Leo Trotzki

Zwischen Imperialismus und Revolution

* * *

„Strikteste Neutralität“

Kautsky, Vandervelde, Henderson, kurz, die internationale Mistreß Snowden, leugnen kategorisch die Zusammenarbeit des menschewistischen Georgiens mit den russischen und ausländischen Gegenrevolutionären. Darin liegt aber der Kern der ganzen Frage. Während des erbitterten Krieges Sowjetrußlands gegen die Weißgardisten, die der ausländische Imperialismus unterstützte, soll das demokratische Georgien angeblich Neutralität bewahrt haben. Und zwar nicht einfach Neutralität, schreibt der glückselige Kautsky, sondern „strikteste Neutralität“. Man könnte daran zweifeln, selbst wenn uns die Tatsachen unbekannt wären. Wir kennen sie aber. Wir wissen nicht nur, daß die georgischen Menschewiki sich an allen Ränken gegen die Republik der Sowjets beteiligten, sondern wissen auch, daß das unabhängige Georgien selbst geschaffen worden ist als eine Waffe im imperialistischen Kriege und im Bürgerkrieg gegen das Arbeiter- und Bauernrußland. Wir haben das bereits aus der vorhergehenden Darlegung gesehen. Aber der glückselige Kautsky möchte hiervon garnichts hören. Aber Mistreß Snowden ist empört. Aber Macdonald lehnt mit Unwillen die „dummen Beschuldigungen“ ab. Macdonald schreibt auch wörtlich: ,,Dumme Beschuldigungen“, denn er ist sehr böse. Und Macdonald ist zwar kein Brutus, aber ein „ehrenwerter Mann“. Doch gibt es Tatsachen, Dokumente, Protokolle, denen man mehr Glauben schenken muß als den sogenannten ehrenwerten Leuten.

Am 25. September 1918 fand eine offizielle Beratung der Vertreter der georgischen Republik, der Kubanregierung und der Freiwilligenarmee statt. Als Vertreter dieser letzteren traten die Generale Alexejew, Denikin, Romanowski, Dragomirow, Lukomski, der bekannte Monarchist Schulgin u. a. auf – ihre Namen sprechen eine beredte Sprache. General Alexejew eröffnete die Beratung mit den Worten:

„Im Namen der Freiwilligenarmee und der Kubanregierung begrüße ich die Vertreter des uns befreundeten, durch E. P. Gegetschkori und General G. J. Masniew vertretenen Georgiens.“

Die befreundeten Parteien hatten ihre Meinungsverschiedenheiten; die wichtigste bezog sich auf den Bezirk Sotschinsk. Als Gegetschkori die Meinungsverschiedenheiten schlichtete, sagte er:

„Wohin anders, wenn nicht nach Georgien, begannen während der Verfolgungen, denen die Offiziere in Rußland ausgesetzt waren, von allen Enden Rußlands die Offiziere zusammenzuströmen? Und wir nahmen sie auf, teilten mit ihnen alles aus unseren dürftigen Mitteln, zahlten ihnen Gehalt, ernährten sie und taten alles, um innerhalb der Grenzen unserer eigenen bedrückten Lage ihnen zu helfen ...“

Schon diese Worte können manche Bedenken hinsichtlich der „Neutralität“ Georgiens im Kriege der Arbeiter gegen die Zarengenerale erwecken. Aber Gegetschkori selbst beeilt sich, diesen Bedenken den Charakter voller Unzweifelhaftigkeit zu verleihen.

„Ich halte es für meine Pflicht, Sie daran zu erinnern – sagt er ferner zu Alexejew, Denikin u. a. –, daß man auch nicht vergessen darf, was für einen Dienst wir Ihnen im Kampfe gegen den Bolschewismus erwiesen haben, und daß Sie diese Unterstützung ebenfalls berücksichtigen müssen.“

Wie es scheint, sind sie klar, diese Worte Gegetschkoris, des Ministers für auswärtige Angelegenheiten des demokratischen Georgiens, eines der Führer der menschewistischen Partei. Oder benötigt Herr Macdonald vielleicht Kommentare? Diese gibt der zweite Vertreter Georgiens, Masniew, der sofort hinzufügt:

„Die Offiziere sind fortwährend aus Tiflis zu Ihnen (zu Alexejew und Denikin) unterwegs, und ich unterstütze sie auf ihrem Wege in jeder Weise. Das kann auch General Ljachow bestätigen. Es wird ihnen Geld in den Standquartieren ausgehändigt, sie werden verpflegt usw., und das alles unentgeltlich. Gemäß Ihrer Bitte sammelte ich die Offiziere, die sich in Sotschinsk, Gagry, Suchum befanden, und forderte sie auf, in die Reihen Ihrer Truppen einzutreten ...“

Kautsky garantiert für die Neutralität, und zwar für strikteste Neutralität. Macdonald bezeichnet die Hinweise auf jene Dienste, die die Menschewiki den Weißen im Kampfe gegen die Bolschewiki erwiesen, einfach als „dumme Beschuldigungen“. Aber wir müssen doch sagen, daß der ehrenwerte Mann zu voreilig schimpft. Unsere Beschuldigungen werden durch Tatsachen bestätigt. Die Tatsachen überführen Macdonald. Die Tatsachen bestätigen, daß gerade wir die Wahrheit sagen, nicht aber die internationale Mistreß Snowden.

Das ist aber noch nicht alles. Indem Gegetschkori zu beweisen bemüht ist, daß die Weißgardisten dadurch, daß sie den Bezirk Sotschinsk zeitweilig an Georgien abgetreten haben, nichts verlieren, um so mehr, da ihre Hauptaufgabe in der Bewegung nach Norden gegen die Bolschewiki besteht, sagt er:

„Wenn tatsächlich in der Zukunft, woran ich nicht zweifle, ein neues Rußland geschaffen werden wird, so wird sich für uns vielleicht nicht nur die Frage der Rückgabe des Bezirks Sotschinsk, sondern werden sich auch viel wichtigere Fragen erheben, und es muß dies von Ihnen berücksichtigt werden.“

Diese Worte enthüllen den Sinn der Selbständigkeit Georgiens: sie ist nicht „nationale Selbstbestimmung“, sondern eine strategische Maßnahme im Kampf gegen den Bolschewismus. Wenn Alexejew und Denikin ein „neues Rußland“ erstehen lassen werden – woran Gegetschkori „nicht zweifelt“ –, so wird sich für die georgischen Menschewiki die Frage der Zurückgabe nicht nur des Bezirkes Sotschinsk, sondern ganz Georgiens in den Schoß des einigen Rußlands erheben. So also sieht diese „strikteste Neutralität“ aus.

Da Gegetschkori aber immer noch gewissermaßen Angst hat, daß in einigen feuerfesten Schädeln irgendwelche Zweifel bestehen bleiben könnten, so schießt er mit den Worten:

„In der Frage über das Verhältnis zu den Bolschewiki kann ich erklären, daß der Kampf gegen den Bolschewismus innerhalb unserer Grenzen ein erbarmungsloser ist. Mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln unterdrücken wir den Bolschewismus als eine gegen den Staat gerichtete Bewegung, die die Unversehrtheit unseres Staates gefährdet, und ich denke, daß wir in dieser Hinsicht schon eine Reihe von Beweisen geliefert haben, die für sich selbst sprechen.“

Diese Worte bedürfen auf jeden Fall keiner Erläuterung mehr!

Woher aber sind solche intimen Gespräche bekannt? Sie sind protokolliert und gedruckt. Sind diese Protokolle aber nicht falsch? Wohl kaum. Sie sind von der georgischen Regierung selbst in Form eines Buntbuches herausgegeben unter dem Titel Dokumente und Materialien zur Außenpolitik Transkaukasiens und Georgiens, Tiflis 1919. Die zitierten Protokolle sind auf Seite 391 bis 414 abgedruckt. Da Gegetschkori Minister für auswärtige Angelegenheiten war, so hat er folglich seine Gespräche mit Alexejew und Denikin selbst gedruckt. Zur Entschuldigung Gegetschkoris muß man sagen, daß er damals noch nicht voraussah, daß Kautsky und Macdonald bei der Ehre der Zweiten Internationale die Neutralität des menschewistischen Georgiens würden beschwören müssen. Nicht nur in diesem Falle, sondern auch in vielen anderen Fällen wäre die Lage der ehrenwerten Leute von der Zweiten Internationale eine viel leichtere, wenn es in der Welt keine Stenographie und keine Buchdruckerkunst gäbe.

Damit uns der politische Sinn der Erklärungen Gegetschkoris in seinem Gespräch mit Denikin vollständig klar werde, muß man daran erinnern, welches die militärisch-politische Situation Sowjetrußlands im September 1918 war. Man nehme eine Karte zur Hand. Es ist der Mühe wert. Unsere Westgrenze verlief zwischen Pskow und Nowgorod. Pskow, Minsk und Moghilew befanden sich in den Händen des Prinzen Leopold von Bayern. Die deutschen Prinzen hatten aber damals noch etwas in der Welt zu bedeuten! Ebenfalls von den Deutschen, die zum Schutze der Demokratie gegen die Bolschewiki zu kommen aufgefordert waren, war die ganze Ukraine besetzt. Während sich die Vorhut der Heeresgruppe des Generals von Kirbach in Odessa und Sebastopol befand, reichte die Nachhut fast bis Kursk und Woronesh. Die Donkosaken bedrohten Woronesh von Südosten. In ihrem Rücken, im Kubangebiet, formierte sich die Armee Alexejew-Denikins. Im Kaukasus herrschten die Türken und die Deutschen. Das sowjetistische Astrachan hing nur noch an einem dünnen Faden. Nach Korden zu war die Wolga an zwei Stellen gesperrt durch die Kosaken bei Zarizyn und durch die Tschechoslowaken bei Samara. Die ganze Südhälfte des Kaspischen Meeres befand sich bereits in den Händen der Weißen unter dem Kommando englischer Marineoffiziere; die Nordhälfte wurde uns im nächsten Jahre entrissen. Im Osten führten wir gegen die Tschechoslowaken und die Weißen Krieg, die das Land am linken Ufer der Wolga, den Ural und Sibirien besetzt hielten. Im Norden herrschte die Entente; in ihren Händen befand sich Archangelsk und das ganze Ufer des Weißen Meeres. Die Nordhälfte der Murmanbahn war von den englisch-französischen Landungstruppen besetzt worden. Das Finnland Mannerheims hing drohend über Petrograd, das von drei Seiten her im Halbkreise von Feinden umzingelt war. Unsere Armee aber formierte sich erst unter den Schlägen.

Unter diesen Umständen berichten die offiziellen Vertreter des menschewistischen Georgiens den Organisatoren der Freiwilligenarmee, daß Georgien die weißen Offiziere vor den bolschewistischen Verfolgungen rettet; daß es sie unentgeltlich unterhält; daß es unter ihnen Freiwillige anwirbt und sie zu Alexejew-Denikin schickt; schließlich, daß es „erbarmungslos“ gegen den Bolschewismus kämpft, indem es ihn „mit allen verfügbaren Mitteln“ unterdrückt.

Gegetschkori hat nicht geprahlt und hat seine Verdienste um die Gegenrevolution nicht übertrieben. Er und seine Freunde haben tatsächlich alles getan, was sie konnten. Man konnte natürlich nicht von ihnen verlangen, daß sie eine ernsthafte bewaffnete Macht als Hilfe für die Weißen aufstellten, da sie selbst deutsche Truppen für den Kampf gegen die innere „Anarchie“ verwenden mußten. Ihre realen Ressourcen waren viel geringer als ihr guter Wille zur Gegenrevolution. Nichtsdestoweniger haben sie, an jenem Moment gemessen, den weißgardistisehen militärischen Organisationen ungeheure Dienste erwiesen. Das auf georgischem Territorium befindliche, von den Menschewiki in Besitz genommene Millionenvermögen der kaukasischen Armee haben sie in sehr bedeutendem Maße für die Erteilung materieller Unterstützung an die Weißen verwendet : an die Don-, Kuban- und Terek-Kosaken, an die tschetschenischen Offiziere, an die Abteilungen von Heimann und Philimonow, an die Freiwilligen-Armee Alexejew-Denikins u. a. Diese Hilfe war in jenem Moment für die bourgeois-gutsherrlichen Abteilungen im Kaukasus von um so größerer Bedeutung, als diese noch fast nichts von außen her erhielten. Da das Zusammenarbeiten des menschewistischen Georgiens mit den Gegenrevolutionären aller Schattierungen tagtäglich stattfand und nur zufällig protokolliert wurde, so wäre es schwer, heute eine zusammenhängende Geschichte dieses Zusammenarbeitens zu schreiben, um so mehr, da die wertvollsten Archive von den Menschewiki ins Ausland geschafft worden sind. Aber selbst jene vereinzelten und zufälligen Dokumente, die in den Kanzleien von Tiflis zurückgeblieben waren, genügen vollständig, um selbst im Kopfe des verknöchertsten Notars nicht einmal den Schatten eines Zweifels zurückzulassen in bezug auf die Neutralität Georgiens. —

Die Verhandlungen und die gemeinsame militärische Arbeit mit den Organisatoren der Freiwilligen-Armee beginnen bereits im Juni 1918, wenn nicht schon am ersten Tage der Selbständigkeit Georgiens. Einige rein militärische Operationen (z. B. der Vormarsch auf das Kosakendorf Goworischtschenskaja) wurden von Georgien auf Ersuchen der Kubanregierung unternommen, die gemeinsam mit den „Freiwilligen“ vorging. General Heimann, der gegen die Bolschewiki von dem Kosakendorf Dagestanskaja vorrückte, erhielt von dem uns bereits bekannten General Masniew, der in georgischem Dienste stand, 600 Gewehre, 2 Maschinengewehre und Patronen. Dem General Maslowski wurde von Georgien ein Panzerzug in Tuapse übergeben, wo dieser General, der ebenso wie Heimann in Alexejews Dienst stand, gemeinsam mit dem menschewistischen Kommando operierte. Gegetschkori hat unter anderem auch diese Tatsachen im Auge gehabt, als er Alexejew und Denikin an die Hilfe von seiten Georgiens erinnerte.

Im Oktober 1918, d. h. bald nach der uns bekannten Beratung Gegetschkoris und Denikins, lieferte die georgische Regierung der Donregierung, die sich im Krieg gegen die Sowjettruppen befand, ein bedeutendes Quantum Intendanturvermögen. [1] Am 3. November 1918 meldete der in georgischem Dienst stehende General Masniew seiner Regierung, daß er den Kampf gegen die Bolschewiki Hand in Hand mit den Kosaken der Freiwilligen-Armee führe. „In den Stellungen ließ ich die Kosaken zurück, und das mir anvertraute Heer führte ich nach Sotschi in Ruhestellung“ usw. Am 26. November traf die georgische Regierung die Bestimmung, dem Vertreter der Freiwilligenarmee, Objedow, das notwendige Quantum an Medikamenten und Verbandmitteln abzugeben und überhaupt „in dieser Angelegenheit jegliche Unterstützung zu gewähren“. Diese „Angelegenheit“ bestand im Bürgerkrieg gegen Sowjetrußland. Natürlich sind Verbandmittel und Arzneien sehr humane, sehr neutrale Gegenstände. Aber der Jammer liegt darin, daß die georgische Regierung diese humanen Gegenstände zuerst mit der Waffe in der Hand den „von der bolschewistischen Anarchie angesteckten“ kaukasischen Truppen abgenommen und sie dann den Weißgardisten übergeben hat, die Sowjetrußland von Süden her attackierten.

Das alles zusammen nennt sich „strikteste Neutralität“ – bei Kautsky, nicht aber bei Dschordania. Der letztere schrieb an den Vorsitzenden der kaiserlich deutschen Mission am 15. Oktober 1918, d. h. mitten in der Hitze der hier geschilderten Ereignisse:

„Ich habe niemals die internationale Lage Georgiens als die eines vollständig neutralen Staates betrachtet, da handgreifliche Tatsachen uns das Gegenteil zeigen.“

Das ist es eben! Dieser Brief ist wiederum von Dschordania selbst abgedruckt in dem bereits zitierten Tifliser Buntbuch, das Kautsky, als er seine Broschüre schrieb, ganz zur Verfügung stand. Aber er zog es vor, sich von apostolischen Inspirationen leiten zu lassen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß Dschordania, der nicht umhin konnte, handgreifliche Tatsachen in den „geschäftlichen“ Verhandlungen mit dem General v. Kreß anzuerkennen, es während der dem Heil seiner Seele dienenden Gespräche mit Kautsky für sehr gut möglich hielt, den ehrwürdigen Greis an der Käse herum zuführen; dies um so mehr, da Kautsky nach Tiflis eine Nase mitgebracht hatte, die vollkommen hierfür geeignet war.

Georgien hat laut Vertrag seine Eisenbahnen für den Transport der türkischen Truppen nach Asserbeidshan zur Verfügung gestellt, mit deren Hilfe in Baku die Sowjetmacht gestürzt wurde, die von den von Rußland fast ganz abgeschnittenen Arbeitern von Baku errichtet worden war. Die Folgen dieses Tages waren für uns ungeheuer. Aus einer Quelle der Naphthaversorgung Sowjetrußlands verwandelte sich Baku in einen Stützpunkt unserer Feinde. Man kann natürlich sagen, daß die georgische Regierung, indem sie sich von Rußland lostrennte, gezwungen war, den Sultantruppen gegen das Proletariat von Baku eine so entscheidende Unterstützung zu gewähren. Nehmen wir es an. Aber es bleibt die Tatsache bestehen, daß Dschordania und die anderen Führer Georgiens der reaktionär-bourgeoisen mohammedanischen Partei Musawat anläßlich der Eroberung Bakus durch die türkischen Truppen ihre Gratulationen darbrachten. Die Gewaltherrschaft des türkischen Militarismus schlug folglich die Richtung der inneren Impulse des Menschewismus ein, die dieser, wie wir sehen, durchaus nicht verheimlichte.

Die Revolution büßte nicht nur zeitweilig Baku ein, sondern sie verlor auch für immer einige Dutzend ihrer besten Söhne. Im September 1918, fast an denselben Tagen, da Gegetschkori mit Denikin Verhandlungen führte, wurden 26 Bolschewiki, Führer des Proletariats von Baku, mit dem Genossen Schaumjan, Mitglied des Zentralkomitees unserer Partei, und Alexej Dschaparidse an der Spitze, auf einer öden Steppenstation jenseits des Kaspischen Meeres erschossen. Hierüber können Sie, Henderson, Erkundidigungen bei Ihrem Tompson, dem General des Befreiungskrieges, einziehen. Seine Agenten waren die Henker.

So hat also weder Schaumjan noch Dschaparidse das Freudenjauchzen Dschordanias anläßlich des Sturzes von Sowjetbaku erfahren. Aber sie haben auch ohne dies den brennenden Haß gegen die menschewistischen Helfershelfer der Henker mit ins Grab genommen.

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Das Manuskript dieses Buches war bereits abgeschlossen, als ich das eben erschienene Buch von Wadim Tschajkin, eines Sozialrevolutionärs und Mitgliedes der Konstituante, erhielt: Zur Geschichte der russischen Revolution, Die Hinrichtung der 26 Kommissare von Baku, Verlag Grshebin in Moskau. Dieses Buch, dessen Hauptteil aus Dokumenten besteht, von denen die wichtigsten in Faksimile wiedergegeben sind, stellt eine Erzählung davon dar, wie die englischen Militärbehörden ohne irgendwelche Andeutung eines Gerichtes den Mord der 26 Kommissare von Baku organisiert haben. Der unmittelbare praktische Organisator war das Haupt der britischen militärischen Mission in Ashabad, Reginald Teag-Jones. General Tompson wußte von dieser ganzen Angelegenheit, und Teag- Jones handelte, wie aus allen Umständen hervorgeht, mit Einverständnis des ehrwürdigen Generals. Nachdem die Ermordung der 26 wehrlosen Männer, die man unter dem Vorwände ihres Abtransportes nach Indien festgenommen hatte, auf der öden Station glücklich vollbracht war, half General Tompson einem der Hauptteilnehmer an der Ermordung, dem käuflichen Schuft Drushkin, zur Flucht. Es hat zu nichts geführt, daß Wadim Tschajkin, der durchaus kein Bolschewik, sondern ein Sozialrevolutionär und Mitglied der Konstituante ist, sich an den englischen General Malesson und den englischen General Miller gewandt hat. Im Gegenteil, diese Gentlemen erwiesen sich in der Verheimlichung des Mordes und der Mörder und in der Fabrikation von Lügennachrichten als solidarisch. Wie aus den Dokumenten des gleichen Buches hervorgeht, hat sich Gegetschkori, der Minister für auswärtige Angelegenheiten Georgiens, auf Ansuchen Tschajkins verpflichtet, den verbrecherischen Schuft Drushkin nicht aus Georgien herauszulassen. Tn Wirklichkeit aber hat man im Einvernehmen mit dem britischen General Tompson dem Drushkin die volle Möglichkeit gewährt, der Untersuchung und dem Gericht zu entwischen. Während die Komitees der russischen und georgischen Sozialrevolutionäre und der russischen transkaukasischen Menschewiki, nachdem sie alle Umstände dieser Angelegenheit untersucht hatten, eine Erklärung über die verbrecherische Art des Vorgehens der englischen Militärbehörden unterschrieben haben, hat sich das Komitee der georgischen Menschewiki, das in der Kommission zusammen mit den anderen Parteien zu dem gleichen Schluß gekommen war, dennoch geweigert, dieses Dokument zu unterschreiben, um mit den englischen Behörden nicht in Streit zu geraten. Der Telegraph der menschewistischen georgischen Regierung weigerte sich, die Depeschen Wadim Tschajkins anzunehmen, die der Entlarvung der britischen Mörder gewidmet waren. Wenn von den georgischen Menschewiki nichts weiter bekannt wäre, als was die unbestreitbaren und unanzweifelbaren Dokumente in dem Buch Tschajkins berichten, so würde das vollständig genügen, um auf alle Ewigkeit hin diese Herrschaften, ihre Demokratie, ihre Verteidiger und Protektoren mit dem Stempel der Ehrlosigkeit und Schmach zu brandmarken.

Wir haben nicht die geringste Hoffnung, daß nach den direkten, genauen, unbezweifelbaren Hinweisen, die Tschajkin gegeben hat, Mister Henderson oder Mister Macdonald oder Mister Thomas oder Mister Cleynes oder Mister Sexton oder Mister Davisson oder Mister Adamson oder Mister Hodges oder Mister Roß oder Mister Bowerman oder Mister Joung oder Mister Spour sich zur Pflicht machen werden, diese Angelegenheit offen und ehrlich bis zum Ende zu untersuchen und jene Vertreter Großbritanniens zur Verantwortung heranzuziehen, die in Transkaukasien mit solchem Glanz Demokratie, Zivilisation, Recht, Religion und Moral gegen die bolschewistische Barbarei verteidigten.

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Die internationale Mistreß Snowden leugnet die Zusammenarbeit der georgischen Menschewiki mit den gegenrevolutionären Organisationen und Armeen und geht hierbei von zwei Umständen aus: erstens beklagen sich die Menschewiki selbst bei den englischen Sozialisten über die Entente, die sie angeblich zwinge, die Gegenrevolutionäre zu unterstützen; zweitens habe Georgien mit den Weißen Reibungen gehabt, die zeitweilig sogar den Charakter kriegerischer Konflikte annahmen.

Der englische General Wakker drohte direkt vor der Nase des Vorsitzenden der Regierung Noj Dschordania mit dem Finger, indem er ihm sagte, daß er sofort das zentrale menschewistische Organ schließen werde, wenn in ihm ein Artikel erschiene, der geeignet sei, die Entente zu beleidigen; ein englischer Oberleutnant klopfte mit dem Bajonett auf den Tisch des georgischen Staatsanwalts, indem er die sofortige Befreiung jener verhafteten Personen verlangte, auf die er, Oberleutnant von Gottes Gnaden, mit dem Finger gewiesen hatte. Überhaupt haben die englischen Militärbehörden, nach den Dokumenten zu urteilen, sich in Georgien noch unverschämter benommen als die deutschen. Natürlich erinnerte in solchen Fällen Dschordania ehrerbietig an die georgische Fast-Unabhängigkeit und beklagte sich bei Macdonald über die Verletzung der georgischen Fast-Neutralität. Das verlangte schon die einfache Vorsicht. Als Denikin Georgien den Bezirk Suchum fortnahm, beklagten sich die Menschewiki bei Wakker über Denikin, bei Henderson über Wakker; bei beiden Instanzen mit dem gleichen Erfolg.

Wenn diese Klagen und Zusammenstöße nicht stattgefunden hätten, so würde dies einfach bedeuten, daß sich die Menschewiki in keiner Weise von Denikin unterscheiden.

Das ist aber ebenso unrichtig, als ob man sagen wollte, daß Henderson sich in nichts von Churchill unterscheide. Der Pendelausschlag des kleinbürgerlichen Schwankens ist in der revolutionären Epoche ein sehr großer: von der Unterstützung des Proletariats bis zum formalen Bündnis mit der gutsherrlichen Gegenrevolution. Je weniger selbständig die kleinbourgeoisen Politiker sind, desto mehr Aufhebens machen sie von ihrer vollen Unabhängigkeit, von ihrer absoluten Neutralität. Unter diesem Gesichtswinkel ist es nicht schwer, die ganze Geschichte der Menschewiki, der rechten Sozialrevolutionäre, der linken Sozialrevolutionäre, im Maßstab der ganzen Revolution zu verfolgen. Sie pflegen niemals neutral zu sein. Sie pflegen niemals selbständig zu sein. Ihre „Neutralität“ ist stets nur ein kritischer toter Punkt in der Bewegung von rechts nach links oder von links nach rechts. Indem die kleinbourgeoisen Parteien die Bolschewiki unterstützen (linke Sozialrevolutionäre, Anarchisten), oder indem sie die Zarengenerale unterstützen (rechte Sozialrevolutionäre, Menschewiki) bekommen sie nicht selten im entscheidenden Augenblick des nahen Sieges ihres Verbündeten Angst oder, noch öfter, verlassen ihn im Augenblick der Gefahr. Doch muß man sagen, daß, während die kleinbourgeoisen Parteien in einer revolutionären Epoche gewöhnlich alle Nachteile einer Niederlage teilen, die Vorzüge eines Sieges selten auf ihr Los entfallen. Nachdem die monarchistische Gegenrevolution sich mit Hilfe der „Demokratie“ befestigt hatte – im Osten in der Person Koltschaks, im Norden und Westen in der Person Judenitschs, Millers und der englischen Generale, im Süden in der Person Denikins – erniedrigte und prügelte sie erbarmungslos ihre Helfershelfer, die Demokraten.

Letzten Endes hat auch die europäische Sozialdemokratie in dieser Hinsicht eine gewisse Erfahrung in Gestalt von blauen Flecken und blauen Augen, allerdings nicht aus der Epoche der Revolution, sondern aus der Epoche des Krieges. Die Sozialpatrioten, die ihrer Bourgeoisie in den für diese schwierigsten Kriegsmonaten geholfen haben, rechneten, wenn auch nicht auf eine Beteiligung des Proletariats an den Früchten des Sieges, so doch überhaupt mit einer Vergrößerung der Rolle des Sozialismus und ihrer eigenen Rolle in den Schicksalen des Staates nach dem Kriege. Sie haben sich getäuscht. Die betrogenen Henderson, Sembat und andere überführten auch ihre Bourgeoisie, drohten ihr und beklagten sich über sie bei der Internationale. Das bedeutet aber nicht, daß sie ihr nicht gedient hätten. Sie dienten ihr, aber mit Prätensionen. Sie dienten ihr, wurden aber betrogen. Sie dienten, aber beklagten sich. Niemand sagt von ihnen, daß sie einfach bezahlte Lakaien seien. Nein, sie sind kleinbourgeoise Opportunisten, d. h. politische, ambitiöse, wortreiche, stets schwankende, stets unzuverlässige Lakaien, aber Lakaien bis auf das Mark der Knochen.

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Indem Kautsky, wie gesagt, die Methoden der französischen Akademiker sich zu eigen gemacht hat, die die aufgeklärte Politik des Fürstentums Monako oder der Dynastie Karadjordje besingen, fragt er nicht nach Erklärungen, fragt nicht nach den Ursachen, wundert sich nicht über die Widersprüche und fürchtet sich nicht vor Ungereimtheiten. Wenn sich Georgien von dem revolutionären Rußland losgerissen hat, so sind die Bolschewiki daran schuld. Wenn Georgien die deutschen Truppen gerufen hat, so ist der Grund hierfür der, daß sie besser sind als die türkischen. Die Hohenzollerntruppen sind nach Georgien gekommen „nicht als Plünderer – lispelt und wispert Kautsky –, sondern als Organisatoren seiner Produktivkräfte ...“ Aber auch zusammen mit den Hohenzollerntruppen, die „in den Straßen von Tiflis freudig begrüßt wurden“ – von wem? von wem? von wem? –, büßt Georgien nichts von seinen demokratischen Tugenden ein. Tompson und Wakker haben ihm nur zum Nutzen gereicht. Und nachdem erst an jedem der Attribute seiner Jungfräulichkeit zuerst ein von ihm selbst aufgeforderter deutscher Leutnant und dann ein englischer sich zu schaffen gemacht hat, kann niemand mehr daran zweifeln, daß im Augenblick des Eintreffens der Delegation der Zweiten Internationale die demokratischen Tugenden Georgiens ihre volle Blüte erreicht haben. Hieraus ergibt sich der prophetische Schluß Kautskys: Rußland wird der Geist des Menschewismus retten, dessen Verkörperung das menschewistische Georgien ist. (S. 72) (Wörtlich: „Rußland kann nur noch gedeihen, wenn es von dem Geiste erobert wird, der Georgien beseelt.“)

Es naht der Augenblick, da das Wort dem „Geist des Menschewismus“ selbst erteilt werden muß. Ende 1918 (am 27. Dezember) fand in Moskau eine Parteikonferenz der RSDRP (Menschewiki) statt. Auf dieser Konferenz wurde die Politik jener Teile der Partei einer Besprechung unterzogen, die in den Bestand weißgardistischer Regierungen eingetreten oder mit dem ausländischen Imperialismus in ein offenes Bündnis eingetreten sind; im einzelnen und im besonderen war hierbei von den georgischen Menschewiki die Rede. In dem offiziellen Bericht des menschewistischen Zentralkomitees über die Konferenz heißt es:

„In ihrer Mitte kann und will die Partei nicht Bundesgenossen der gegenrevolutionären Bourgeoisie und des englisch-amerikanischen Imperialismus dulden, so verständlich die Motive auch sein mögen, die viele von ihnen auf den Weg eines solchen Bündnisses gestoßen haben.“

In der Resolution der Konferenz heißt es direkt:

„Die Konferenz konstatiert, daß die Politik der georgischen Sozialdemokratie, die den Versuch gemacht hat, die demokratische Ordnung und die Selbstverwaltung Georgiens um den Preis einer Orientierung auf ausländische Hilfe und Lostrennung von Rußland zu retten, diese in Widerspruch zu den Aufgaben gestellt hat, die die Partei, als Ganzes verfolgt.“

Diese lehrreiche Episode gibt einen Begriff nicht nur von dem Scharfblick Kautskys in der Bewertung der Ereignisse der Revolution, sondern auch von seiner Gewissenhaftigkeit in ihrer faktischen Darlegung. Ohne sich sogar bei seinen Freunden, den Menschewiki, zu erkundigen, und ohne die notwendigsten Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, stellt Kautsky die Außenpolitik der Dschordania-Zeretelli als eine wahrhaft menschewistische und darum für die internationale Sozialdemokratie vorbildliche hin. Indessen lautet die offizielle Bewertung der „wahrhaft menschewißtischen“ Partei aus dem Munde der Martow-Dan, daß die Außenpolitik der Dschordania- Zeretelli auf die Partei einen „desorganisierenden Einfluß“ ausübt, indem sie „ihr Prestige in den Augen der proletarischen Massen zu untergraben droht“. (Siehe die angegebene Ausgabe des menschewistischen ZK., S. 6.) Während Kautsky das Siegel des marxistischen Segens auf die georgische Politik der „striktesten Neutralität“ aufdrückt, gelangen die Martow-Dan hinsichtlich dieser Politik bis zu einer außerordentlichen Drohung. Sie schreiben:

„Die Partei kann nicht, ohne zum Gegenstand allgemeinen Gespötts zu werden, derartige politische Aktionen einzelner ihrer Teile zulassen, die, in offenem oder verkapptem Bündnis mit ihren Klassenfeinden, gegen den Kern ihrer revolutionären Politik gerichtet sind.“ (Siehe ebenda, S. 6.)

Hier könnte man einen Punkt setzen. Der Gelehrtenschlafrock Kautskys ist fest genug zwischen den zwei menschewistischen Türhälften eingeklemmt: wie es scheint, kann er sich nicht losmachen. Vielleicht wird aber Kautsky sich jetzt mit einiger Verspätung an Martow um Hilfe wenden? Das ist möglich. Und es besteht kein Zweifel, daß er diese Hülfe erhalten wird. Wir selbst können zur Milderung des Schlages, der Kautsky durch die Hände der Menschewiki versetzt worden ist, einige aufklärende Worte sagen. Der Augenblick war damals ein sehr revolutionärer. Die Bolschewik schlugen Koltschak. In Deutschland und Österreich-Ungarn war die Revolution aufgeflammt. Die Führer der Menschewiki mußten den allzu sehr kompromittierenden Ballast über Bord werfen, um nicht selbst endgültig zu ertrinken. In den Arbeiterversammlungen Moskaus und Petrograds verleugneten sie mit Empörung die Solidarität mit der verräterischen Politik des damaligen Georgiens. Sie drohten, Dschordania u. a. auszuschließen, wenn man nicht aufhören würde, die Partei in einen „Gegenstand des Gespöttes“ zu verwandeln. Der Moment war ein sehr unruhiger; selbst Hilferding wollte die Sowjets in die Verfassung einführen. Das beweist aber, daß es bis zum Äußersten gekommen war.

Man drohte, sie auszuschließen, hat sie aber doch nicht ausgeschlossen? O, natürlich hat man sie nicht ausgeschlossen. Man hat auch gar nicht daran gedacht, sie auszuschließen. Sie wären keine Menschewiki, wenn bei ihnen Wort und Tat nicht auseinandergingen. Der ganze internationale Menschewismus ist nichts anderes als eine leere Drohung, die niemals verwirklicht wird, ein symbolisches Zum-Schlag-ausholen, auf das kein Schlag erfolgt.

Dies ändert aber nichts an der Tatsache, daß Kautsky in der allerwichtigsten Frage, der Politik der georgischen Menschewiki, seine Leser schmählich betrügt. Sein Betrug ist durch die Menschewiki selbst entlarvt worden. Er kann nicht mehr loskommen: der Schlafrock ist fest eingeklemmt.

Und Macdonald? O, Macdonald ist ein ehrenwerter Mann. Aber auch er hat seinen Mangel: er versteht nichts von den Fragen des Sozialismus. Durchaus nichts!

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Anmerkung

1. Ein genaues Register dieses sehr bedeutenden Vermögens ist veröffentlicht auf Grund der Originaldokumente in dem Buch von J. Schafir, Der Bürgerkrieg in Rußland und das menschewistische Georgien, Moskau 1921, S. 39.


Zuletzt aktualisiert am 3. Juli 2019