Zeit die deutsche Sozialdemokratie beflügeln könne. Scheidemann kann dann wieder zur Macht gelangen. Das würde jedoch schon das direkte Vorspiel einer revolutionären Lösung sein. Denn es ist vollkommen klar, daß die Machtlosigkeit des reformistisch-pazifistischen Regimes unter den gegenwärtigen Verhältnissen Europas nicht erst im Verlaufe von Jahren, sondern schon nach Monaten oder Wochen zutage treten würde.

In seiner Rede zum Programm hat Genosse Thalheimer uns mit vollem Rechte wieder an die Grundprinzipien erinnert, die die Möglichkeit einer Umkehr der kapitalistischen Politik zum Manchestertum, zum pazifistischen Liberalismus und Reformismus ausschließen. Clynes, Caillaux-Blum oder Turati können, wenn sie die Macht haben, keine Politik machen, die sich ihrem Wesen nach von der Politik Lloyd Georges, Bonar Laws, Poincarés und sogar Mussolinis unterscheidet, und sie werden erst dann zur Macht gelangen, wenn die Lage der Bourgeoisie noch kritischer sein wird als jetzt. Ihr voller politischer Bankrott – selbstverständlich auch bei richtiger, d. h. revolutionärer, entschlossener und gleichzeitig elastischer Taktik unsererseits, – kann in sehr kurzer Zeit endgültig offenbar werden. Nach den Illusionen des Krieges und Sieges können die pazifistischen und reformistischen Illusionen und Hoffnungen in dem zerrütteten, endgültig aus den Fugen geratenen kapitalistischen Europa nur kurze Illusionen der bürgerlichen Agonie sein.

Genosse Ravesteyn ist augenscheinlich bereit, all das mit dem einen oder anderen Vorbehalt für den kapitalistischen Plebs anzuerkennen, nicht aber für die kapitalistische Aristokratie, d. h. nicht für die Kolonialmächte. Auf England, Frankreich, Belgien und Holland paßt seiner Ansicht nach die Perspektive des reformistisch-pazifistischen Vorspiels zur proletarischen Diktatur ebenso wenig, wie die Losung der Arbeiterregierung. Genosse Ravesteyn hat vollkommen recht, wenn er die Losung der Arbeiterregierung mit der Tatsache in Verbindung bringt, daß die Bourgeoisie noch eine reformistisch-pazifistische Hilfsquelle – keine materielle, sondern eine ideelle – in Gestalt des noch bestehenden Einflusses der bürgerlich-reformistischen und sozialdemokratischen Parteien zu ihrer Verfügung hat. Aber Genosse Ravesteyn hat vollkommen unrecht, wenn er für die Kolonialmächte irgendwelche Ausnahmen postuliert. Bevor England sich mit bewaffneter Macht auf die russische Revolution stürzte, sandte es seinen Henderson, seinen Buchanan zu Hilfe, um die Resolution auf dem rechten Wege festzuhalten, und man muß sagen, daß Rußland während des Krieges eine englische Kolonie gewesen ist. Genau ebenso verfuhr die englische Bourgeoisie auch mit Indien: erst entsandte sie wohlwollende und liberale Vizekönige, um ihnen gleich darauf Luftgeschwader mit Dynamitbomben nachzuschicken. Die Entwicklung der revolutionären Bewegung in den Kolonien würde ohne allen Zweifel die Machtübernahme durch die englische Arbeiterpartei beschleunigen, obgleich diese die Kolonien stets und ausnahmslos an das englische Kapital verraten hat. Aber ebenso unzweifelhaft ist, daß die weitere Entwicklung der revolutionären Bewegung in den Kolonien parallel mit der proletarischen Bewegung der Metropole den spießbürgerlichen Reformismus und seinen Vertreter – die Arbeiterpartei – für immer begraben wird.

Ein revolutionärer Radikalismus, der es unbedingt nötig hat, zur Aufrechterhaltung seines guten Mutes die lebendige Dialektik der lebendigen Kräfte sowohl in der Oekonomie als auch in der Politik zu ignorieren und seine Prognose mit Lineal und Bleistift zu machen, ist sehr schwankend, sehr unzuverlässig. Es genügt, daß die wirtschaftliche oder politische Konjunktur auf eine Abweichung ihrer Entwicklungsbahn stößt, um ihn den Kopf verlieren zu lassen. Im Grunde genommen verbergen sich hinter diesem Radikalismus Pessimismus und Mißtrauen. Nicht umsonst gehört die eine der kritischen Stimmen einem österreichischen, die andere einem holländischen Kommunisten an. Diese beiden änder sind vorläufig noch keine Revolutionsherde. Der Optimismus der Tat, den die Kommunistische Internationale vertritt, stürzt sich auf breitere und tiefere Grundlagen. Für uns ist die Bourgeoisie kein Stein, der einfach in den Abgrund stürzt, sondern eine lebendige, geschichtliche Kraft, die kämpft, manövriert, bald ihren rechten, bald ihren linken Flügel vorschiebt. Erst dann, wenn wir alle Mittel und Methoden der bürgerlichen Gesellschaft politisch erfassen lernen, um auf sie jedesmal ohne Schwanken und Zögern zu reagieren, erst dann wird es uns gelingen, uns dem Zeitpunkt zu nähern, wo wir mit einer einzigen sicheren Bewegung die Bourgeoisie tatsächlich in den Abgrund schleudern.

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Anmerkung

1. Dieser Aufsatz erschien zuerst in Nr. 20 der Zeitung des 4. Weltkongresses der K. I. Der Bolschewik als Antwort auf einen Aufsatz von P. Friedländer. – Anmerkung des Herausgebers


Zuletzt aktualisiert am 4. Juli 2019