Leo Trotzki

Die neue Wirtschaftspolitik Sowjetrußlands
und die Perspektiven der Weltrevolution

* * *

Die Bedingungen des sozialistischen Aufbaus

Nach der Eroberung der Macht erhebt sich die Aufgabe des Aufbaus, vor allem des wirtschaftlichen Aufbaus, als schwierigstes und zentrales Problem. Die Lösung dieser Aufgabe hängt von Umständen verschiedener Art und verschiedener Tiefe ab:

  1. vom Niveau der Produktivkräfte und insbesondere vom Wechselverhältnis der Industrie und der Bauernwirtschaft;
     
  2. vom kulturellen und organisatorischen Niveau der Arbeiterklasse, die die Staatsmacht erobert hat;
     
  3. von der internationalen und nationalen politischen Situation – ob die Bourgeoisie endgültig besiegt ist oder noch Widerstand leistet, ob auswärtige militärische Interventionen stattfinden, ob die technischen Kopfarbeiter Sabotage treiben usw. usw.

Nach ihrer relativen Wichtigkeit müssen die Bedingungen des sozialistischen Aufbaus in der Reihenfolge angeordnet werden, wie wir sie aufgezählt haben. Die grundlegende Bedingung ist das Niveau der Produktivkräfte; darauf folgt das kulturelle Niveau des Proletariats und schließlich – die politische oder militärisch-politische Situation, in die das Proletariat nach der Machtergreifung gerät. Dies ist jedoch eine logische Reihenfolge. Praktisch aber stößt die Arbeiterklasse nach der Eroberung der Macht vor allem auf politische Schwierigkeiten. Bei uns waren es die weißgardistischen Fronten, die Interventionen u. a. m. Erst in zweiter Linie stößt die proletarische Avantgarde auf Schwierigkeiten, die sich aus dem mangelnden kulturellen Niveau der breiten Arbeitermassen ergeben. Und erst in dritter Linie wird sein wirtschaftlicher Aufbau durch Schranken begrenzt, die sich aus dem vorhandenen Niveau der Produktivkräfte ergeben.

Unsere Partei führte ihre Arbeit nach der Machtergreifung fast die ganze Zeit hindurch unter dem Druck der Bedürfnisse des Bürgerkrieges, und die Geschichte des wirtschaftlichen Aufbaus Sowjetrußlands in den fünf Jahren seiner Existenz ist nicht zu verstehen, wenn man sie bloß vom Standpunkt der ökonomischen Zweckmäßigkeit auffaßt. Man muß sie vor allem mit dem Maßstab der militärisch-politischen Notwendigkeit und erst in zweiter Linie mit dem Maß der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit messen.

Die ökonomische Vernunft fällt keineswegs immer mit der politischen Notwendigkeit zusammen. Wenn mir im Kriege die Gefahr des Ueberfalls durch eine weiße Garde droht, sprenge ich eine Brücke. Dies ist vom Standpunkt der abstrakten ökonomischen Zweckmäßigkeit eine Barbarei, aber vom politischen Standpunkt aus – eine Notwendigkeit. Und ich wäre ein Narr und ein Verbrecher, wenn ich nicht rechtzeitig die Brücke sprengen würde ...

Unsere Wirtschaft wurde umgebaut in erster Linie unter dem Druck der Notwendigkeit der militärischen Verteidigung der Macht der Arbeiterklasse. Wir wissen aus der Elementarschule des Marxismus, daß man aus der kapitalistischen Gesellschaft nicht mit einem Sprung in die sozialistische geraten kann. Und niemand von uns hat in dieser mechanischen Bedeutung die bekannten Worte Engels über „den Sprung aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit“ gedeutet; niemand glaubte, daß man nach Eroberung der Macht über Nacht die Gesellschaft umgestalten kann. Engels meinte in Wahrheit damit eine ganze Epoche revolutionärer Umgestaltungen, die im historischen Weltmaßstab einen richtigen „Sprung“ bedeutet. Aber vom Standpunkt der praktischen Arbeit ist dies kein Sprung, sondern ein ganzes System gegenseitig verbundener Reformen, Umgestaltungen, mitunter sehr detaillierter Maßnahmen.

Es ist ja klar, daß vom ökonomischen Standpunkt aus die Expropriation der Bourgeoisie insofern gerechtfertigt ist, wie der Arbeiterstaat fähig ist, die Expropriation der Betriebe auf neuer Grundlage zu organisieren. Jene durchgehende Massennationalisierung, die wir in den Jahren 1917–18 durchführten, entsprach der soeben genannten Bedingung nicht. Die organisatorischen Möglichkeiten des Arbeiterstaates blieben weit hinter der summarischen Nationalisierung zurück. Die Sache war aber die, daß wir diese Nationalisierung unter dem Druck des Bürgerkrieges vornahmen. Und es läßt sich leicht zeigen und begreifen, daß, wenn wir in ökonomischem Sinne hätten behutsamer handeln, – die Expropriation der Bourgeoisie mit „vernünftiger“ Stetigkeit hätten durchführen wollen, dies unsererseits eine außerordentliche politische Unvernunft und die größte Unvorsichtigkeit gewesen wäre. Bei einer solchen Politik hätten wir nicht die Möglichkeit gehabt, das fünfjährige Jubiläum in Moskau in Gesellschaft der Kommunisten aus aller Herren Länder zu feiern.

Man soll sich alle Eigentümlichkeiten unserer Lage vergegenwärtigen, wie sie nach dem 7. November 1917 war. Ja gewiß, wären wir nach dem Sieg der Revolution in Europa in die Arena der sozialistischen Entwicklung getreten, so hätte unsere Bourgeoisie das Herz in den Hosen, und es wäre leicht mit ihr fertig zu werden. Nach der Eroberung der Macht durch das russische Proletariat hätte sie nicht aufzumuksen gewagt. In diesem Fall hätten wir allein die Großbetriebe in die Hände nehmen und die mittleren und Kleinbetriebe einstweilen auf privatkapitalistischer Grundlage weiterwirtschaften lassen können; dann wären wir zu den mittleren Betrieben übergegangen, streng bedacht auf die organisatorischen und die Produktionsmöglichkeiten und -bedürfnisse. Eine solche Reihenfolge hätte entschieden der „ökonomischen Vernunft“ entsprochen. Aber leider nahm die politische Aufeinanderfolge der Ereignisse auch diesmal keine Rücksicht darauf. Es sei überhaupt daran erinnert, daß die Revolutionen an sich den äußeren Ausdruck dafür bilden, daß die Welt nicht von „ökonomischer Vernunft“ regiert wird. Die sozialistische Revolution hat erst die Aufgabe, die Herrschaft der Vernunft auf dem Gebiete der Wirtschaft und dadurch auch auf allen anderen Gebieten des öffentlichen Lebens zu statuieren.

Als wir zur Macht gelangten, stand der Kapitalismus in der ganzen Welt noch fest auf den Beinen (und er steht auch jetzt noch), aber unsere Bourgeoisie wollte keineswegs glauben, daß der Oktoberumsturz ganz ernst war und von langem Bestand: in ganz Europa, in der ganzen Welt steht die Bourgeoisie am Ruder, und bei uns, in diesem rückständigen Rußland soll das Proletariat herrschen!? Die russische Bourgeoisie, die uns haßte, wollte uns nicht ernst nehmen. Die ersten Dekrete der Revolutionsregierung wurden höhnisch aufgenommen: man ignorierte sie, man befolgte sie nicht. Selbst die Zeitungsverkäufer – die ja gewiß keine Helden sind – wollten die revolutionären Maßnahmen der Arbeiterregierung nicht ernst nehmen. Die Bourgeoisie glaubte, all das wäre bloß ein tragischer Scherz, ein Mißverständnis. Wie konnte man unserer Bourgeoisie und ihren Schleppenträgern den Respekt vor der neuen Regierung anders beibringen als durch Enteignung ihres Eigentums? Einen anderen Weg gab es nicht. Jede Fabrik, jede Bank, jedes Kontor, jeder Laden, jedes Advokatenbüro bildete eine Festung gegen uns. Sie lieferten der kriegerischen Konterrevolution die materielle Basis und die organische Verbindung. Die Banken unterstützten in jener Periode fast offen die Saboteure, indem sie den streikenden Beamten die Gehälter auszahlten.

Deshalb faßten wir die Frage nicht vom Standpunkt der abstrakten wirtschaftlichen Vernunft (Kautskys, Otto Bauers, Martows u. a. impotenten Politiker), sondern vom Standpunkt der Bedürfnisse des revolutionären Krieges auf. Es galt, den Feind zu zerschmettern, ihn der Nahrungsquellen zu berauben, unabhängig davon, in welchem

Maße die organisatorische Wirtschaftsarbeit dem nachkam. Auf dem Gebiet des wirtschaftlichen Aufbaus waren wir in jener Periode gezwungen, unsere Bemühungen auf die elementarsten Aufgaben zu konzentrieren: materiell halbwegs die Existenz des Arbeiterstaates zu unterstützen, die Rote Armee, die diesen Staat an den Fronten verteidigte, und jenen Teil der Arbeiterklasse, der in den Städten verblieb, zu verpflegen und zu versorgen (aber dies schon in zweiter Linie). Die primitive Staatswirtschaft, die – schlecht oder recht – diese Aufgaben bewältigte, erhielt später die Bezeichnung „Kriegskommunismus“.


Zuletzt aktualisiert am 4. Juli 2019