Leo Trotzki

Zwischen Imperialismus und Revolution

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Einleitung

Von dem für die Konferenz in Genua festgesetzten Termin trennen uns – im Augenblick, da diese Zeilen geschrieben werden – weniger als drei Wochen. Welcher Zeitraum uns von der Konferenz selbst trennt, das weiß offenbar noch niemand. Der diplomatische Kampf um die Konferenz ist in engster Weise mit der politischen Agitation um Sowjetrußland verflochten. Zwischen der Diplomatie der Bourgeoisie und ihrer Sozialdemokratie bleibt im Grunde genommen die Arbeitsteilung aufrechterhalten: die Diplomatie betreibt offizielle Intrigen, die Sozialdemokratie macht die öffentliche Meinung gegen die Republik der Arbeiter und Bauern mobil.

Was will die Diplomatie? Dem revolutionären Rußland einen möglichst schweren Tribut auferlegen; es zwingen, möglichst viele Reparationen zu zahlen; die Schranken des Privatbesitzes auf dem Sowjetterritorium möglichst weit spannen; den ausländischen und russischen Finanzleuten, Industriellen und Wucherern möglichst viel Privilegien über die russischen Arbeiter und Bauern verschaffen. Was früher als Deckmantel dieser Forderungen diente – „Demokratie“, „Recht“, „Freiheit“ –, das hat die bourgeoise Diplomatie heute beiseite geworfen, wie der Kaufmann das Packpapier von einem Stück Stoff beiseite wirft, wenn er seine Ware vorzeigen, handeln und nach Arschin abmessen muß.

Aber in der bourgeoisen Gesellschaft geht nichts verloren. Die Papierhülle, genannt „Recht“, geht in die Verfügungsgewalt der Sozialdemokratie über; das ist ihre Ware, sie handelt damit. Die Zweite Internationale – und was von ihr gesagt wird, gilt auch für den Schatten, den sie in Form der Internationale Zweieinhalb nach links wirft – ist aus allen Kräften bemüht, den Arbeitern zu beweisen, daß, da die Sowjetregierung „Hecht“ und „Demokratie“ nicht einhält, die werktätigen Massen Rußlands keine Unterstützung in ihrem Kampfe gegen die Weltwucherer verdienen.

Unsere Nichtachtung in bezug auf „Recht“ und „Demokratie“ haben wir am stärksten, wie bekannt, in der Oktoberrevolution gezeigt. Gerade sie ist ja unsere Erbsünde. Im Laufe der ersten Jahre versuchte die Bourgeoisie, die sozialistische Revolution mit dem Schwerte auszurotten. Jetzt beschränkt sie sich darauf, wesentliche kapitalistische Verbesserungen an ihr vorzunehmen. Der Kampf geht um die Ausmaße derselben.

Die Zweite Internationale möchte jedoch die Konferenz zu Genua für die Wiederherstellung von „Recht“ und „Demokratie“ ausnützen. Man sollte meinen, daß hieraus ein ganz bestimmtes Programm folgen müßte: die „usurpatorische“, „diktatorische“, „terroristische“ Regierung der Sowjets nicht nach Deutschland hereinzulassen, sondern die demokratischen Reliquien der Konstituierenden Versammlung dorthin zu schaffen. Aber eine derartige Behandlung der Frage wäre zu lächerlich und würde sich auch mit den praktischen Schritten der Bourgeoisie kreuzen. Die Zweite Internationale erhebt auch am allerwenigsten auf die Rolle eines verrückten Ritters der Demokratie Anspruch. Sie ist nur ihr Sancho Pansa. Sie wagt die Frage nicht in ihrem vollen Umfange aufzuwerfen. Sie möchte nur ein klein wenig Nutzen daraus ziehen.

Die Losung des Kampfes um einen kleinen demokratischen Nutzen ist gegenwärtig Georgien. Der Sowjetumsturz fand dort erst vor einem Jahre statt. In Georgien hatte die Partei der Zweiten Internationale die Macht in den Händen. Die menschewistische Republik schwankte fortwährend zwischen Imperialismus und proletarischer Revolution hin und her, indem sie bei dem ersteren Schutz suchte oder ihn gegen die letztere unterstützte. Darin besteht aber auch die Bolle der gesamten Zweiten Internationale. Das menschewistische Georgien hat mit seinem eigenen Untergang seine Beziehungen zur Gegenrevolution büßen müssen. Aber auch der Zweiten Internationale droht unvermeidlich das gleiche Schicksal. Was Wunder, wenn der Kampf der internationalen Sozialdemokratie um das „demokratische“ Georgien eine Art von symbolischem Charakter bekommen hat!

Doch haben zugunsten der Prätensionen der georgischen Menschewiki die erfinderischsten Köpfe der Zweiten Internationale kein einziges Argument aufzustellen vermocht, das nicht schon tausendmal von den Verteidigern der „demokratischen“ Rechte, den Miljukow, Kerenski, Tschernow, Martow, ausgenützt worden wäre. Es besteht hier keinerlei prinzipieller Unterschied. Die Sozialdemokraten präsentieren uns jetzt in octavo, was die vereinigte Presse des Imperialismus uns vorher in folio präsentierte. Es ist nicht schwer, sich hiervon zu überzeugen, wenn man den Beschluß des Exekutivkomitees der Zweiten Internationale, Georgien betreffend, zur Hand nimmt.

Der Text des Beschlusses verdient Beachtung. Der Stil ist nicht nur für einen Menschen, sondern auch für eine Partei bezeichnend. Hören wir nun, in welchem politischen Stil die Zweite Internationale mit der proletarischen Revolution spricht:

„I. Das Territorium Georgiens wurde von den Truppen der Moskauer Regierung besetzt, die in Georgien eine Macht aufrechterhält, die seiner Bevölkerung verhaßt ist, und sie erscheint in den Augen des Proletariats der ganzen Welt als die einzige Person, die verantwortlich ist für die Vernichtung der georgischen Republik und für das terroristische Regime, das in diesem Lande errichtet wurde.“

Hat etwa nicht die reaktionäre Presse der ganzen Welt im Laufe von vier Jahren gegenüber der Sowjetföderation als Ganzes dasselbe behauptet? Sprach sie nicht davon, daß die Macht der Sowjets der Bevölkerung Rußlands verhaßt sei und sich nur durch das militärisch-terroristische Regime halte? Hielten wir da nicht Petrograd und Moskau mit Hilfe „lettischer, chinesischer, deutscher und baschkirischer Regimenter“? Verbreitete da Moskau nicht „gewaltsam“ die Sowjetmacht in der Ukraine, in Sibirien, am Don, im Kubangebiet, in Asserbeidshan? Wenn jetzt die Zweite Internationale dem von uns zurückgeschlagenen Gesindel Wort für Wort die gleichen Phrasen, speziell in bezug auf Georgien, nachschwätzt – ändert das dann etwa ihre Natur?

„II. Die Verantwortlichkeit der Moskauer Regierung hat sich nach den kürzlichen Ereignissen in Georgien noch verdoppelt, im besonderen aber nach den Proteststreiks, die von den Arbeitern (?) veranstaltet und mit Gewalt unterdrückt wurden, wie dies von reaktionären Regierungen gemacht wird.“

Ja, die revolutionäre Regierung Georgiens hat die menschewistischen Spitzen der Eisenbahnbürokratie, die Beamten und weißen Offiziere, die keine Zeit mehr zur Flucht hatten, mit Gewalt daran gehindert, die Arbeiter- und Bauernregierung zu sabotieren. Anläßlich dieser Repressalien schreibt Merrheim, ein ziemlich bekannter kümmerlicher Lakai des Imperialismus in Frankreich, von „Tausenden“ von georgischen Bürgern, die ihre Wohnstätten verlassen mußten. „Unter diesen Flüchtlingen“ – wir zitieren ihn wörtlich – „befinden sich eine ungeheure Anzahl von Offizieren, von ehemaligen Beamten der Republik und alle Führer der Volksgarde.“ Das ist gerade jener menschewistische Apparat, der im Laufe von drei Jahren die revolutionären Arbeiter und die sich ununterbrochen auflehnenden georgischen Bauern unterdrückt hat, und der nach dem Sturz der Menschewiki eine bereitwillige Waffe der Restaurationsversuche der Entente blieb. Daß die revolutionäre Regierung Georgiens mit der sabotierenden Bürokratie schroff abgerechnet hat, das geben wir voll und ganz zu. Das gleiche haben wir aber auf dem ganzen Revolutionsterritorium getan. Die Errichtung der Herrschaft der Sowjets in Petrograd und Moskau stieß zu allererst auf den Versuch eines Eisenbahnerstreiks unter der Führung der menschewistisch-sozialrevolutionären Eisenbahnbürokratie. Indem wir uns auf die Arbeiter stützten, sprengten wir diese Bürokratie, säuberten sie und unterstellten sie der Macht der Werktätigen. Das reaktionäre Gesindel der ganzen Welt erhob aus diesem Anlaß ein Geschrei über unseren barbarischen Terrorismus. Das gleiche Wehgeschrei wird jetzt nach dem Muster des reaktionären Gesindels, nur in bezug auf Georgien, von den sozialdemokratischen Führern wiederholt. Wo ist denn da eine Veränderung eingetreten?

Ist es aber nicht verblüffend, daß die sozialdemokratischen Führer überhaupt ihre Zunge rühren können, um von einer Unterdrückung der Arbeiterstreiks durch Gewalt als von einer Methode des Vorgehens „reaktionärer Regierungen“ reden zu können? Oder wissen wir etwa nicht, wer der Zweiten Internationale angehört? Noske und Ebert sind ihre führenden Mitglieder. Oder sind sie etwa ausgeschlossen worden? Wieviel Arbeiterstreiks und Aufstände haben sie unterdrückt? Sind sie etwa nicht die Henker von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht? Oder ist es nicht der Sozialdemokrat Hörsing, ein Mitglied der Zweiten Internationale, der die Märzbewegung in Deutschland provoziert hat, um sie im Flut zu ertränken? Und wie steht es mit den letzten, den allerneuesten Maßnahmen des Sozialdemokraten Ebert gegen den Eisenbahnerstreik in Deutschland?

Oder sieht etwa das Exekutivkomitee von London aus nicht, was auf dem Kontinent vorgeht? In diesem Falle sei es uns aber gestattet, Henderson ehrerbietigst zu fragen, ob er nicht Geheimer Rat der Krone während des Osteraufstandes in Irland im Jahre 1916 war, als die königlichen Truppen Dublin zerstörten und 15 Irländer erschossen, darunter den Sozialisten Connolly, der vorher bereits verwundet war? Hat vielleicht Vandervelde, der ehemalige Vorsitzende der Zweiten Internationale, der kleine geheime Rat einer kleinen Krone, die russischen Sozialisten während des Krieges nicht aufgefordert, sich mit dem Zarismus auszusöhnen, der bis zum Hals im Flute der Arbeiter und Bauern watete und bald in ihm ertrank? Müssen wir die Beispiele noch vermehren? Wahrlich, den Führern der Zweiten Internationale steht die Verteidigung des Streikrechts ebenso zu Gesichte wie Judas Ischariot das Predigen der Treue.

„III. In jenem Augenblick, da die Moskauer Regierung ihre Anerkennung durch die andern Staaten verlangt, müßte sie, wenn sie will, daß ihre eigenen Rechte beachtet werden sich mit der gleichen Achtung zu den Rechten anderer Völker verhalten und nicht die elementaren Prinzipien verletzen, auf denen der Verkehr zwischen zivilisierten Völkern beruhen soll.“

Der politische Stil ist bezeichnend für die Partei, für ihre Seele. Der letzte Punkt ist die höchste Errungenschaft der Zweiten Internationale. Wenn Sowjetrußland Anerkennung (durch wen?) erreichen will, so muß es mit der gleichen Achtung (was für einer denn?) sich zu den Rechten anderer Völker verhalten und nicht – dies merke man sich – die elementarsten Prinzipien verletzen, auf denen der Verkehr zwischen zivilisierten Völkern beruhen soll (soll!).

Wer hat dies geschrieben? Wir würden sagen, daß dies Longuet selbst geschrieben hat, wenn er nicht in die Internationale Nummer 2½ übergesiedelt wäre. Vielleicht ist es Vandervelde, der scharfsinnige Jurist der belgischen Krone? Oder Mister Henderson, inspiriert von seiner eigenen Sonntagspredigt in der religiösen Versammlung der „Bruderschaft“? Oder vielleicht Ebert in seinen Mußestunden? Es ist geradezu notwendig, dies für die Geschichte des Autors der unvergleichlichen Resolution festzustellen. Wir zweifeln natürlich nicht daran, daß der Geist der Zweiten Internationale kollektiv gearbeitet hat. Wer aber war der erwählte Kanal, durch den das Eitergeschwür dieses Kollektivgedankens zum Durchbruch gelangt ist?

Doch kehren wir zum Text zurück. Um von den bourgeoisen, imperialistischen, sklavenhälterischen Regierungen (um sie gerade handelt es sich!) anerkannt zu werden, muß die Sowjetregierung „die Prinzipien nicht verletzen“ und mit der gleichen Achtung „sich zu den Hechten anderer Völker verhalten“. Mit welcher ... ja mit welcher „Achtung“ denn eigentlich?

Vier Jahre lang haben die imperialistischen Regierungen den Versuch gemacht, uns zu stürzen. Sie haben uns nicht gestürzt. Ihre ökonomische Situation ist hoffnungslos. Ihr gegenseitiger Kampf hat sich bis zum äußersten zugespitzt. Sie sahen sich genötigt, zu Sowjetrußland in Beziehungen zu treten, um seiner Rohstoffe, seines Marktes und der Zahlungen willen. Indem Lloyd George hierzu aufforderte, erklärte er Briand, daß die internationale Moral ein Einvernehmen nicht nur mit den Räubern des Ostens (Türkei), sondern auch mit den Räubern des Nordens (Sowjetrußland) zuläßt. Ueber das saftige Wort Lloyd Georges sind wir nicht gekränkt. In dieser Frage nehmen wir seine offenherzige Formel voll und ganz an. Ja, wir halten es für möglich, für zulässig und für notwendig – innerhalb gewisser Grenzen –, uns auch mit den imperialistischen Räubern sowohl des Westens, als auch des Ostens in Kompromisse einzulassen.

Indem ein Kompromiß uns Verpflichtungen auferlegt, muß es zu gleicher Zeit unsere Feinde zwingen, auf bewaffnete Angriffe gegen uns zu verzichten. Das ist die Bilanz des vierjährigen offenen Kampfes, soweit sie sich vorläufig übersehen läßt. Zwar ist es richtig, daß auch die bourgeoisen Begierungen eine Anerkennung „der elementaren Prinzipien, auf denen der Verkehr zwischen zivilisierten Völkern beruhen soll“, verlangen. Aber diese Prinzipien haben nichts mit den Fragen der Demokratie und der nationalen Selbstbestimmung gemein. Man verlangt von uns in trockenem Tone, daß wir die Schulden anerkennen sollen, die der Zarismus gemacht hat zur Unterdrückung eben desselben Georgiens, Finnlands, Polens, aller Bandgebiete und der werktätigen Massen von Großrußland selbst. Man verlangt von uns auch noch eine Ersetzung der Verluste der privaten Kapitalisten, die unter der Revolution zu leiden hatten. Es kann nicht geleugnet werden, daß die proletarische Revolution für mancher Leute Taschen und Geldbeutel verlustbringend war, jener Leute, die sich selbst für das Allerheiligste jener Prinzipien halten, auf denen „der Verkehr zwischen den zivilisierten Völkern beruht“. Hiervon wird in Genua und an anderen Orten die Bede sein. Von welchen Prinzipien aber sprechen eigentlich die Führer der Zweiten Internationale? Etwa von den räuberischen Prinzipien des Versailler Friedens, die vorläufig die gegenseitigen Beziehungen der Staaten bestimmen, d. h. von den Prinzipien Clémenceaus, Lloyd Georges und des Mikado? Oder sprechen sie in ihrer listig ausweichenden Sprache von jenen Prinzipien, auf denen der Verkehr zwischen den Völkern wohl beruhen soll, aber nicht beruht? Warum stellen sie diese dann als Bedingungen unserer Aufnahme in die ehrwürdige „Familie“ der heutigen imperialistischen Staaten auf? Oder wollen sie, daß wir noch heute die Waffen strecken und dem Imperialismus das Feld räumen, und gehen hierbei aus von Erwägungen darüber, wie morgen die gegenseitigen Beziehungen der Völker zueinander sein werden? Wir haben aber einen solchen Versuch vor dem Angesicht der ganzen Welt gemacht. Während der Brest-Litowsker Verhandlungen haben wir unsere Entwaffnung offen vorgenommen. Hat das etwa den deutschen Militarismus davon zurückgehalten, in unsere Grenzen einzufallen? Und hat da vielleicht die deutsche Sozialdemokratie, die Stütze der Zweiten Internationale, die Fahne des Aufstandes erhoben? Nein, sie blieb die Regierungspartei des Hohenzollern.

In Georgien regierte die kleinbürgerliche Partei der Menschewiki. Heute regiert dort die Partei der georgischen Bolschewiki. Die Menschewiki stützten sich auf die materielle Hilfe des europäischen und des amerikanischen Imperialismus. Die georgischen Bolschewiki stützen sich auf die Hilfe Sowjetrußlands. Auf Grund welcher Logik will dann die sozialdemokratische Internationale den Friedensschluß zwischen der Sowjetföderation und den kapitalistischen Ländern von der Bedingung der Wiedererstattung Georgiens an die Menschewiki abhängig machen!

Die Logik ist schlecht, das Ziel aber ist klar. Die Zweite Internationale wollte und will den Sturz der Sowjetmacht. Sie hat in dieser Dichtung alles in ihren Kräften liegende getan. Diesen Kampf hat sie gemeinsam mit dem Kapital unter der Fahne der Demokratie gegen die Diktatur geführt. Die Arbeitermassen Europas haben sie aus dieser Stellung zurückgeschlagen, indem sie ihr nicht gestatteten, offen gegen die Sowjetrepublik zu kämpfen. Jetzt hat die Sozialdemokratie, indem sie Georgien als Deckung benutzt, den Kampf erneuert.

Die werktätigen Massen der ganzen Welt haben sofort das Streben an den Tag gelegt, die russische Revolution als Ganzes zu nehmen, und hierin stimmt ihr revolutionärer Instinkt, nicht zum ersten Mal, mit der obersten theoretischen Vernunft überein, die uns lehrt, daß man die Revolution mit ihrem Heroismus und ihren Grausamkeiten, dem Kampf um die Persönlichkeit und dem Zertreten der Persönlichkeit, nur aus der materiellen Logik ihrer inneren Beziehungen heraus verstehen kann, nicht aber auf dem Wege der Bewertung ihrer einzelnen Teile und Episoden nach der Preisliste des Rechtes, der Moral oder Aesthetik. Der erste große theoretische Kampf, den der Kommunismus zum Schutze des revolutionären Rechtes der Diktatur und ihrer Methoden geliefert hat, hat seine Früchte getragen. Die Sozialdemokraten haben endgültig von den Methoden des Marxismus und sogar von seiner Phraseologie Abschied genommen. Die deutschen Unabhängigen, die italienischen Sozialisten und ihresgleichen haben, von ihren eigenen Arbeitern in die Enge getrieben, die Diktatur „anerkannt“, um um so deutlicher ihre Unfähigkeit zu zeigen, für sie zu kämpfen. Die kommunistischen Parteien sind gewachsen und zu einer Macht geworden. Aber in der Entwicklung der proletarischen Revolution hat sich eine starke Verzögerung gezeigt. Ihr Sinn und ihre Bedeutung sind von dem Dritten Kongreß der Kommunistischen Internationale deutlich genug aufgezeigt worden. Die Kristallisierung des revolutionären Bewußtseins, in Form des Wachstums der kommunistischen Parteien, war begleitet von einer. Ebbe der elementar revolutionären Stimmungen der ersten Nachkriegsperiode. Die bourgeoise öffentliche Meinung ist wieder zum Angriff übergegangen. Ihre Hauptaufgabe bestand darin, den Revolutionsrausch zu vernichten oder wenigstens zu trüben.

Es begann eine grandiose Arbeit, in der die grobe und schreiende Lüge der Bourgeoisie viel weniger Nutzen gebracht hat, als die sorgfältig ausgewählten Wahrheitssplitter. Durch den Kundschafterdienst ihrer Zeitungen hat sich die Bourgeoisie durch die Hinterhöfe an die Revolution herangemacht. Wißt ihr, was eine proletarische Republik ist? Das sind Lokomotiven, die an Asthma leiden, das sind Typhusläuse, das ist die Tochter eines bekannten ehrwürdigen Advokaten in einer ungeheizten Wohnung, das ist der Menschewik im Gefängnis, das sind ungereinigte Aborte. Das also ist die Revolution der Arbeiterklasse! Die bourgeoisen Journalisten haben der ganzen Welt die Sowjetlaus durch das Mikroskop gezeigt. Mistreß Snowden hat es nach ihrer Rückkehr von der Wolga an die Themse vor allem für ihre Pflicht gehalten, sich öffentlich zu jucken. Das ist beinahe zu einer Zeremonie geworden, vermittelst derer die Vorzüge der Zivilisation vor dem Barbarentum symbolisiert werden. Doch wird hiermit die Frage noch nicht erschöpft. Die Herren Informatoren der bourgeoisen öffentlichen Meinung sind an die Revolution – von hinten herangetreten, zudem mit einem Mikroskop bewaffnet. Einige Einzelheiten haben sie mit großer, sogar übermäßiger Sorgfalt betrachtet. Das aber, was sie betrachtet haben, ist nicht die Revolution des Proletariats.

Doch ist schon die Uebertragung der Frage in die Ebene unserer wirtschaftlichen Schwierigkeiten und der unsere Lebensweise betreffenden Unordnungen ein Schritt vorwärts. Von den eintönigen und nicht sehr gescheiten Gesprächen über die Vorzüge der Konstituierenden Versammlung im Vergleich zur Macht der Sowjets ist die bourgeoise öffentliche Meinung gewissermaßen zum Verstehen dessen übergegangen, daß wir existieren, die Konstituierende Versammlung aber nicht existiert und nicht existieren wird. Die sachlichen Anklagen gegen die Transportstörungen und andere Unordnungen kamen in gewisser Weise der Anerkennung der Sowjets de facto gleich und gingen zudem in derselben Richtung wie unsere eigenen Beunruhigungen und Bemühungen. Anerkennung bedeutet aber unter keinen Umständen Versöhnung. Sie bedeutet nur, daß an die Stelle des mißglückten entschiedenen Angriffes der Stellungskrieg getreten ist. Wir erinnern uns immer noch daran, wie während des großen Schlachtens an der deutsch-französischen Front der Kampf sich zuweilen plötzlich um irgendeine „Waldwärterhütte“ konzentrierte. Im Laufe einer Reihe von Wochen wurde die Hütte täglich in den Berichten der Stäbe erwähnt. Im Grunde genommen bedeutete der Kampf um die Hütte nur einen Versuch, die zum Stillstand gekommene Front zu durchbrechen oder wenigstens dem Feinde möglichst viel Schaden zuzufügen.

Indem die bourgeoise öffentliche Meinung den Krieg gegen uns auf Leben und Tod weiterführte, klammerte sie sich natürlicherweise an Georgien, gleichsam wie an jene „Waldwärterhütte“, die im gegenwärtigen Stadium des Stellungskampfes an der Reihe war. Lord Korthcliffe, Huysmans, Gustave Hervé, die regierenden rumänischen Banditen, Martow, der Royalist Léon Daudet, Mistreß Snowden und ihre Schwägerin, Kautsky und sogar Frau Luise Kautsky (siehe Wiener Arbeiterzeitung) – kurz, alle Geschützkaliber, über die die bourgeoise öffentliche Meinung verfügt, haben sich zum Schutze des demokratischen, loyalen, strikt neutralen Georgiens vereinigt.

Und nun beobachten wir einen auf den ersten Blick unerklärlichen Rückfall in die Raserei: alle jene Beschuldigungen – politische, rechtliche, moralische, strafrechtliche –, die früher gegen das Sowjetsystem als Ganzes gerichtet wurden, werden jetzt gegen die Sowjetmacht in Georgien mobilgemacht. Es stellt sich heraus, daß gerade hier, in Georgien, die Sowjets den Volkswillen nicht zum Ausdruck bringen. Und wie ist es in Großrußland? Ist denn die Sprengung der Konstituierenden Versammlung durch „lettische und chinesische Regimenter“ schon vergessen? Ist denn nicht schon längst bewiesen, daß, da wir nirgends bodenständig sind, wir überall „von außen her“ (!!!) eine bewaffnete Macht einführen und die allersolidesten demokratischen Regierungen mit all ihrer Bodenständigkeit zum Tempel hinausfegen? Gerade damit fingen Sie doch an, meine Herren! Gerade deshalb prophezeiten Sie den Sturz der Sowjets nach einigen Wochen: sowohl Clémenceau zu Beginn der Versailler Verhandlungen, als auch Kautsky zu Beginn der deutschen Revolution. Warum aber ist jetzt nur von Georgien die Rede? Darum etwa, weil Dschordania und Zeretelli in der Emigration leben? Was aber ist mit den andern: den Mussavatisten aus Asserbeidshan, den armenischen Daschnaken, der kubanischen Rada, dem Donkreis, den ukrainischen Petljuraleuten, den Martow und Tschernow, den Kerenski und Miljukow? Warum wird den georgischen Menschewiki ein solcher Vorzug vor denen aus Moskau gewährt? Für die georgischen Menschewiki verlangen sie Wiederherstellung der Macht, für die Moskauer nur eine Veränderung der Behinderungsmaßnahmen. Das ist nicht sehr logisch, das politische Ziel aber ist nur allzu deutlich. Georgien ist ein neuer Anlaß für eine neue Mobilmachung der Feindschaft und des Hasses gegen uns in dem in die Länge gezogenen Stellungskrieg. Das sind die Gesetze des Erschöpfungskrieges. Unsere Gegner wiederholen in octavo dasselbe, womit sie in folio ein Fiasko erlitten haben.

Dadurch wird in bedeutendem Maße der Inhalt und Charakter unserer Arbeit bestimmt. Wir mußten von neuem jene Fragen durchnehmen, die bereits ihre prinzipielle Auslegung gefunden haben, im besonderen im ersten Teile „Terrorismus und Kommunismus“. Wir strebten diesmal danach, möglichste Konkretheit zu erreichen. Die Aufgabe bestand darin, an einem Einzelbeispiel die Wirkung der Hauptkräfte unserer Epoche zu zeigen. An der Geschichte des „demokratischen“ Georgiens versuchten wir die Politik der regierenden sozialdemokratischen Partei zu verfolgen, die genötigt war, ihren Weg zwischen Imperialismus und proletarische Revolution zu legen. Wir wollen hoffen, daß gerade die detaillierte Konkretheit der Darstellung es uns ermöglicht hat, die inneren Probleme der Revolution, ihre Bedürfnisse und ihre Schwierigkeiten dem Verständnis eines Lesers näher gebracht zu haben, der keine direkte revolutionäre Erfahrung hat, aber daran interessiert ist, sich solche zu erwerben.

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Wir verweisen im Text nicht immer auf die Quellenangaben: das wäre für den Leser, besonders den ausländischen, zu ermüdend, da es sich um russische Ausgaben handelt. Jene, die unsere Zitate nachprüfen und sich vollständigere dokumentarische Daten verschaffen wollen, verweisen wir auf folgende Broschüren: Dokumente und Materialien zur Außenpolitik Transkaukasiens und Georgiens, Tiflis 1919; Die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik und die Georgische Demokratische Republik und ihre gegenseitigen Beziehungen, Moskau 1922; Macharadse: Die Diktatur der menschewistischen Partei in Georgien, Moskau 1921; Meschtscherjakow: Im menschewistischen Paradies, Moskau 1921; J. Schafir: Der Bürgerkrieg in Rußland und das menschewistische Georgien, Moskau 1921; vom gleichen Verfasser: Die Geheimnisse des menschewistischen Reichs, Tiflis 1921. Die zwei letzten Broschüren beruhen auf der Verarbeitung eines Teiles der Materialien, die von der Spezialkommission der Kommunistischen Internationale in Georgien und in der Krim gefunden wurden. Außerdem benutzten wir die Archive der Volkskommissariate für auswärtige Angelegenheiten und für Militärwesen.

Unsere Darlegung, ebenso wie unsere Quellen können auch nicht im entferntesten auf Vollständigkeit Anspruch erheben. Die wertvollsten Materialien sind für uns unzugänglich: das sind die von der ehemaligen menschewistischen Regierung über die Grenze geschafften kompromittierendsten Dokumente, ebenso wie die Archive der entsprechenden Institutionen Großbritanniens und Frankreichs, beginnend vom November 1918.

Wenn man diese Dokumente gewissenhaft sammeln und herausgeben wollte, so würde sich ein sehr lehrreiches Lesebuch für die Führer der Internationale 2 und 2½ ergeben. Bei aller Schwierigkeit der Finanzlage der Sowjetrepublik würde ihre Regierung zweifellos die Unkosten ihrer Herausgabe auf sich nehmen. Es braucht gar nicht erwähnt zu werden, daß sie sich unter der Bedingung der Gegenseitigkeit verpflichten würde, für eine ebensolche Ausgabe alle jene Dokumente der staatlichen Sowjetarchive ohne Ausnahme zu übergeben, die sich auf Georgien beziehen. Wir befürchten sehr, daß unser Vorschlag nicht angenommen werden wird. Run, so werden wir warten müssen, bis sich andere Wege finden, um das Geheime offenbar zu machen. Schließlich wird ein solcher Tag kommen.

Moskau, 20. Februar 1922

Leo Trotzki


Zuletzt aktualisiert am 3. Juli 2019