Leo Trotzki

Zwischen Imperialismus und Revolution

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Die bourgeoise öffentliche Meinung,
Sozialdemokratie, Kommunismus

Es bleibt noch zu fragen übrig, mit welcher Begründung eigentlich die Leute der Zweiten Internationale von uns, der Sowjetföderation, der Kommunistischen Partei, fordern, daß wir Georgien räumen sollen? Im Namen welcher Prinzipien? Angenommen, daß Georgien tatsächlich gewaltsam okkupiert wurde und daß hierin unser Sowjetimperialismus seinen Ausdruck gefunden hat. Was aber berechtigt Henderson, ein Mitglied der Zweiten Internationale, den ehemaligen Minister Großbritanniens, von uns, einem organisierten Staat des Proletariats, der Dritten Internationale, dem revolutionären Kommunismus, zu fordern, daß wir, nur um seiner frommen Augen willen, Sowjetgeorgien entwaffnen sollen? Wenn Herr Churchill dies fordert, so weist er mit der Hand auf die langen Rüssel der Marinegeschütze und auf den Stacheldraht der Blockade. Auf was aber weist Herr Henderson? Auf die Heilige Schrift, auf das Parteiprogramm oder auf seine Taten? Die Heilige Schrift ist aber ein naiver Mythus; das Programm des Herrn Henderson ist ein Mythus, aber ohne Naivität; und seine Taten zeugen alle gegen ihn.

Es ist noch nicht so lange her, daß Henderson Minister einer der Demokratien war – seiner eigenen, der großbritannischen. Warum hat er nicht darauf bestanden und auch nicht versucht, darauf zu bestehen, daß diese Demokratie, zu deren Schutze er zu jeglichen Opfern und sogar zur Annahme eines Ministerportefeuilles aus den Händen des liberal-konservativen Lloyd George bereit ist, Prinzipien zu verwirklichen beginne – nicht unsere, o nein, sondern ihre eigenen und die seinen, Hendersons, Prinzipien? Warum forderte er nicht eine Evakuierung Indiens und Aegyptens? Warum unterstützte er seinerzeit nicht die Forderungen der Irländer auf völlige Befreiung vom großbritannischen Joch? Wir wissen, daß Henderson, ebenso wie Macdonald, an den hierfür bestimmten Tagen in melancholischen Resolutionen gegen die Auswüchse des großbritannischen Imperialismus protestierten. Aber dieser ohnmächtige und willenlose Protest hat niemals die wirklichen Interessen der Kolonialherrschaft des englischen Kapitals bedroht und bedroht sie auch nicht; er hat niemals zu mutigen und entschiedenen Aktionen geführt und führt auch nicht dazu, denn seine Aufgabe besteht darin, die Gewissensbisse der „sozialistischen“ Bürger der regierenden Nation zu mildern und dem Unwillen der englischen Arbeiter ein Ventil zu schaffen, aber er hat durchaus nicht die Sprengung der Ketten der Kolonialsklaven zur Aufgabe. Die Herrschaft Englands über die Kolonien halten die Henderson nicht für eine Frage der Politik, sondern für eine Tatsache der Naturgeschichte. Sie haben niemals und nirgends erklärt, daß die Inder, Aegypter und andere versklavte Völker ein Recht haben, ja, daß sie sogar verpflichtet sind, sich im Namen ihrer Zukunft mit der Waffe in der Hand gegen die englische Herrschaft zu erheben, und sie haben niemals als „Sozialisten“ die Verpflichtung übernommen, bei der ersten Möglichkeit mit den Waffen in der Hand den Befreiungskampf der Kolonien zu unterstützen. Hier kann auf keinen Fall ein Zweifel darüber bestehen, daß es sich um die elementarste erz-demokratische Pflicht handelt, zudem in doppeltem Sinne: erstens bilden die Kolonialsklaven zweifellos eine erdrückende Mehrheit im Vergleich zu der minimalen herrschenden britischen Minderheit; zweitens erkennt diese Minderheit selbst und erkennen vor allem ihre offiziellen Sozialisten die Prinzipien der Demokratie als führende Grundsätze ihrer Existenz an. So z. B. Indien! Warum veranlaßt Henderson keine Aufstandsbewegung zugunsten der Fortführung der britischen Truppen aus Indien? Ein offensichtlicheres, monströseres, zum Himmel schreienderes, schamloseres Mit-den-Füßen-Treten der Gesetze der Demokratie gibt es nicht, und kann es nicht geben, als die Herrschaft des britisch-kapitalistischen Tintenfisches über den großen Leib dieses unglücklichen versklavten Landes! Man sollte meinen, daß Henderson, Macdonald und andere Tag für Tag, und nicht nur tags, sondern auch nachts Alarm schlagen, fordern, aufrufen, überführen und den Aufstand der Inder und aller englischen Arbeiter gegen die unmenschliche Nichtachtung der Prinzipien der Demokratie predigen müßten. Aber nein, sie schweigen, oder was noch schlimmer ist, sie unterschreiben von Zeit zu Zeit, ein Gähnen unterdrückend, eine räsonnierende, leere und wie eine englische Predigt fade Resolution, um zu zeigen, daß sie, ganz auf dem Boden der Kolonialherrschaft stehend, es vorziehen würden, ihre Bosen ohne Dornen zu pflücken, und daß sie auf jeden Fall nicht gewillt sind, sich ihre loyalen britischen Sozialisten-Hände an diesen Dornen zu zerstechen. Da dies angeblich durch demokratische und patriotische Erwägungen hervorgerufen wird, so setzt sich Henderson ruhig in den Sessel eines königlichen Ministers, und es kommt ihm gleichsam nicht in den Klopf, daß dieser Sessel sich auf den antidemokratischsten Sockel der Welt stützt: auf die Herrschaft einer zahlenmäßig minimalen kapitalistischen Clique unter Vermittlung einiger zehn Millionen britischen Volkes über einige Hundert Millionen farbiger Sklaven Asiens und Afrikas. Ja, weit mehr, im Namen der Verteidigung dieser monströsen Herrschaft, die durch die Formen der Demokratie verhüllt wird, ist Henderson mit der offenen, militärisch-polizeilichen Diktatur des russischen Zarismus in ein Bündnis eingetreten. Sie waren Minister des russischen Zarismus, Herr Henderson, insofern, als Sie Kriegsminister waren. Bitte, vergessen Sie dies nicht! Natürlich kam es Henderson nicht in den Sinn, vom Zaren, seinem Patron und Verbündeten, zu verlangen, daß er die russischen Truppen aus Georgien oder aus anderen von ihm unterworfenen Territorien fortführe. Die Vorlegung derartiger Forderungen hätte er zu jener Zeit als die Erweisung eines Dienstes an den deutschen Militarismus bezeichnet. Jede revolutionäre, gegen den Zaren gerichtete Bewegung in Georgien betrachtete er ebenso wie einen Aufstand in Irland, d. h. als Resultat deutscher Bestechung und deutscher Intrige. In der Tat, es kann einem schwindlig werden von diesen ungeheuerlichen, zum Himmel schreienden Widersprüchen und Ungereimtheiten! Und doch liegen sie in der Ordnung der Dinge begründet. Denn die Herrschaft Großbritanniens, d. h. seiner regierenden Spitzen, über ein Viertel der Menschheit betrachten die Henderson nicht als eine Frage der Politik, sondern als eine Tatsache der Naturgeschichte. Die antidemokratische Ansicht der Exploiteure, Plantagenbesitzer und Parasiten über jene Bassen, die sich durch ihre Hautfarbe unterscheiden, Shakespeare nicht lesen und keine gebügelten Kragen tragen, hat diese Demokraten ganz durchdrungen, die im Banne der bürgerlichen öffentlichen Meinung standen und stehen bleiben werden, trotz ihres ganzen fabianischen, schlechtsaftigen, ohnmächtigen Sozialismus.

Und siehe da, trotzdem sie das zaristische Georgien, Irland, Aegypten, Indien hinter sich haben, sind sie so verwegen, von uns, ihren Gegnern, und nicht ihren Verbündeten, eine Säuberung Sowjetgeorgiens zu fordern. In dieser unsinnigen, durch und durch insolventen Forderung ist jedoch – so unerwartet einem dies auch auf den ersten Blick erscheint! – ein unwillkürlicher Tribut der Achtung von seiten der kleinbürgerlichen Demokratie vor der proletarischen Diktatur enthalten. Sich dessen nicht bewußt oder nur zur Hälfte bewußt, sagen die Henderson und Co.:

„Selbstverständlich kann man von einer bürgerlichen Demokratie, zu deren Ministern wir werden, wenn sie uns hierzu auffordert, nicht verlangen, daß sie ernsthaft mit dem demokratischen Prinzip der Selbstbestimmung rechne; von uns, den Sozialisten dieser Demokratie, den respektablen Bürgern der herrschenden Nation, die ihre Sklavenherrschaft mit demokratischen Fiktionen verhüllt, darf man nicht verlangen, daß wir ernsthaft und durch die Tat den Kolonialsklaven helfen, sich gegen die Sklavenbesitzer zu erheben. Ihr aber, die im Staate Fleisch gewordene Revolution, seid verpflichtet, zu tun, was wir aus Feigheit, Verlogenheit und Heuchelei nicht zu tun vermögen.“

Mit anderen Worten, indem sie die Demokratie formal über alles stellen, geben sie absichtlich oder unwillkürlich zu, daß man an die Diktatur des Proletariats so hohe Forderungen stellen könne und müsse, die lächerlich und einfach dumm erscheinen würden, wenn man sie an eine bürgerliche Demokratie richten wollte, in deren Dienst sie selbst als Minister oder loyale Deputierte stehen.

Darum verleihen sie ihrer unwillkürlichen Verehrung der von ihnen abgelehnten proletarischen Diktatur jene Form, die ihrem politischen Gestammel eigen ist. Sie verlangen, daß die Diktatur sich nicht mit ihren eigenen Mitteln befestige und verteidige, sondern mit jenen Mitteln, die sie in Worten als für die Demokratie verpflichtend anerkennen, die sie aber niemals verwirklichen. Wir haben hiervon schon im ersten Manifest der Kommunistischen Internationale gesprochen: unsere Feinde verlangen von uns, daß wir unser Leben nicht in anderer Weise verteidigen als nach den konventionellen Regeln des Ringkampfes, d. h. nach jenen Regeln, die von unseren Feinden geschaffen sind, die sie aber im Kampfe gegen uns für sich selbst nicht als bindend betrachten.

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Um die Vorstellung von der Politik der „westlichen Demokratien“ gegenüber den zurückgebliebenen Völkern, sowie in bezug auf jene Rolle aufzufrischen und zu konkretisieren, die in dieser Politik die Leute von der Zweiten Internationale spielen, muß man die Erinnerungen der ehemaligen französischen Gesandten am Zarenhof, des Herrn Paléologue, lesen. Wenn es dieses Buch nicht gäbe, so müßte es erfunden werden. Man müßte auch den Paléologue selbst erfinden, wenn er durch sein rechtzeitiges Erscheinen auf der Arena der Memoirenliteratur uns nicht dieser Mühe überhoben hätte. Paléologue ist ein vollendeter Vertreter der Dritten Republik – nicht nur mit einem byzantinischen Familiennamen, sondern auch mit einer durch und durch byzantinischen Seele. Im November 1914, in der ersten Kriegsperiode, wird ihm durch eine Hofdame, auf Weisung von „Allerhöchst“ (offenbar von der Zarin), eine fromme, handschriftliche Instruktion Rasputins überreicht. Herr Paléologue, Vertreter einer Republik, antwortet auf die strenge Belehrung Rasputins mit folgendem Brief:

„Das französische Volk, das über Herzenstakt verfügt, versteht sehr gut, daß das russische Volk seine Liebe zum Vaterland in der Person des Zaren verkörpert sieht.“

Dieser Brief eines republikanischen Diplomaten, der darauf berechnet ist, zum Zaren zu gelangen, wurde geschrieben zehn Jahre nach dem 9. Januar 1905 und 122 Jahre danach, als die Erste französische Republik dem Louis Capet den Kopf abschlug, in dessen Person, nach Ansicht der damaligen Paléologuen, das französische Volk seine Liebe zum Vaterland verkörpert sah. Verblüffend ist nicht der Umstand, daß Herr Paléologue, der Ordnung der geheimen diplomatischen Ehrlosigkeit folgend, sich freiwillig den Schmutz des Hofes auf seinem republikanischen Gesicht breitschmierte; verblüffend ist der Umstand, daß er diese schändliche Arbeit aus eigener Initiative offen zur Kenntnis eben jener Demokratie bringt, die er in so geringwertiger Legierung beim Hofe Rasputins vertrat. Und das hindert ihn nicht daran, bis auf den heutigen Tag ein Politiker der „demokratischen Republik“ zu bleiben und in ihr einen verantwortlichen Posten zu bekleiden! Das wäre verblüffend, wenn wir nicht die Entwicklungsgesetze der bürgerlichen Demokratie kennen würden, die sich bis zu einem Robespierre erhoben hat, um mit einem Paléologue zu enden.

Hinter der Offenherzigkeit des ehemaligen Gesandten ist aber aller Wahrscheinlichkeit nach eine höhere Art byzantinischer Schlauheit versteckt. Er erzählt uns soviel, um nicht alles erzählen zu müssen. Vielleicht schläfert er nur unsere argwöhnische Wißbegier ein. Wer weiß, was für Forderungen der eigensinnige und allmächtige Rasputin an ihn richtete? Und wer weiß, auf welchen komplizierten Wegen Paléologue die Interessen Frankreichs und der Zivilisation sicherstellen mußte?

Auf jeden Fall können wir einer Sache sicher sein: Herr Paléologue gehört heute zu jener französischen politischen Gruppe, die zu schwören bereit ist, daß die Sowjetmacht nicht den wahren Willen des russischen Volkes darstellt, und die nicht müde wird, zu wiederholen, daß eine Erneuerung der Beziehungen zu Rußland erst dann möglich sein wird, wenn „richtig funktionierende Institutionen der Demokratie“ die Verwaltung Rußlands russischen Paléologuen übergeben haben werden.

Der Gesandte der französischen Demokratie steht nicht vereinzelt da. Heben ihm stand Sir Buchanan. Am 14. November 1914 schrieb Buchanan, nach Paléologues Erzählung, an Sasonow:

„Die Regierung Ihrer Britischen Hoheit ist zur Anerkennung dessen gelangt, daß die Frage der Meerengen und Konstantinopels in Uebereinstimmung mit den Wünschen Rußlands gelöst werden muß. Ich bin glücklich, Ihnen dies erklären zu können.“

So wurde der Grundstein gelegt für das Programm des Krieges des Rechtes, der Gerechtigkeit und der nationalen Selbstbestimmung. Vier Tage später schrieb Buchanan an Sasonow: „Die britische Regierung sieht sich gezwungen Aegypten zu annektieren. Sie bringt die Hoffnung zum Ausdruck, daß die russische Regierung sich dem nicht entgegensetzen werde.“ Sasonow beeilte sich, sich einverstanden zu erklären. Wieder drei Tage später „erinnerte“ Paléologue Nikolai II.: „Frankreich hat in Syrien und Palästina einen kostbaren Besitz an historischen Erinnerungen (!), sowie auch moralische (!!) und materielle Interessen“. Er, Paléologue, hoffe, daß Seine Majestät jene Maßnahmen gutheißen werde, die die Regierung der Republik (immer noch der gleichen, d. h. der demokratischen) für die Erhaltung dieses Besitzes für notwendig halten wird.

„Oui, certes“ (Ja, natürlich), antwortete Seine Majestät.

Endlich, am 12. März 1915, verlangt Buchanan, daß Rußland a conto Konstantinopels und der Meerengen an England die neutralen, d. h. noch nicht aufgeteilten Teile Persiens abtreten solle. Sasonow antwortet:

„C’est entendu.“ (Einverstanden.)

Auf diese Weise entschieden die zwei Demokratien gemeinsam mit dem Zarismus, der ja auch in jener Epoche durch die von der Entente ausgehenden Strahlen demokratischen Lichtes übergossen war, die Schicksale Konstantinopels, Syriens, Palästinas, Aegyptens und Persiens. Herr Buchanan vertrat die großbritannische Demokratie nicht besser und nicht schlechter als Herr Paléologue die französische. Nach dem Sturze Nikolais II. behielt Buchanan seinen Posten bei. Henderson, Minister Seiner Majestät und, wenn ich nicht irre, großbritannischer Sozialist, traf zur Zeit des Kerenski-Regimes in Petrograd ein, um im Fall der Notwendigkeit Buchanan abzulösen, da irgend jemand in der englischen Regierung glaubte, daß man für Gespräche mit Kerenski eine andere Schattierung der Stimme haben müsse als für Gespräche mit Rasputin. Henderson schaute sich in Petersburg um und fand, daß Buchanan als Vertreter der großbritannischen Demokratie dort vollständig am Platze war. Buchanan hatte zweifellos von dem Sozialisten Henderson die gleiche Meinung.

Wenigstens stellte Paléologue „seine“ Sozialisten den frondierenden zaristischen Würdenträgern als Beispiel hin. Anläßlich der am Hofe betriebenen „Agitation“ des Grafen Witte für eine möglichst schnelle Beendigung des Krieges schrieb Paléologue an Sasonow: „Sehen Sie unsere Sozialisten an; sie trifft kein Vorwurf.“ (S. 189) Diese Bewertung der Herren Renaudel, Longuet, Vandervelde und aller ihrer Gesinnungsgenossen durch den Herrn Paléologue macht, nach allem von uns Erlebten, auch heute noch einen gewissen Eindruck. Indem Paléologue Instruktionen von Rasputin erhielt und ihren Empfang höflich quittierte, bewertete er seinerseits vor dem Zarenminister die französischen Sozialisten in beschützender Weise und erkannte sie als vorwurfsfrei an. Diese Worte: „Voyez nos socialistes – ils sont impeccables“ sollte man in ein Epigraph verwandeln und auf die Fahne der Zweiten Internationale schreiben, von der schon lange die Worte von der Vereinigung der Proletarier der ganzen Welt entfernt sein sollten, die Henderson ebenso wenig zu Gesicht stehen, wie die phrygische Mütze dem Herrn Paléologue.

Die Henderson halten die Herrschaft der angelsächsischen Rasse über die anderen Rassen für eine natürliche Tatsache, für eine Voraussetzung der menschlichen Zivilisation. Die Frage der nationalen Selbstbestimmung beginnt für sie im Grunde erst jenseits der Grenzen des großbritannischen Reiches. Dieser nationale Hochmut verschwägert die Sozialpatrioten des Westens am stärksten mit ihrer Bourgeoisie, d. h. er macht sie faktisch zu Fronknechten ihrer Bourgeoisie.

Ganz zu Beginn des Krieges hat in Beantwortung auf den natürlichen Vorhalt, wie man von der Verteidigung der Demokratie sprechen könne, wenn man mit dem Zarismus verbündet sei, ein französischer Sozialist, Professor einer Schweizer Universität, buchstäblich folgendes geantwortet: ,,Es handelt sich hier um Frankreich und nicht um Rußland; Frankreich ist in diesem Kampfe eine moralische Macht, Rußland eine physische Macht.“ Er sagte dies wie etwas ganz Natürliches und war sich des schamlosen Chauvinismus dieser Worte gar nicht bewußt. Etwa zwei Monate später zitierte ich in einem Streit über das gleiche Thema in der Redaktion der Humanité in Paris die Worte des französischen Professors in Genf. – „Er hat vollständig recht,“ antwortete der damalige Hauptredakteur der Zeitung.

Ich erinnere mich an einen Satz des jungen Renan, daß der Tod eines Franzosen ein moralisches Ereignis ist, während der Tod eines Kosaken (Renan möchte einfach sagen: eines Russen) eine Tatsache physischer Ordnung ist. Dieser ungeheuerliche nationale Hochmut hat seine tiefen Ursachen. Die französische Bourgeoisie hatte bereits eine reiche Geschichte hinter sich zu einer Zeit, da die anderen Völker noch in halbmittelalterlicher Barbarei verharrten. Die englische Bourgeoisie bahnte noch früher die Wege für eine neue Zivilisation. Hieraus geht das verächtliche Verhalten zu der übrigen Menschheit, als dem historischen Dünger, hervor. Durch ihre Klassenselbstsicherheit, durch den Reichtum ihrer Erfahrung, durch die Mannigfaltigkeit ihrer kulturellen Eroberungen unterdrückte die britische Bourgeoisie in geistiger Hinsicht ihre eigene Arbeiterklasse, indem sie sie mit der Psychologie der herrschenden Rasse vergiftete.

Aus dem Munde Renans war der Satz vom Franzosen und Kosaken der zynische Ausdruck des Hochmutes einer materiell und geistig wirklich mächtigen Klasse. Die Modifizierung des gleichen Satzes durch einen französischen Sozialisten war bezeichnend für das niedrige Niveau des französischen Sozialismus, seine ideelle Armut, seine rein lakaienhafte Abhängigkeit von den geistigen Speiseresten vom herrschaftlichen Tisch der Bourgeoisie.

Wenn Paléologue, Renan in gemilderter Form wiederholend, sagt, daß der Tod eines Franzosen einen unvergleichlich größeren Verlust für die Kultur bedeute als der Tod eines Russen, so sagt der gleiche Paléologue, oder er meint es wenigstens, daß der Untergang eines französischen Börsenmenschen, Millionärs, Professors, Advokaten, Diplomaten, Journalisten im Kriege einen unvergleichlich größeren Verlust für die Kultur bedeute als der Tod eines französischen Drechslers, Textilarbeiters, Chauffeurs oder Bauern. Das eine geht unvermeidlich aus dem andern hervor. Der nationale Aristokratismus widerspricht im Grunde dem Sozialismus – nicht in jenem nivellierend-verwässernden christlichen Sinne, daß alle Nationen, alle Menschen auf der Wage der Kultur gleichwertig seien, sondern in dem Sinne, daß der nationale Aristokratismus, der unzertrennlich mit dem bourgeoisen Konservatismus verknüpft ist, voll und ganz gegen einen revolutionären Umsturz, der allein fähig ist, neue Bedingungen für eine höhere menschliche Kultur zu schaffen, gerichtet ist. Der nationale Aristokratismus betrachtet den Kulturwert des Menschen unter dem Gesichtswinkel der Anhäufung von Vergangenheit. Der Sozialismus betrachtet den Kulturwert der Menschen unter dem Gesichtspunkt der Zukunft. Es besteht gar kein Zweifel darüber, daß der französische Diplomat Paléologue mehr von ihm aufgesaugte Kulturgüter ausstrahlt als ein Bauer aus dem Gouvernement Tambow. Andererseits besteht aber kein Zweifel darüber, daß der Bauer aus dem Gouvernement Tambow, der die Gutsbesitzer und die Diplomaten mit dem Knüttel davonjagt, die Grundlagen für eine neue, höhere Kultur legt. Der französische Arbeiter und der französische Bauer werden diese Arbeit dank ihres höheren Kulturniveaus besser ausführen und schneller vorwärts kommen.

Wir russischen Marxisten haben infolge der zurückgebliebenen Entwicklung Rußlands keine mächtige bourgeoise Kultur über uns stehen gehabt. Wir nahmen an der europäischen Geisteskultur teil nicht durch Vermittlung unserer kläglichen Nationalbourgeoisie, sondern selbständig, indem wir die revolutionärsten Schlußfolgerungen der europäischen Erfahrung und des europäischen Gedankens uns zu eigen machten und zu Ende führten. Dies hat unserer Generation manche Vorzüge gegeben. Und ich will nicht verschweigen: jener aufrichtige und tiefe Enthusiasmus, mit dem wir uns zu den Leistungen des britischen Genius auf den verschiedensten Gebieten des menschlichen Schaffens verhalten, hebt um so schärfer und erbarmungsloser jene Verachtung hervor, die auch aufrichtig und tief ist, mit der wir uns zu der ideellen Beschränktheit, der theoretischen Dummheit und dem Mangel an revolutionärer Würde bei den patentierten Führern des britischen Sozialismus verhalten. Sie sind durchaus keine Verkünder einer neuen Welt; sie sind nur Epigonen einer alten Kultur, die in ihrer Person um ihr weiteres Schicksal besorgt ist.

Und die geistige Dyskrasie dieser Epigonen ist gewissermaßen eine Vergeltung für die stürmische und üppige Vergangenheit der bourgeoisen Kultur.

* * *

Das bourgeoise Bewußtsein hat die ungeheueren kulturellen Eroberungen der Menschheit in sich aufgesogen. Zu gleicher Zeit ist es heute das Haupthindernis auf dem Wege der Entwicklung der menschlichen Kultur.

Eine der wichtigsten Eigenschaften unserer Partei, die sie zum wichtigsten Hebel der Entwicklung in unserer Epoche macht, besteht in ihrer vollen und absoluten Freiheit von der öffentlichen Meinung der Bourgeoisie. Diese Worte bedeuten viel mehr, als es auf den ersten Blick scheinen möchte. Sie bedürfen einer Erläuterung, besonders wenn man einen so undankbaren Teil des Auditoriums im Auge hat, wie es die Politiker der Zweiten Internationale sind. Hier muß man jeden revolutionären Gedanken, sogar den einfachsten, gründlich festnageln.

Die bourgeoise öffentliche Meinung ist ein dichtes psychologisches Gewebe, das von allen Seiten her die Waffen und Werkzeuge der bourgeoisen Gewalt umhüllt und sie dadurch sowohl gegen viele einzelne Stöße, als auch gegen einen fatalen revolutionären Stoß schützt, der letzten Endes doch unvermeidlich ist. Die wirkende bourgeoise öffentliche Meinung besteht aus zwei Teilen: aus den ererbten Anschauungen, Wertungen, Vorurteilen, die den Erfahrungsniederschlag der Vergangenheit, eine feste Schicht zweckmäßiger Banalität und nützlichen Stumpfsinns darstellen, und aus der komplizierten, mechanisierten, kunstvoll gelenkten, ganz modernen Technik der Mobilmachung des patriotischen Pathos, der sittlichen Empörung, des nationalen Enthusiasmus, des altruistischen Triebes und anderer Arten von Lüge und Betrug. Das ist die allgemeine Formel. Es bedarf jedoch erläuternder Beispiele.

Wenn in einem Gefängnis des hungernden Rußlands ein Kadettenadvokat, der auf Frankreichs oder Englands Veranlassung sich an der Vorbereitung einer Schlinge für die Arbeiterklasse beteiligte, am Typhus im Sterben liegt, dann produziert der Telegraph und der drahtlose Telegraph der bourgeoisen öffentlichen Meinung eine solche Anzahl von Schwingungen, die vollständig dafür genügen würde, um eine zweckmäßige Empörungsreaktion in dem hierfür genügend vorbereiteten Kollektivbewußtsein der Mistreß Snowden hervorzurufen. Es ist ganz klar, daß die ganze teuflische Arbeit des kapitalistischen Radios und der Telegraphie nutzlos wäre, wenn der Schädel der Kleinbourgeoisie kein mit ihr harmonierender Resonanzboden wäre.

Nehmen wir eine andere Erscheinung: der Hunger im Wolgagebiet. In seinen heutigen Formen nie dagewesenen Schreckens ist dieser Hunger zum mindesten zur Hälfte ein Resultat des Bürgerkrieges, der an der Wolga durch die Tschechoslowaken und Koltschak angestiftet wurde, d. h. tatsächlich durch englisch-amerikanisches und französisches Kapital organisiert und genährt wurde. Die Dürre traf auf einen Boden, der schon vorher erschöpft, zerstört und des Arbeitsviehs, des Arbeitsgeräts und jeglicher Vorräte beraubt war. Wenn wir diese oder jene Offiziere und Advokaten im Gefängnis einsperrten, was wir durchaus nicht als ein Beispiel von Humanität hinstellen, so hat ja auch das bourgeoise Europa und mit ihm zusammen Amerika danach gestrebt, das ganze Hundertmillionen-Rußland in ein Hungergefängnis zu verwandeln; sie umzingelten uns mit der Mauer der Blockade, und zu gleicher Zeit, durch Vermittlung ihrer weißen Agenten, sprengten, verbrannten, vernichteten sie unsere minimalen Vorräte. Wenn irgend jemand eine Wage der reinen Moral zur Verfügung hat, so möge er auf ihr einerseits die rauhen Maßnahmen wägen, die wir im Todeskampfe gegen die ganze Welt anwendeten, und andererseits jene Leiden, die, auf der Suche nach nichtbezahlten Prozenten, das ganze Weltkapital über die Häupter der Wolgamütter hereinbrechen ließ. Aber die Maschine der bourgeoisen öffentlichen Meinung funktioniert so systematisch, selbstsicher, frech, und der kleinbourgeoise Kretinismus ist für sie ein so unschätzbarer Resonanzboden, daß schließlich Mistreß Snowden den Hauptvorrat ihrer Menschenliebe – den durch uns beleidigten Agenten des Imperialismus zuwendet.

Die Anbetung der bourgeoisen öffentlichen Meinung zieht für die Tätigkeit der Sozialreformisten unüberschreitbare Grenzen, die viel enger sind als die Grenzen der bourgeoisen Legalität. Man kann für die heutigen kapitalistischen Staaten das Gesetz feststellen, daß ihr Regime desto „demokratischer“, „liberaler“, „freier“ ist, je respektabler die nationalen Sozialisten sind, je stumpfsinniger die Anbetung der öffentlichen Meinung der Bourgeoisie durch die nationale Arbeiterpartei ist. Wozu braucht man über Macdonald einen äußeren Gendarmen einzusetzen, wenn schon in ihm selbst ein innerer sitzt?

Hier kann man die Frage nicht umgehen, deren Erwähnung allein schon eine Bedrohung der Respektabilität ist: wir meinen die Religion. Es ist noch nicht so lange her, daß Lloyd George die Kirche eine zentrale Kraftstation aller Parteien und Strömungen, d. h. der bourgeoisen öffentlichen Meinung als Ganzes, nannte. Für England ist dies besonders richtig. Nicht in jenem Sinne natürlich, als ob Lloyd George die wirklichen Inspirationen für seine Politik von der Religion erhielte, der Haß Churchills gegen Sowjetrußland durch das ungeduldige Streben, ins Himmelreich zu gelangen, hervorgerufen würde, und die Noten Lord Curzons unmittelbar aus der Bergpredigt geschöpft würden. Nein, die treibende Kraft ihrer Politik sind die sehr irdischen Interessen ihrer Bourgeoisie, die sie an die Macht gestellt hat. Aber jene „öffentliche Meinung“, die überhaupt nur die normale Arbeit des Mechanismus des Staatszwanges möglich macht, findet ihre wichtigste Ressource in der Religion. Die Rechtsnorm, die über die Menschen, über die Klassen, über die Gesellschaft gestellt ist als die ideale Peitsche, ist nur eine fade Umgestaltung der religiösen Norm, dieser himmlischen Peitsche, die über der exploitierten Menschheit erhoben wird. Letzten Endes ist es eine hoffnungslose Sache, in der Seele eines arbeitslosen Dockers die Unantastbarkeit der demokratischen Legalität durch die Kraft formaler Argumente aufrechtzuerhalten. Hier braucht man vor allem ein materielles Argument – den Polizisten mit dem Gummiknüttel hier auf Erden; und über ihm – als mystisches Argument, den ewigen Polizisten mit dem Blitz in der Hand im Himmel. Wenn aber im Kopfe selbst von „Sozialisten“ der Fetischismus der bourgeoisen Legalität sich mit dem Fetischismus der Epoche der Druiden vereint, so ergibt sich ja gerade als Resultat hiervon der ideale innere Gendarm, unter dessen Mitwirkung die Bourgeoisie (vorläufig) sich den Luxus einer annähernden Einhaltung des demokratischen Rituals gestatten kann.

Wenn wir von den Verrätereien und der Untreue der Sozialreformisten sprechen, so wollen wir damit durchaus nicht sagen, daß sie alle, oder wenigstens die Mehrzahl von ihnen, einfach verkäufliche Seelen seien. In dieser Form wären sie gar nicht für jene Rolle geeignet, die ihnen die bourgeoise Gesellschaft einräumt. Es ist sogar nicht wichtig, in welchem Maße ihr respektables Ehrgefühl des Kleinbourgeois sich durch den Titel eines Deputierten der loyalen Opposition oder durch das Portefeuille eines königlichen Ministers geschmeichelt fühlt. Obwohl hierin natürlich kein Mangel besteht.

Es genügt, daß die bürgerliche öffentliche Meinung, die ihnen in ruhigen Tagen gestattet, sich in der Opposition zu befinden, in der entscheidenden Minute, wenn es sich um Leben und Tod der bourgeoisen Gesellschaft oder wenigstens um ihre wichtigsten Interessen handelt – Krieg, Aufstand in Irland oder Indien, ein mächtiger Bergarbeiterstreik, die Sowjetrepublik in Rußland –, sich stets als fähig erwiesen hat, sie zur Einnahme jener politischen Position zu veranlassen, die für die kapitalistische Ordnung erforderlich ist. Ohne im geringsten den Wunsch zu haben, der Persönlichkeit Mister Hendersons die ihr gar nicht eigenen titanischen Ausmaße zu verleihen, können wir mit Sicherheit sagen, daß Mister Henderson mit dem Koeffizienten „Arbeiterpartei“ die wichtigste Stütze der bourgeoisen Gesellschaft in England ist. In den Köpfen der Henderson aber werden die Hauptelemente der bourgeoisen Erziehung und die Bruchstücke des Sozialismus durch den traditiouellen Zement der Religion zu einem Ganzen verkittet. Die Frage der sozialen Befreiung des englischen Proletariats kann nicht ernst gestellt werden, solange die Arbeiterbewegung nicht von Führern, Organisationen, Gesinnungen gesäubert wird, die eine erniedrigte, furchtsame, sklavische, feige, gemeine Anbetung der öffentlichen Meinung der Unterdrücker durch die Unterdrückten enthält. Zuerst muß der innere Gendarm abgetrieben werden, damit man den äußeren stürzen kann!

Die Kommunistische Internationale lehrt die Arbeiter die bourgeoise öffentliche Meinung und vor allem jene „Sozialisten“ verachten, die vor den Geboten der Bourgeoisie auf dem Bauche kriechen. Es handelt sich nicht um zur Schau getragene Verachtung, nicht um lyrische Tiraden und Verwünschungen – die Dichter der Bourgeoisie selbst haben mehr als einmal die Nerven derselben mit ihren frechen Herausforderungen besonders in Fragen der Religion, der Familie und der Ehe gekitzelt –, es handelt sich um die tiefe innere Freiheit der proletarischen Avantgarde von den geistigen Fallen und Schlingen der Bourgeoisie, um die neue revolutionäre öffentliche Meinung, die dem Proletariat gestatten würde, nicht durch Worte, sondern durch Taten, nicht durch Tiraden, sondern, wenn es nötig ist, mit den Stiefeln die Gebote der Bourgeoisie zu zertreten, indem es das sich frei gesetzte revolutionäre Ziel verwirklicht, das zu gleicher Zeit eine objektive Forderung der Geschichte ist.


Zuletzt aktualisiert am 3. Juli 2019