Leo Trotzki

Die neue Wirtschaftspolitik Sowjetrußlands
und die Perspektiven der Weltrevolution

* * *

Die Kräfte und die Mittel der beiden Lager

Wohin fühlt uns die „Nep“: zum Kapitalismus oder zum Sozialismus? Das ist natürlich die Kardinalfrage. Der Markt, der freie Getreidehandel, die Konkurrenz, die Verpachtungen, die Konzessionen, – was hat das alles zur Folge? Wenn man dem Teufel einen Finger reicht, muß man ihm da nicht die Hand, den Arm und schließlich den ganzen Körper geben? Schon jetzt haben wir das Privatkapital im Handel, besonders auf dem Wege zwischen Stadt und Land. Das private Handelskapital macht bei uns zum zweiten Mal das Stadium der ursprünglichen kapitalistischen Akkumulation durch, während der Arbeiterstaat die Periode der ursprünglichen sozialistischen Akkumulation durchmacht. Sobald das private Handelskapital wächst, geht sein Bestreben dahin, in die Industrie einzudringen. Der Staat verpachtet an Privatunternehmer Fabriken und Betriebe. Die Akkumulation des Privatkapitals geschieht folglich nicht allein im Handel, sondern auch in der Industrie. Wird es sich denn nicht herausstellen, daß die Herren Ausbeuter, – die Schieber, Händler, Pächter, Konzessionäre – immer mächtiger und mächtiger werden unter dem Schutz des Arbeiterstaates, einen immer größeren Teil der nationalen Wirtschaft beherrschen, mit Hilfe des Marktes die Elemente des Sozialismus aufsaugen und dann, im gegebenen Moment, auch die Staatsmaschinerie an sich reißen? Denn wir wissen ja, ebenso gut wie Otto Bauer selbst, daß die Oekonomie die Basis und die Politik der Ueberbau ist. Bedeutet denn all das in Wirklichkeit nicht, daß die Nep den Uebergang zur kapitalistischen Restauration bildet?

Wenn wir abstrakt eine so abstrakt gestellte Frage beantworten, können wir natürlich nicht umhin, anzuerkennen, daß die Gefahr einer kapitalistischen Restauration nicht ausgeschlossen ist, wie überhaupt die Gefahr einer vorübergehenden Niederlage im Prozeß des Kampfes überhaupt nie ausgeschlossen ist. Als wir mit Koltschak und Denikin, hinter denen die Entente stand, Krieg führten, war eine Niederlage unsererseits durchaus möglich, und Kautsky wartete in seiner Frömmigkeit tagein tagaus darauf. Aber indem wir die theoretische Möglichkeit der Niederlage berücksichtigten, orientierten wir praktisch unsere Politik nach dem Siege. Das Kräfteverhältnis schloß jedenfalls unseren Sieg nicht aus. Diesem Kräfteverhältnis fügten wir den festen Willen und die richtige Strategie hinzu und wir siegten. Auch jetzt geht der Kampf zwischen denselben Feinden: dem Arbeiterstaat und dem Kapitalismus, aber nicht auf dem Kriegsschauplatz, sondern auf der Wirtschaftsarena. Wenn im Bürgerkriege die Rote Armee einerseits und die weiße andererseits um den Einfluß auf die Bauern kämpften, so geht jetzt der Kampf zwischen dem Staatskapital und dem Privatkapital um den Bauernmarkt. Im Kampfe gilt es, möglichst völlig und genau die Kräfte und Mittel sowohl des Gegners wie die eigenen zu übersehen. Wie verhält es sich nun damit?

Unser Hauptmittel im Wirtschaftskampfe auf der Basis des Marktes ist die Staatsgewalt. Nur die reformistischen Tröpfe können die Bedeutung dieses Werkzeuges verkennen. Die Bourgeoisie versteht dies ausgezeichnet. Das beweist ihre ganze Geschichte.

Ein anderes Werkzeug in den Händen des Proletariats bilden die wichtigsten Produktivkräfte des Landes: das ganze Eisenbahnnetz, die ganze Industrie, der überwiegende Teil der Urproduktion befinden sich unter unmittelbarer wirtschaftlicher Leitung der Arbeiterklasse.

Ihm, dem Arbeiterstaat, gehört auch der Grund und Böden, und der Bauer entrichtet für ihn Millionen und Abermillionen Naturalsteuer im Jahr.

In den Händen der Arbeiterregierung liegt die Staatsgrenze; die ausländischen Waren, das ausländische Kapital hat überhaupt Zutritt in das Land nur innerhalb der Grenzen, in denen der Arbeiterstaat es für wünschenswert und zulässig hält.

Das sind die Werkzeuge und die Mittel des sozialistischen Aufbaues.

Der Gegner hat natürlich die Möglichkeit, zu akkumulieren, wenn auch unter der Arbeiterregierung, indem er vor allem sich den freien Getreidehandel zunutze macht. Das Handelskapital kann in die Industrie eindringen und dringt auch jetzt schon ein, pachtet Betriebe, erzielt Profite, wächst. All das ist unzweifelhaft so. Aber welches ist das quantitative Kräfteverhältnis der beiden Kämpfenden? Was ist die Dynamik dieser Kräfte? Auch auf diesem Gebiete, wie auf allen anderen, schlägt die Quantität in Qualität um. Wären die wichtigsten Produktivkräfte des Landes in die Hände des Privatkapitals geraten, dann könnte natürlich von einem sozialistischen Aufbau nicht die Rede sein, und die Tage der Arbeiterregierung wären gezählt. Wie groß ist diese Gefahr? Wie nahe ist sie? Auf diese Frage können nur Tatsachen und Ziffern antworten. Wir wollen die wichtigsten und notwendigsten anführen.

Unser Eisenbahnnetz bildet mit seinen 63.000 Werst Strecke und über 800.000 Arbeitern und Angestellten das alleinige Eigentum des Staates. Niemand wird doch leugnen, daß das Eisenbahnnetz einen sehr wichtigen, in vieler Hinsicht entscheidenden Faktor der Wirtschaft darstellt, und diesen Faktor denken wir nicht aus der Hand zu geben.

Betrachten wir ferner die Industrie. Auch jetzt, bei der neuen Wirtschaftspolitik, bilden sämtliche Industrieunternehmen ohne Ausnahme das Eigentum des Staates. Freilich, einige dieser Betriebe werden verpachtet. Aber in welchem Verhältnis stehen jene Betriebe, die vom Staate auf eigene Kosten bewirtschaftet werden, zu denen, die der Staat verpachtet? Dieses Verhältnis wird aus folgenden Zahlen ersichtlich: auf Staatskosten arbeiten über 4.000 Betriebe, die im ganzen etwa 1.000.000 Arbeiter beschäftigen; verpachtet sind weniger als 4.000 Betriebe, die im ganzen ca. 80.000 Arbeiter beschäftigen. Das heißt soviel, daß jeder Staatsbetrieb durchschnittlich 207 Arbeiter beschäftigt, jeder verpachtete aber – 17 Arbeiter. Die Erklärung ist darin zu finden, daß verpachtet wurden die untergeordneten zweitgradigen und hauptsächlich drittgradigen Betriebe der Leichtindustrie. Aber auch die verpachteten Betriebe befinden sich nur etwas mehr als zur Hälfte (51%) in der Ausbeutung der Privatkapitalisten; die übrigen Pächter sind einzelne Staatsorgane und Genossenschaften, die laut Vertrag Industriebetriebe vom Staate pachten. Mit anderen Worten, ca. 2.000 der kleinsten Betriebe, die 40 – 50.000 Arbeiter beschäftigen, werden vom Privatkapital ausgebeutet, dem 4.000 der mächtigsten und bestinstallierten Betriebe gegenüberstehen, die ungefähr 1.000.000 Arbeiter beschäftigen und vom Sowjetstaate ausgebeutet werden. Es wäre lächerlich und dumm, vom Sieg des Kapitalismus „überhaupt“ zu reden und diese Tatsachen und Zahlen zu übersehen. Gewiß, die verpachteten Betriebe machen den Staatsbetrieben Konkurrenz und, abstrakt gesprochen, kann man sagen: wenn die verpachteten Betriebe sehr gut und die Staatsbetriebe sehr schlecht wirtschaften würden, so würde nach einer Reihe von Jahren das Privatkapital das Staatskapital aufsaugen. Aber einstweilen sind wir noch nicht so weit. Die Kontrolle des Wirtschaftsprozesses gehört der Staatsmacht, und diese Macht liegt in den Händen der Arbeiterklasse. Nach Wiederherstellung des Marktes hat der Arbeiterstaat natürlich eine Reihe von Veränderungen in den Rechtsnormen herbeigeführt, die notwendig waren, um die Möglichkeit des Marktverkehrs zu sichern. Insofern diese juristischen und administrativen Reformen die Möglichkeit der kapitalistischen Akkumulation eröffnen, stellen sie indirekte, aber sehr wichtige Zugeständnisse an die Bourgeoisie dar. Aber unsere neue Bourgeoisie kann diese Zugeständnisse bloß nach dem Maß ihrer ökonomischen und politischen Ressourcen ausnutzen. Ihre ökonomischen Ressourcen haben wir gesehen: sie sind mehr als bescheiden. Ihre politischen Ressourcen sind gleich Null. Und wir werden dafür Sorge tragen, daß sie in politischer Hinsicht keine „Akkumulation“ hat. Man vergesse nicht, daß der Kredit und Steuerapparat sich in den Händen des Arbeiterstaates befindet und ein sehr wichtiges Werkzeug im Kampfe zwischen der Staatsindustrie und der Privatindustrie darstellt.

Freilich, im Handel ist die Rolle des Privatkapitals beträchtlicher. Genaue Daten diesbezüglich haben wir einstweilen noch nicht. Laut annähernder Berechnung unserer Genossenschaftler beträgt das private Handelskapital 30% und das staatlich-genossenschaftliche etwa 70% des im Umlauf befindlichen Handelskapitals. Das Privatkapital spielt hauptsächlich eine Vermittlerrolle zwischen der Bauernwirtschaft und der Industrie und teilweise zwischen den verschiedenen Zweigen der Industrie. Aber die wichtigsten Industrieunternehmungen liegen in den Händen des Staates. Der Staat hat auch den Schlüssel zum Außenhandel. Der Staat ist der Hauptkäufer und Verkäufer auf dem Markte. Unter diesen Umständen kann die Kooperation mit genügend Erfolg mit dem Privatkapital konkurrieren und je weiter um so mehr. Dazu sei wiederum daran erinnert, daß die Staatsschere ein sehr wichtiges Instrument ist: sie schneidet rechtzeitig die privatkapitalistische Krone ab, damit der Baum nicht in den Himmel wachse.

Theoretisch behaupteten wir stets, daß das Proletariat nach der Ergreifung der Macht noch während einer sehr langen Zeit gezwungen sein wird, neben den Staatsbetrieben Privatbetriebe zu dulden, die technisch weniger vollkommen sind und sich weniger zentralisieren lassen. Wir haben niemals gezweifelt, daß das Verhältnis zwischen den Staatsbetrieben und Privatbetrieben und in hohem Grade auch das Verhältnis zwischen den einzelnen Staatsbetrieben oder ihren Gruppen geregelt sein werde durch den Markt in Form der Geldberechnung. Aber dadurch gaben wir zu, daß parallel mit dem Prozeß der sozialistischen Reorganisation der Wirtschaft auch der Prozeß der privatkapitalistischen Akkumulation fortdauern wird. Uns kam jedoch die Befürchtung nicht in den Kopf, daß die private Akkumulation das Wachsen der Staatswirtschaft einholen und verschlucken würde. Wieso und woher kommt also das Gerede vom unvermeidlichen Sieg des Kapitalismus oder der angeblich schon erfolgten „Kapitulation“ unsererseits? Nur daher, weil wir die Kleinbetriebe nicht einfach in Privathänden ließen, sondern sie zuerst nationalisierten und sogar versuchten, sie teilweise auf Staatskosten zu führen, und sie nachher erst verpachteten. Aber wie man dieses wirtschaftlichen Zickzack auch bewerten mag – als Notwendigkeit, die sich aus der ganzen Situation ergab, oder als taktischen Fehler, – es ist klar, daß diese Wendung oder dieser „Rückzug“ am Kräfteverhältnis zwischen der Staatsindustrie und der verpachteten Privatindustrie nichts ändert: auf der einen Seite steht die Staatsgewalt, die das Eisenbahnnetz in ihren Händen hat und eine Million Arbeiter beschäftigt; auf der anderen Seite stehen ca. 60.000 Arbeiter, die vom Privatkapital ausgebeutet werden. Wo liegt hier der Grund anzunehmen, daß unter diesen Umständen der Sieg der kapitalistischen Akkumulation gesichert sei?

Es ist klar, daß die Haupttrümpfe auf unserer Seite sind, mit Ausnahme eines einzigen, sehr wesentlichen Trumpfes: hinter dem Privatkapital, das in Rußland arbeitet, steht das Weltkapital. Wir alle leben noch in kapitalistischer Umkreisung. Deshalb kann und muß man die Frage aufwerfen, ob unser keimender Sozialismus, der noch mit kapitalistischen Mitteln wirtschaftet, nicht vom Weltkapitalismus aufgekauft werden wird.

Zu einer derartigen Operation gehören zwei Seiten: eine, die kauft, und die andere, die verkauft.

Die Macht gehört aber uns, der Arbeiterklasse. Von ihr hängen die Konzessionen ab, deren Inhalt und Ausmaß. Der Außenhandel ist monopolisiert. Das europäische Kapital versucht eine Bresche in die Monopole zu schlagen. Aber das soll nicht sein. Das Monopol des Außenhandels hat für uns eine prinzipielle Bedeutung. Es dient als ein Mittel des Schutzes gegen den Kapitalismus, der natürlich nicht abgeneigt wäre, unter bestimmten Umständen den keimenden Sozialismus aufzukaufen, nachdem er sich als unfähig erwiesen hat, ihn militärisch zu zerschmettern ... Wie es sich jetzt mit den Konzessionen verhält, davon sprach hier Genosse Lenin: Viele Diskussionen, wenig Konzessionen. (Heiterkeit) Wodurch ist das zu erklären? Eben dadurch, daß eine Kapitulation vor dem Kapitalismus unsererseits nicht vorhanden ist und nicht vorhanden sein wird. Freilich, die Anhänger der Wiederaufnahme der Beziehungen mit Sowjetrußland schrieben und sprachen wiederholt davon, daß der Weltkapitalismus, der die größte Krise durchmacht, Sowjetrußland braucht: England braucht den russischen Markt, Deutschland – das russische Getreide usw. usw. Es könnte scheinen, daß dem so ist, wollte man die Welt pazifistisch betrachten, d. h. vom Gesichtspunkt des „gesunden Menschenverstandes“, der ja stets pazifistisch ist (Heiterkeit), weswegen er ja auch ins Hintertreffen gerät. Es könnte scheinen, daß das englische Kapital aus aller Kraft nach Rußland drängen müßte; man könnte glauben, daß die französische Bourgeoisie die deutsche Technik hierher lenken müßte, um auf diese Weise neue Quellen zur Bezahlung der deutschen Kriegsschuld zu schaffen. Aber das geschieht nicht. Warum? Darum, weil wir in einer Epoche der völligen Störung des kapitalistischen Gleichgewichtes leben, in einer Epoche der sich kreuzenden ökonomischen, politischen und militärischen Krisen, in einer Epoche der Labilität, der Ungewißheit und der beständigen Unruhe. Das gibt der Bourgeoisie nicht die Möglichkeit, eine Politik zu führen, die auf eine größere Periode berechnet wäre, denn eine solche Politik verwandelt sich sofort in eine Gleichung mit zu viel Unbekannten. Der Handelsvertrag mit England wurde schließlich unterzeichnet. Aber dies geschah bereits vor änderthalb Jahren; in Wirklichkeit aber kaufen wir in England nur gegen Gold, und die Konzessionen befinden sich bis jetzt noch im Stadium der Beratungen.

Würde die europäische Bourgeoisie und in erster Linie die englische Bourgeoisie glauben, daß die Aufnahme einer weitgehenden Zusammenarbeit mit Rußland unverzüglich irgendwelche ernsthafte Verbesserungen in der Wirtschaftslage Europas erzeugen könnte, so hätte Lloyd George und Konsorten die Sache in Genua gewiß anders ausgehen lassen. Aber sie verstehen, daß ein Zusammengehen mit Rußland sofort keine wesentlichen und krassen Veränderungen hervorrufen kann. In wenigen Wochen oder sogar Monaten kann der russische Markt die englische Arbeitslosigkeit nicht beseitigen. Rußland kann bloß nach und nach in das Wirtschaftsleben Europas und der Welt als immer wachsender Faktor eintreten; nach seinen Dimensionen, seinen Naturschätzen, der Stärke seiner Bevölkerung und insbesondere seiner durch die Revolution geweckten Aktivität nach kann Rußland zur wichtigsten Wirtschaftskraft Europas und der ganzen Welt werden, aber nicht auf einmal, nicht von heute auf morgen, sondern im Verlauf einer Reihe von Jahren. Rußland könnte zum mächtigen Käufer und Lieferanten werden, wenn es sofort Kredite und folglich auch die Möglichkeit bekommen hätte, seine wirtschaftliche Entwicklung zu beschleunigen. Nach fünf, nach zehn Jahren wäre es zum erstklassigen Markt für England geworden. Aber dazu bedarf es, daß die englische Regierung glaubt, daß sie nach zehn Jahren noch bestehen wird und daß das englische Kapital nach zehn Jahren genügend stark sein wird, um den russischen Markt beizubehalten. Mit anderen Worten, die Politik des wirklichen wirtschaftlichen Zusammenarbeitens mit Rußland kann bloß eine Politik auf breiter Grundlage sein. Die Sache ist aber die, daß die Nachkriegs-Bourgeoisie bereits unfähig ist, eine Politik im großen Maßstab zu führen. Sie weiß nicht, was ihr der morgige und noch weniger, was ihr der übermorgige Tag bringen wird. Und das ist eines der Merkmale ihres historischen Unterganges.

Diesem scheint freilich die Tatsache zu widersprechen, daß Leslie Urquhart versucht hat, einen Vertrag für ganze 99 Jahre abzuschließen. In Wirklichkeit ist aber der Widerspruch scheinbarer Natur. Urquharts Berechnung ist einfach und in ihrer Art richtig: wenn der Kapitalismus in England und in der ganzen Welt 99 Jahre lang noch bestehen wird, so wird Urquhart seine Konzessionen auch in Rußland behalten. Wie aber, wenn die proletarische Revolution nicht nach 99 und sogar nicht nach 9 Jahren, sondern schon viel früher ausbrechen wird? Gewiß wird Rußland nicht der Ort sein, wo die expropriierten Eigentümer der ganzen Welt ihr Eigentum behalten werden. Aber im russischen Volke sagt man: Wer den Kopf verliert, der weint um sein Haar nicht ...

Schon zu der Zeit, als wir langfristige Konzessionen anboten, zog Kautsky den Schluß, daß wir an das baldige Kommen der proletarischen Revolution nicht glauben. Jetzt muß er direkt schließen, daß wir die Revolution mindestens auf 99 Jahre verschieben. Eine derartige Schlußfolgerung, die dieses ehrwürdigen, aber etwas ramponierten Theoretikers durchaus würdig wäre, wäre jedoch unbegründet. Wenn wir diese oder jene Konzession unterzeichnen, übernehmen wir in Wirklichkeit die Verantwortung bloß für unsere Gesetzgebung und unsere Administration gegenüber dieser Konzession, aber keineswegs für die Arbeit der Weltrevolution. Diese letztere wird manch andere, noch größere Hindernisse überspringen, nicht nur unsere Konzessionsverträge.

Die scheinbare „Kapitulation“ der Sowjetregierung vor dem Kapitalismus leiten die Sozialdemokraten nicht aus einer Analyse der Tatsachen und Zahlen ab, sondern aus Gemeinplätzen, aus dem Terminus „Staatskapitalismus“, der mitunter bei uns in bezug auf unsere Staatswirtschaft gebraucht wird. Ich halte diese Bezeichnung weder für genau, noch überhaupt für glücklich gewählt. Genosse Lenin hat bereits in seinem Vortrag die Notwendigkeit hervorgehoben, diesen Terminus in Anführungsstrichen zu benutzen, d. h. ihn mit der größten Vorsicht zu gebrauchen.

Das ist ein höchst notwendiger Hinweis, denn nicht jedermann wendet diese Vorsicht an. In Europa wird dieser Terminus ganz falsch verstanden, zum Teil sogar auch unter Kommunisten. Viele glauben, daß unsere Staatsindustrie ein wahrer Staatskapitalismus in dem bei Marxisten gebräuchlichen Sinne dieses Wortes ist. Dem ist natürlich nicht so. Wenn das auch „Staatskapitalismus“ ist, so nur in so großen Anführungsstrichen, daß die letzteren größer sind, als der Terminus selbst. Und zwar warum? Es ist klar: bei Anwendung dieses Terminus darf die Klassennatur des Staates nicht übersehen werden.

Es ist am Platze hier zu erinnern, daß dieser Terminus selbst sozialistischen Ursprungs ist. Jaurès und nach ihm überhaupt alle französischen Reformisten sprachen von einer „konsequenten Sozialisierung der demokratischen Republik“. Wir, Marxisten, entgegneten darauf, daß solange die Macht in den Händen der Bourgeoisie ist, die Sozialisierung keine Sozialisierung ist und nicht zum Sozialismus, sondern bloß zum Staatskapitalismus führt. Mit anderen Worten, das Individualeigentum der einzelnen Kapitalisten an den einzelnen Betrieben, Eisenbahnen usw. würde ersetzt werden durch das Kollektiveigentum dieser selben Bourgeois-Firma, die sich Staat nennt, an einer ganzen Gruppe von Betrieben, Eisenbahnen usw. Insofern die Bourgeoisie am Ruder ist, beutet sie als Ganzes mit Hilfe des Staatskapitalismus das Proletariat aus, ebenso wie der einzelne Bourgeois mit Hilfe des Individualeigentums „seine“ Arbeiter ausbeutet. So wurde die Bezeichnung „Staatskapitalismus“ aufgeworfen oder jedenfalls polemisch gebraucht von den revolutionären Marxisten gegen die Reformisten, um klarzustellen und zu zeigen, daß die wirkliche Sozialisierung erst nach der Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse anfängt. Die Reformisten bauten bekanntlich ihr ganzes Programm auf Reformen. Wir aber behaupteten, daß die Epoche der sozialistischen Reformen erst nach der Machtergreifung durch das Proletariat beginnt. Darin bestand die Meinungsverschiedenheit. Jetzt befindet sich die Regierungsgewalt in Rußland in den Händen der Arbeiterklasse. Die Hauptindustrie liegt in den Händen des Arbeiterstaates. Da gibt es keine Klassenausbeutung, folglich auch keinen Kapitalismus, obwohl seine Formen da sind. Die Produktion des Arbeiterstaates ist ihrer Entwicklungstendenz nach eine sozialistische Produktion, aber für ihre Entwicklung bedient sie sich der Methoden, die von der kapitalistischen Wirtschaft geschaffen worden sind und die wir lange noch nicht liquidiert haben.

Unter dem wahren Staatskapitalismus, d. h. unter der Macht der Bourgeoisie, bedeutet das Anwachsen des Staatskapitalismus eine Bereicherung des bürgerlichen Staates, dessen gesteigerte Macht über die Arbeiterklasse. Bei uns bedeutet das Wachstum der staatlichen Sowjetindustrie das Wachstum des Sozialismus selbst, die unmittelbare Steigerung der Macht des Proletariats.

Daß prinzipiell neue wirtschaftliche Erscheinungen sich in alter Hülle entwickeln können, haben wir in der Geschichte wiederholt gesehen, und zwar in den verschiedensten Kombinationen. Als in Rußland die Industrie sich zu entwickeln anfing, noch zur Zeit der Leibeigenschaft, unter Peter I. und später, – da wurden die Fabriken, die nach damaligem europäischen Muster geschaffen wurden, auf Grundlage der Leibeigenschaft aufgebaut, d. h. an die Fabriken wurden, als Arbeitskraft, die leibeigenen Bauern gebunden. Diese Fabriken wurden Possessionsbetriebe genannt. Kapitalisten, wie die Strogonows, Demidows usw., Besitzer dieser Betriebe, entwickelten den Kapitalismus in der Hülle der Leibeigenschaft. Ebenso tut der Sozialismus notgedrungen seine ersten Schritte in kapitalistischer Verhüllung. Der Uebergang zu vollendeten sozialistischen Methoden läßt sich nicht durch einen Sprung über den eigenen Kopf machen, insbesondere wenn der Kopf nicht besonders gewaschen und gekämmt ist, wie es unser russischer Kopf, mit Verlaub zu sagen, ist. Wir müssen noch lernen und lernen.


Zuletzt aktualisiert am 4. Juli 2019