Leo Trotzki

 

Europa und Amerika


I. Imperialistische Expansion der Vereinigten Staaten

Aus der Machtstellung der Vereinigten Staaten und der Schwächung Europas ergibt sich mit Notwendigkeit eine Verschiebung der Weltkräfte, Märkte und Einflusssphären. Nordamerika wird expandieren, Europa – zusammenschrumpfen, Darin besteht jetzt das Grundprinzip aller in der kapitalistischen Welt sich abspielenden wirtschaftlichen Prozesse. Die U.S.A. hat die große Weltbahn betreten und dringt überall vor. Das vollzieht sich streng „pazifistisch“, d.h. einstweilen noch ohne Anwendung von Waffenmacht, „ohne Blutvergießen“ – wie die heilige Inquisition zu sagen pflegte, wenn sie die Menschen lebendig auf dem Scheiterhaufen verbrannte. Diese Expansion ist „friedlich“, weil die Gegner sich vor dem neuen Machtfaktor zähneknirschend zurückziehen und einen offenen Konflikt vermeiden. Das ist das Wesen der „pazifistischen“ Politik der Vereinigten Staaten. Ihr Hauptinstrument ist jetzt das Finanzkapital mit seinem Goldkern: der Goldreserve von 19 Milliarden Goldmark. Diese furchtbare, alles niederschmetternde Gewalt wirkt im heruntergekommenen Europa besonders durchschlagend. Eine Anleihe geben oder nicht geben – diese Frage entscheidet in manchen Ländern Europas nicht nur das Schicksal der regierenden Partei, sondern auch des bürgerlichen Regimes in seiner Gesamtheit. Die Vereinigten Staaten haben bisher in die Wirtschaft anderer Länder 10 Milliarden Dollar investiert, darunter über 2 Milliarden in Europa, nicht eingerechnet jene 10 Milliarden, die sie für die Zerstörung Europas hergegeben haben. Jetzt werden die Anleihen bekanntlich für den „Wiederaufbau“ Europas bewilligt. Beides – Zerstörung und Wiederaufbau – ergänzen sich vorzüglich, während die Zinsen in denselben Topf fließen. Die größten Summen haben die Vereinigten Staaten in die Wirtschaft Lateinamerikas investiert, das sich in ökonomischer Hinsicht immer mehr in eine „Dominion“ U.S.-Amerikas verwandelt. Auf Südamerika folgt Kanada und erst nach diesem – Europa. Die übrigen Länder haben weit weniger erhalten.

Vom Standpunkte der amerikanischen Machtstellung betrachtet, ist die Summe von 10 Milliarden bedeutungslos. Aber sie wächst außerordentlich schnell, und das Entwicklungstempo ist für das Verständnis dieses Prozesses am wichtigsten. In den sieben Nachkriegsjahren hat U.S.-Amerika gegen 6 Milliarden im Auslande investiert; fast die Hälfte dieser Summe ist in den letzten beiden Jahren zugeflossen, wobei das Jahr 1925 weit größere Kredite aufweist als das vorhergehende, 1924.

In den letzten Jahren vor dem Kriege haben die Vereinigten Staaten ausländisches Kapital in Anspruch genommen, es von Europa erhalten und in ihrer Industrie verwertet. Die steigende Produktionskraft führte, an einem bestimmten Entwicklungsstadium angelangt, zur schnellen Entstehung des Finanzkapitals. Wie bei der Erwärmung des Wassers große Wärmemengen latent bleiben, ehe das ganze Wasser in Dampf übergegangen ist, so bedurfte es auch hier der Einlage großer Mittel, ehe auf dem Wege der „Verdampfung“ ein freies gasförmiges Finanzkapital zustande kommen konnte. Aber wenn dieser Prozess einmal begonnen hat, dann entwickelt er sich in einem wilden Tempo. Das, was man vor 2-3 Jahren (ein verschwindend geringer Zeitraum!) nur vermuten konnte, das entfaltet sich jetzt vor unseren Augen in seiner ganzen erschütternden Realität. Aber das Eigentliche steht noch bevor. Der Eroberungsfeldzug des amerikanischen Finanzkapitals ist nicht eine Sache von gestern und auch nicht von heute – er ist eine Sache von morgen.

Es ist sehr charakteristisch, dass das amerikanische Kapital im verflossenen Jahre früher als Staatsanleihen arbeitete, und jetzt – als Industrieanleihen. Die Bedeutung dieser Tatsache ist klar. „Wir haben Euch das Dawes-Regime gegeben, wir haben Euch die Möglichkeit gegeben, die deutsche und englische Währung in Ordnung zu bringen – wir sind unter gewissen Bedingungen nicht abgeneigt, es auch in Frankreich zu tun – aber das ist nur ein Mittel zum Zweck, der Zweck jedoch ist: wir wollen Eure Wirtschaft in unsere Hand nehmen!“ Ich habe dieser Tage im Organ der deutschen Schwerindustrie, dem „Tag“ einen Artikel mit der Überschrift „Dawes oder Dillon“ gelesen. Dillon ist einer der neuesten amerikanischen Finanzkondottiere, die speziell für Europa bestimmt sind. England hatte Cecil Rhodes – seinen letzten kolonialen Abenteurer großen Stils, der in Südafrika ein neues Land geschaffen hat. Die Cecil Rhodes werden jetzt in Amerika geboren, aber nicht für Südafrika, sondern für Mitteleuropa. Dillons Aufgabe ist, die deutsche Schwerindustrie um ein billiges Geld aufzukaufen. Zu diesem Zweck brachte er nur .50 Millionen Dollar zusammen! Europa ist jetzt billig zu haben, und Dillon macht mit seinen 50 Millionen in der Tasche vor keinen europäischen Grenzpfählen halt, er kümmert sich nicht um die Grenzen Deutschlands, Frankreichs, Luxemburgs, er will Kohle und Metall zusammenbringen und einen zentralisierten europäischen Trust schaffen. Er schert sich nicht um die politische Geographie, und vielleicht kennt er sie überhaupt nicht. Wozu auch? 50 Millionen Dollar sind im modernen Europa mehr wert als alle Geographie. Man behauptet, dass sein Plan darin bestehe, die mitteleuropäische Metallurgie zu vereinigen und sie dann dem amerikanischen Stahltrust, mit seinem König Gary, entgegenzusetzen. Wenn Europa sich also gegen den amerikanischen Stahltrust „verteidigt“, dann stellt sich bei näherer Betrachtung heraus, dass es sich um zwei amerikanische Haie handelt, die einander zunächst bekämpfen, um sich zu einem gewissen Zeitpunkt zu vereinigen, und um Europa um so besser und planmäßiger ausbeuten zu können. Und in diesem Sinne erörtert die deutsche Schwerindustrie die Frage: Dawes oder Dillon – ein Drittes gibt es nicht. Wer ist vorzuziehen? Dawes ist ein bis an die Zähne bewaffneter Gläubiger. Mit dem ist schlecht Kirschen essen. Dillon aber ist immerhin eine Art Kompagnon, zwar ein sehr unerwünschter, aber – einer, der vielleicht mit sich reden lassen wird ... Der Artikel schließt mit dem denkwürdigen Satz: „Dillon oder Dawes – das ist die deutsche Lebensfrage im Jahre 1926.“

Das Kontrollpaket der Aktien der vier wichtigsten Banken Deutschlands, der sogenannten „D“-Banken, ist bereits in die Hände der Amerikaner übergegangen. Die deutsche Ölindustrie neigt offenbar auch dazu, sich an die amerikanische Standard Oil zu hängen. Die Zinkbergwerke, die ehemals eine deutsche Firma besaß, gingen auf Harriman über, der damit das Monopol über die Zinkrohstoffe auf dem ganzen Weltmarkt erlangt hat.

Das amerikanische Kapital arbeitet en gros und en detail. In Polen trifft der amerikanisch-schwedische Streichholztrust die ersten vorbereitenden Maßnahmen. In Italien ist die Sache schon weiter gediehen. Sehr interessant ist die Vereinbarung, die amerikanische Firmen mit Italien treffen. Diesem wird sozusagen die Verwaltung des östlichen Marktes aufgetragen. Die Vereinigten Staaten werden Italien ihre Halbfabrikate schicken, damit Italien sie dem Geschmack des östlichen Verbrauches anpasse. Mit Kleinigkeiten gibt sich Amerika nicht ab; der großmächtige transozeanische Unternehmer ruft den apenninischen Kleinindustriellen herbei und sagt ihm: „Da hast du alles, was du brauchst – streiche es an und frisiere es für den Geschmack der Asiaten.“

In Frankreich ist es noch nicht so weit gekommen, Frankreich sträubt sich noch und tut noch groß. Aber es wird nicht mehr lange dauern. Man muss doch seine Valuta stabilisieren! Und das bedeutet: sich die amerikanische Schlinge umlegen. Alle müssen sich vor dem Schalter von Onkel Sam anstellen.

Wie viel hat die Amerikaner diese Situation gekostet? Einstweilen – verblüffend wenig. Ich habe schon Zahlen genannt: Die amerikanischen Investitionen im Auslande betragen 10 Milliarden, Kriegsanleihen nicht mitgerechnet. Auf Europa entfielen insgesamt 2½ Milliarden, und das genügt schon, damit Amerika sich in Europa „zu Hause“ fühlt. Ich habe versucht, einen Überschlag zu machen. Wenn man das Vermögen von ganz Europa in Rechnung zieht, so stellt sich heraus, dass der Amerikaner in die europäische Wirtschaft 1%, vielleicht noch weniger, eingelegt hat. Wenn die Wagschalen im Gleichgewicht sind, genügt der leiseste Druck eines Fingers, um ein Übergewicht herbeizuführen. Und die Amerikaner haben einstweilen diesen Fingerdruck ausgeübt und – sich damit das Recht der Kontrolle in Europa erworben. Europa – fehlt Kapital für den Wiederaufbau und Betriebskapital für das Aufgebaute. Man hat Gebäude und maschinelle Einrichtungen, die Hunderte von Millionen kosten, aber es fehlt an den paar – Millionen, die erforderlich sind, um den Betrieb in Gang zu bringen. Und der Amerikaner bringt diese paar Millionen und stellt Bedingungen. Er ist jetzt der Herr, er hat das letzte Wort.

Einige Genossen haben mir einen außerordentlich interessanten Artikel zur Verfügung gestellt, der von einem dieser neuen Cecil Rhodes stammt, die jetzt in Amerika auftauchen und deren Namen wir uns merken müssen. Das ist nicht sehr angenehm, aber man wird es wohl oder übel tun müssen. Haben wir uns doch den Namen Dawes gemerkt! Der ganze Dawes ist keinen Groschen wert und doch stolpert ganz Europa über ihn. Morgen werden wir uns die mit den Namen Dillon oder Max Wirkler vertraut machen müssen, der letztere ist nämlich der Vizepräsident der „Gesellschaft für Finanzielle Versorgung“. Alles in der ganzen Welt an sich reißen, was nicht niet- und nagelfest ist – das nennt man „finanziell versorgen“. Max Wirkler spricht von der Tätigkeit seines Instituts in hochpathetischen, geradezu biblischen Tönen. Hier eine Blütenlese: „Wir beschäftigen uns mit der Finanzierung von Regierungen, lokalen und kommunalen Behörden und privaten Korporationen. Amerikanisches Geld hat Japan nach dem Erdbeben wiederaufbauen geholfen, amerikanische Fonds halfen zur Niederlage Deutschlands und Österreich-Ungarns und spielten eine sehr bedeutende Rolle bei dem Wiederaufbau dieser Länder.“ Sie haben also zuerst zerstört und dann wieder aufgebaut und jedes Mal ein gutes Geschäft gemacht. (Nur das japanische Erdbeben kam offenbar ohne amerikanisches Kapital zustande.) Aber hören wir weiter:

„Wir verleihen Geld an die holländischen Kolonien und Australien, an die argentinische Regierung und an die Städte der südafrikanischen Industrie, an die Salpetererzeuger von Chile, an brasilianische Kaffeeplantagen, an die Tabak- und Baumwollerzeuger in Kolumbien. Wir geben Geld her für die sanitären Projekte in Peru, an dänische Banken, schwedische Industrielle, norwegische Wasserkraftwerke, finnische Banken, tschechoslowakische Schwerindustrie, jugoslawische Eisenbahn, italienische öffentliche Arbeiten, spanische Telephongesellschaften“ usw. usw. Man kann sagen, was man will; das wirkt „überzeugend“! Es ist die Überzeugungskraft jener 60 Milliarden Dollar, die gegenwärtig in den amerikanischen Banken lagern. Diesen „lieblichen Klang“ des Goldes werden wir in der bevorstehenden historischen Periode noch öfters zu hören bekommen.

Gleich nach dem Kriege, als der „Völkerbund“ geschaffen wurde und die Pazifisten aller Länder, ein jeder auf seine Weise, das Blaue vom Himmel herunterlogen, machte der englische Ökonom George Paish einen augenscheinlich von den besten Absichten geleiteten Vorschlag, eine Völkerbundsanleihe zu Befriedigung und Wiederaufbau der ganzen Menschheit aufzunehmen. Er rechnete sich aus, dass zu diesem guten Zweck 35 Milliarden Dollar notwendig seien. U.S.-Amerika sollte sich an dieser Anleihe mit 15, England mit 5 und alle übrigen ebenfalls mit 15 Milliarden beteiligen. Nach diesem herrlichen Plan sollten die Vereinigten Staaten fast die Hälfte der großen Anleihe aufbringen, und da die übrigen Anteile zersplittert sind, würden die Vereinigten Staaten das „Kontrollpaket“ in Händen halten. Die Rettungsanleihe ist nicht zustandegekommen. Aber das, was sich jetzt abspielt, ist im Grunde genommen nur eine realere Verwirklichung dieses Projektes. Die U.S.A. bringt das Kontrollpaket der „Menschheitsaktion“ immer mehr an sich. Das ist ein großes Unternehmen. Aber auch ein sehr riskantes. Die Amerikaner werden bald Gelegenheit haben, sich davon zu überzeugen ...

 


Zuletzt aktualisiert am 27.7.2004