Leo Trotzki

 

Die Internationale Revolution und die Kommunistische Internationale

Dritter Teil: Die Ergebnisse und Perspektiven der chinesischen Revolution und ihre Lehren für die Länder des Ostens und die gesamte Komintern


Der Bolschewismus, der Menschewismus wie auch der linke Flügel der deutschen und internationalen Sozialdemokratie sind schließlich auf Grund der Analyse der Fehler und Tendenzen der Revolution von 1905 entstanden. Die Analyse der Erfahrungen der chinesischen Revolution besitzt jetzt für das internationale Proletariat keine geringere Bedeutung.

Allein, diese Analyse ist noch gar nicht in Angriff genommen. Noch mehr, sie ist sogar verboten. Die offizielle Literatur beschäftigt sich nur mit einem flüchtigen Zurechtstutzen der Tatsachen, damit dieselben in die Resolutionen des EKKI hineinpassen, obwohl die Unzulänglichkeit derselben ganz offenbar geworden ist. Der Programmentwurf versucht ebenfalls die scharfen Ecken des chinesischen Problems nach Möglichkeit zu beschneiden, bestätigt aber im wesentlichen die bisherige verhängnisvolle Linie des EKKI in der chinesischen Frage. Die Analyse eines der größten historischen Prozesse wird hier durch eine literarische Verteidigung bankrotter Schemas ersetzt.

 

1. Die Struktur der kolonialen Bourgeoisie

Der Programmentwurf lautet:

„Vorübergehende Verständigungen mit letzterer [der nationalen Bourgeoisie der Kolonialländer] sind nur zulässig, soweit sie den revolutionären Zusammenschluss der Arbeiter und Bauern nicht behindern und die Bourgeoisie gegen den Imperialismus tatsächlich kämpft.“ [Inprekorr, Nr.53, 2.6.1928, S.955-970, hier S.970]

Obwohl diese Formulierung absichtlich nur in einem Nebensatz aufgenommen worden ist, bildet sie doch eine der wichtigsten Feststellungen des Entwurfes, zum mindesten was die Länder des Ostens anbetrifft. Der Hauptsatz spricht selbstverständlich von der „Befreiung (der Arbeiter und Bauern) von dem Einfluss der nationalen Bourgeoisie“. Allein wir urteilen nicht grammatisch, sondern politisch, und zwar auf Grund der Erfahrungen. Darum sagen wir, dass der Hauptsatz hier nur eine Nebensache, und der Nebensatz die Hauptsache ist. Im Ganzen genommen ist diese Formel eine klassisch-menschewistische Schlinge für die Proletarier des Ostens.

Welche „vorübergehenden Verständigungen sind denn hier gemeint? In der Politik ist ja, ebenso wie in der Natur, alles „vorübergehend“. Vielleicht ist hier nur die Rede von rein praktischen Verständigungen von Fall zu Fall? Solchen scharf beschränkten und streng sachlichen Verständigungen, die jedes Mal einem ganz bestimmten Ziele dienen sollen, können wir selbstverständlich nicht abschwören. Zum Beispiel, wenn es sich um eine Verständigung mit den Kuomintangstudenten zu einer antiimperialistischen Demonstration handelt oder wenn es sich um die Unterstützung der Streikenden in den ausländischen Konzessionen durch die chinesische Kaufmannschaft handelt u. a. Ähnliche Fälle sind in Zukunft sogar in China absolut nicht ausgeschlossen. Doch was sollen hier dann die allgemein politischen Bedingungen:

„soweit sie (die Bourgeoisie) den revolutionären Zusammenschluss der Arbeiter und Bauern nicht behindert und einen tatsächlichen (!) Kampf gegen den Imperialismus führt?“

Die einzige „Bedingung“ einer jeden praktischen und sachlichen, einem bestimmten Zweck angepasste Verständigung mit der Bourgeoisie besteht darin, dass man weder direkt noch indirekt, weder für einen Tag noch für eine Stunde, weder die Organisationen noch die Fahnen vermischen darf, stets das Rote von dem Blauen unterscheiden muss, und nicht im geringsten Maße glauben soll, dass die Bourgeoisie fähig oder bereit wäre, einen wirklichen Kampf gegen den Imperialismus zu führen und die Arbeiter und Bauern nicht zu behindern. Für rein sachliche und praktische Verständigungen brauchen wir eine solche Bedingung nicht. Im Gegenteil, diese könnte nur schaden und unsere allgemeine Linie gegen die Bourgeoisie verwirren, denn der Kampf gegen die Bourgeoisie wird selbst für die kurze Frist einer „Verständigung“ nicht unterbrochen. Es ist längst gesagt worden, dass man rein praktische Verständigungen, die uns nicht im geringsten Maße politisch binden und uns zu gar nichts verpflichten, wenn es für den betreffenden Augenblick günstig ist, selbst mit dem Teufel eingehen kann. Doch es wäre unsinnig in diesem Falle zu verlangen, dass der Teufel sich überhaupt zum Christentum bekehren und seine Hörner nicht mehr gegen die Arbeiter und Bauern, sondern nur noch ausschließlich zu wohltätigen Zwecken gebrauchen soll. Wenn wir mit solchen Bedingungen hervortreten, so handeln wir im Grunde genommen wie Anwälte des Teufels, und drängen uns diesem zum Paten auf.

Der Programmentwurf sagt durch diese unsinnigen Bedingungen, welche die Bourgeoisie im voraus beschönigen (trotz des diplomatischen, zusätzlichen Charakters des betreffenden Satzes), dass hier gerade von dauerhaften politischen Blocks die Rede ist und nicht von vorübergehenden, einmaligen Verständigungen, aus praktischen Anlässen und zu streng sachlichen Zwecken. Was bedeutet aber in diesem letzteren Falle die Forderung, dass die Bourgeoisie „wirklich“ kämpfen und „nicht behindern“ soll? Sollen wir diese Bedingungen der Bourgeoisie selbst stellen und von ihr eine öffentliche Verpflichtung verlangen? Soviel man will. Sie wird sogar ihre Delegierten nach Moskau schicken, in die Bauerninternationale eintreten, als „sympathisierendes“ Mitglied der Kommintern beitreten und auch in die Rote Gewerkschaftsinternationale hineinsehen; mit einem Worte, sie wird alles versprechen, was ihr nur irgendwie ermöglicht, „mit unserer Unterstützung“ leichter und vollständiger ihre eigenen Arbeiter und Bauern zu betrügen und ihnen Sand in die Augen zu streuen ... bis zum nächsten Schanghaier Zwischenfall.

Oder geht es hier vielleicht nicht um politische Verpflichtungen von Seiten der Bourgeoisie, welche diese, wir wiederholen es, sofort geben würde, um uns auf diese Weise zu ihren Bürgen gegenüber den Arbeitermassen zu machen? Vielleicht geht es hierbei um eine „objektive“, „wissenschaftliche“ Einschätzung der betreffenden nationalen Bourgeoisie, sozusagen um eine „soziologische“ Expertise a priori ihrer Fähigkeiten zu kämpfen und nicht zu behindern? Doch o weh, wie es die ganz frischen Erfahrungen beweisen, hält eine solche Expertise a priori gewöhnlich die Experten zum Narren. Das wäre noch nicht schlimm, wenn nur diese allein.

Es kann keinen Zweifel darüber geben, dass in dem Text gerade von dauerhaften politischen Blocks die Rede ist. Es wäre überflüssig gewesen, praktische Verständigungen von Fall zu Fall in das Programm aufzunehmen, denn dazu würde eine sachliche taktische Resolution „zu den laufenden Tagesfragen“ genügen. Es geht hier um eine Rehabilitierung, um eine programmatische Festlegung des nach der Kuomintang orientierten Kurses von gestern, der die zweite chinesische Revolution abgewürgt hat, und der fähig ist, auch die nächste abzuwürgen.

Nach dem Gedankengang Bucharins, des eigentlichen Verfassers des Entwurfs, soll es sich hierbei gerade um eine allgemeine Einschätzung der Kolonialbourgeoisie handeln, deren Fähigkeit zu kämpfen und nicht zu behindern hier nicht durch ihren eigenen Schwur, sondern durch ein streng „soziologisches“, d.h. scholastisches Schema bewiesen werden soll, das speziell dieser opportunistischen Handlung angepasst wurde.

Um das deutlicher zu zeigen, führen wir hier dieselbe Bucharinsche Einschätzung der Kolonialbourgeoisie an. Nachdem er sich auf den „antiimperialistischen Inhalt der Kolonialrevolutionen“ und auf Lenin (ganz unzutreffenderweise) berufen hat, erklärt Bucharin:

„Die liberale Bourgeoisie in China hatte eine ganze Reihe von Jahren und nicht Monaten eine objektiv revolutionäre Rolle innegehabt, hat sich später aber verausgabt. Das war also ganz und gar nicht eine politische ‚Eintagsfliege’ vom Typus der russischen liberal-bürgerlichen Revolution des Jahres 1905.“ [Inprekorr, Nr.65, 24. 6. 1927, S.1361-1373, hier S.1370]

Hier ist alles falsch, von Anfang bis zum Schluss.

Lenin hat in der Tat gelehrt, dass man streng zwischen der Bourgeoisie einer unterdrückten Nation und der einer unterdrückenden unterscheiden soll. Daraus entspringt eine außerordentlich wichtige Schlussfolgerung, z.B. in bezug auf einen Krieg zwischen einem imperialistischen und einem Kolonialland. Für den Pazifisten gilt dieser Krieg genau dasselbe wie jeder andere; für die Kommunistin/den Kommunisten aber ist der Krieg, den ein Kolonialvolk gegen ein imperialistisches Land führt, ein bürgerlichrevolutionärer Krieg. Lenin erhob somit die nationale Befreiungsbewegung, den kolonialen Aufstand und die Kriege der unterdrückten Völker bis zum Grade einer bürgerlich-demokratischen Revolution, zum Beispiel der russischen vom Jahre 1905. Doch Lenin hatte ganz und gar nicht etwa die nationalen Befreiungskriege über die bürgerlich-demokratischen Revolutionen gestellt, wie es jetzt Bucharin tut, der sich um 180 Grad gedreht hat. Lenin verlangte eine Unterscheidung zwischen der Bourgeoisie eines unterdrückten Landes und der Bourgeoisie eines unterdrückenden Landes. Doch Lenin hatte nirgends die Frage so gestellt und konnte sie auch nicht so stellen, als ob die Bourgeoisie eines kolonialen oder halbkolonialen Landes in der Epoche des Kampfes um die nationale Befreiung fortschrittlicher und revolutionärer sein würde, als die Bourgeoisie eines Landes in der Epoche der demokratischen Revolution. Theoretisch geht das nirgends hervor und wird auch historisch nicht bestätigt. So mitleiderregend z.B. auch der russische Liberalismus und wie winzig auch dessen linker Flügel, die kleinbürgerliche Demokratie, die Sozialrevolutionäre und die Menschewiki, gewesen sind; immerhin könnte man doch kaum behaupten, dass der chinesische Liberalismus und die chinesische bürgerliche Demokratie sich revolutionärer als die russische erwiesen hätten.

Die Sache so darzustellen, als ob die Tatsache der kolonialen Unterdrückung ohne weiteres den revolutionären Charakter der nationalen Bourgeoisie bedingt, würde bedeuten, dass man den grundsätzlichen Fehler des Menschewismus, der behauptete, dass der revolutionäre Charakter der russischen Bourgeoisie unbedingt aus der Unterdrückung zur Zeit des Absolutismus und der Leibeigenschaft entspringen müsse, nur umdreht.

Die Frage der Struktur und der Politik der Bourgeoisie wird durch die gesamte innere Klassenstruktur der Nation, welche den revolutionären Kampf führt, durch die geschichtliche Epoche, in der sich dieser Kampf entwickelt, durch die Stufe der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Abhängigkeit der nationalen Bourgeoisie von dem Weltimperialismus insgesamt oder eines Teiles desselben, und endlich, was das hauptsächlichste ist, durch den Grad der Klassenaktivität des nationalen Proletariats und der Art seiner Verbindung mit der internationalen revolutionären Bewegung bestimmt.

Eine demokratische oder nationale Befreiungsrevolution kann der Bourgeoisie eine Vertiefung oder Verbreiterung der Ausbeutungsmöglichkeiten verheißen. Ein selbständiges Auftreten des Proletariats in der Arena der Revolution droht ihr die Ausbeutungsmöglichkeit überhaupt zu entreißen.

Sehen wir uns die Tatsachen an.

Die gegenwärtigen Inspiratoren der Komintern wiederholten ständig, dass Tschiang Kai-schek den Krieg „gegen den Imperialismus“ führe, während Kerenski Hand in Hand mit den Imperialisten ging. Daher die Folgerung: Gegen Kerenski musste man einen unversöhnlichen Kampf führen, während man Tschiang Kai-schek unterstützen musste.

Die Verbindung Kerenskis mit dem Imperialismus ist unbestreitbar. Man könnte noch weiter zurückgreifen und zeigen, wie die russische Bourgeoisie mit dem Segen des englischen und französischen Imperialismus Nikolaus II. „absetzte“. Nicht allein haben Miljukow-Kerenski den Krieg der Lloyd George-Poincare unterstützt, sondern Lloyd George-Poincare haben ihrerseits auch die Revolution Miljukow-Kerenski unterstützt, und zwar zuerst gegen den Zaren und später gegen die Arbeiter und Bauern. Das alles sind unbestreitbare Tatsachen.

Doch wie steht die Sache in dieser Beziehung in China? Die „Februar“-Revolution in China war schon im Jahre 1911 gewesen. Diese Revolution war ein großes fortschrittliches Ereignis, obwohl es unter ganz unmittelbarer Beteiligung der Imperialisten vor sich ging. Sun Yat-sen erzählt in seinen Erinnerungen, wie seine Organisation sich bei ihrer Arbeit auf die „Unterstützung“ der imperialistischen Staaten: bald Japans, bald Frankreichs, bald Amerikas stützte.

Wenn Kerenski im Jahre 1917 die Beteiligung am imperialistischen Kriege fortsetzte, so hat ja auch die chinesische „nationale“ „revolutionäre“ usw. Bourgeoisie, die Einmischung Wilsons in den Krieg in der Hoffnung unterstützt, dass ihr die Entente bei der Befreiung Chinas helfen würde. Sun Yat-sen hatte sich mit seinen Entwürfen über den wirtschaftlichen Aufbau und die politische Befreiung Chinas an die Regierungen der Entente gewandt. Es liegt durchaus keine Veranlassung vor zu behaupten, dass sich die chinesische Bourgeoisie bei ihrem Kampfe gegen die Mandschudynastie revolutionärer gezeigt habe, als die russische Bourgeoisie in ihrem Kampfe gegen den Zarismus, oder dass zwischen dem Imperialismus eines Tschiang Kai-schek und dem eines Kerenski irgendein prinzipieller Unterschied bestünde.

Das EKKI behauptet aber, dass Tschiang Kai-schek immerhin einen Krieg gegen den Imperialismus geführt habe. Die Sache so darzustellen, bedeutet denn doch eine zu grobe Färbung der Wirklichkeit. Tschiang Kai-schek hat Krieg gegen die chinesischen Militaristen, die Agenten eines der imperialistischen Staaten geführt. Das ist aber etwas ganz anderes als einen Krieg gegen den Imperialismus zu führen. Das hatte sogar Tan Pin-schan begriffen.

Tan Pin-schan hatte in seinem Referat auf dem 7. EKKI-Plenum (Ende 1926) die Politik der von Tschiang Kai-schek beherrschten Kuomintangzentrale folgendermaßen charakterisiert:

„In der internationalen Politik nimmt er eine vollkommen passive Stellung ein und zieht das Nicht-Zusammenarbeiten vor. Er will nur gegen den englischen Imperialismus zu kämpfen und mit den japanischen Imperialisten unter bestimmten Bedingungen Kompromisse schließen.“ [Tang Pin-schan, Entwicklungswege der chinesischen Revolution, S.17]

Das Verhalten der Kuomintang gegenüber dem Imperialismus war von allem Anfang an nicht revolutionär sondern durch und durch kompromisslerisch. Sie strebte danach, bestimmte imperialistische Mächte zu schlagen und zurückzudrängen, um darauf mit denselben oder mit anderen imperialistischen Staaten eine Abmachung, unter für die chinesische Bourgeoisie günstigeren Bedingungen einzugehen. Nur das.

Allein die Sache ist die, dass diese ganze Fragestellung falsch ist. Man soll das Verhältnis einer jeden nationalen Bourgeoisie zum Imperialismus nicht „überhaupt“, sondern speziell deren Verhältnis zu den historischen revolutionären Tagesfragen ihrer eigenen Nation abwägen. Die russische Bourgeoisie war die Bourgeoisie eines unterdrückenden Landes. Die chinesische Bourgeoisie ist die Bourgeoisie eines unterdrückten kolonialen Landes. Der Sturz des leibeigenen Zarismus war für das alte Russland eine fortschrittliche Aufgabe. Das Abwerfen des imperialistischen Joches ist eine historische fortschrittliche Aufgabe für China. Allein das Verhalten der chinesischen Bourgeoisie gegenüber dem Imperialismus, Proletariat und Bauernschaft ist nicht nur nicht revolutionärer als das der russischen Bourgeoisie zum Zarismus und den revolutionären Klassen Russlands, sondern fast noch niederträchtiger und konterrevolutionärer gewesen. So allein aber kann diese Frage nur gestellt werden.

Die chinesische Bourgeoisie ist realistisch genug und auch mit dem internationalen Imperialismus genügend bekannt, um zu verstehen, dass ein wirklich ernster Kampf gegen diesen einen solchen Elan der revolutionären Massen erfordert, dass dieser sie selbst bedrohen würde. Wenn der Kampf zum Sturze der Mandschudynastie eine Aufgabe geringeren historischen Maßstabes war als der Sturz des Zarismus, so ist der Kampf gegen den Weltimperialismus eine Aufgabe allergrößten Maßstabes. Wenn wir die Arbeiter Russlands vom ersten Schritt ab gelehrt haben, an die Bereitwilligkeit und an die Fähigkeit des Liberalismus, den Zarismus zu stürzen und die Leibeigenschaft zu beseitigen, nicht zu glauben, so hätten wir dieses Gefühl des Misstrauens in nicht geringem Maße auch den chinesischen Arbeiter einimpfen sollen. Die neue, ganz falsche Theorie Stalin-Bucharins von der „immanenten“ Revolutionarität der Kolonialbourgeoisie ist ihrem Sinn nach eine Übersetzung des Menschewismus in die Sprache der chinesischen Politik, und dient nur dazu, um aus der unterdrückten Lage Chinas eine innenpolitische Prämie für die chinesische Bourgeoisie herauszuschlagen und so ein zusätzliches Gewicht auf die entgegengesetzte Waagschale des bereits doppelt und dreifach unterdrückten chinesischen Proletariats zu werfen.

Doch der Feldzug Tschiang Kai-scheks gegen den Norden, so sagen uns die Verfasser des Programmentwurfs, Stalin und Bucharin, hat eine mächtige Bewegung unter den Arbeiter- und Bauernmassen erzeugt. Das ist unbestreitbar. Allein, hat etwa jene Tatsache, dass Gutschkow und Schulgin die Abdankung Nikolaus II. nach Petrograd gebracht haben, keine revolutionäre Rolle gespielt und die am meisten eingeschüchterten, müden und furchtsamen Schichten des Volkes aufgerüttelt? Hat etwa jene Tatsache, dass der Trudowik von gestern, Kerenski, zum Vorsitzenden des Ministerrates und zum Oberkommandierenden wurde, nicht die Soldatenmassen aufgerüttelt und zu Kundgebungen gedrängt oder das Dorf nicht gegen die Gutsbesitzer auf die Beine gebracht? Man könnte diese Frage auch noch breiter stellen: Hat etwa das gesamte Wirken des Kapitalismus nicht stets die Massen aufgerüttelt und diese nach dem Ausdruck des Kommunistischen Manifests dem Idiotismus des Dorflebens entrissen und die proletarischen Zentren zum Kampfe gedrängt? Kann aber eine historische Einschätzung der objektiven Rolle des Kapitalismus im ganzen, oder der einen oder anderen Handlung der Bourgeoisie, insbesondere unser aktives, klassenmäßiges, revolutionäres Verhältnis zum Kapitalismus oder zu den Handlungen der Bourgeoisie ersetzen? Die opportunistische Politik ist schon immer mit solcher Art undialektischer, konservativer Schwanzobjektivität begründet worden. Der Marxismus aber hat stets und unabänderlich gelehrt, dass die revolutionären Ergebnisse der einen oder anderen Handlung, zu der die Bourgeoisie infolge ihrer Lage gezwungen wird, um so vollständiger, entschiedener, unzweifelhafter und sicherer ausfallen werden, je unabhängiger die proletarische Avantgarde gegenüber der Bourgeoisie ist, je weniger sie geneigt ist, der letzteren den Finger zu reichen, ihr gegenüber Schönfärberei zu treiben und deren Revolutionarität und Bereitschaft zur „Einheitsfront“ und zum Kampfe gegen den Imperialismus zu überschätzen.

Die Bucharinsche Einschätzung der Kolonialbourgeoisie kann weder theoretisch, noch historisch oder politisch einer Kritik standhalten. Indessen versucht der Programmentwurf, wie wir gesehen haben, gerade diese Einschätzung zu befestigen.


Ein Fehler, der nicht aufgedeckt und nicht verurteilt wurde, muss stets einen anderen Fehler im Gefolge haben oder wenigstens vorbereiten.

Wenn gestern noch die chinesische Bourgeoisie zur revolutionären Einheitsfront gerechnet wurde, so wird sie heute als bereits „endgültig in das Lager der Konterrevolution übergegangen“ erklärt. Es ist gar nicht schwer nachzuweisen, wie grundlos diese Versetzungen und Einreihungen waren, die auf einem rein administrativen Wege ohne irgendwelche ernste, marxistische Analyse vorgenommen wurden.

Es ist ganz offenbar, dass, wenn sich die Bourgeoisie dem Lager der Revolution anschließt, sie es nicht zufällig und nicht aus Leichtsinn tut, sondern unter dem Druck der eigenen Klasseninteressen. Aus Furcht vor den Massen verlässt die Bourgeoisie später die Reihen der Revolution oder offenbart ihre zeitweise verheimlichte Feindschaft zur Revolution. Doch in das Lager der Konterrevolution endgültig überzugehen, das heißt also, auf die Notwendigkeit, wieder einmal die Revolution zu „unterstützen“ oder wenigstens mit ihr zu kokettieren, verzichten, das kann die Bourgeoisie nur in jenem Fall, wenn ihre grundsätzlichen Klassenforderungen auf dem revolutionären oder auf einem anderen Wege, z.B. dem Wege Bismarcks, befriedigt worden sind. Erinnern wir uns an die Geschichte der Jahre 1848-1871. Erinnern wir uns, dass die russische Bourgeoisie nur deshalb die Möglichkeit bekam, so offenherzig der Revolution des Jahres 1905 den Rücken zu kehren, weil sie durch diese die Staatsduma bekam, und damit also einen Weg der unmittelbaren Einwirkung auf die Bürokratie und der Abmachungen mit dieser. Und nichtsdestoweniger, als sich im Kriege 1914/17 die Unfähigkeit des „erneuerten“ Regimes, die Grundinteressen der Bourgeoisie zu sichern, erwiesen hatte, kehrte sich die letztere wieder der Revolution zu, und zwar noch schärfer als im Jahre 1905.

Kann man nun etwa sagen, dass die Revolution der Jahre 1925/27 in China selbst auch nur eine teilweise Befriedigung der Grundinteressen gebracht hat? Nein, China ist heute noch ebenso weit von einer wirklichen nationalen Einheit und von einem selbständigen, unabhängigen Zollwesen entfernt, wie vor dem Jahre 1925. Indessen ist die Schaffung eines einheitlichen Binnenmarktes und dessen Schutz vor den billigeren Auslandswaren für die chinesische Bourgeoisie eine Lebensfrage, ihrer Bedeutung nach die zweite nach der Frage der Erhaltung ihrer eigenen Klassenherrschaft über das Proletariat und die Dorfarmut. Doch auch für die japanische und die englische Bourgeoisie bildet die Erhaltung Chinas auf der Stufe einer Kolonie eine nicht weniger wichtige Frage, als für die chinesische Bourgeoisie es die wirtschaftliche Selbständigkeit ist. Darum wird es in der Politik der chinesischen Bourgeoisie noch viele linke Zickzackausfälle geben. Den Liebhabern der nationalen Einheitsfront stehen noch genug Versuchungen bevor. Wenn man heute den chinesischen Kommunisten sagt: „Euer Block mit der Bourgeoisie von 1924 bis Ende 1927 war richtig, doch jetzt passt er nicht mehr, denn diese ist endgültig in das Lager der Konterrevolution übergegangen“, so bedeutet das, dass man die chinesischen Kommunisten wiederum vor den zukünftigen objektiven Wendungen in der Lage und den unfehlbaren linken Zickzackwendungen der chinesischen Bourgeoisie entwaffnet. Bereits der gegenwärtige Krieg Tschiang Kai-scheks gegen den Norden stößt das ganze mechanische Schema der Verfasser des Entwurfs vollständig um.


Doch der prinzipielle Fehler dieser offiziellen Fragestellung tritt wohl noch klarer, überzeugender und unbestreitbarer hervor, wenn wir uns an jene, noch frische und nicht unwichtige Tatsache erinnern, dass das zaristische Russland eine Kombination von unterdrückenden und unterdrückten Völkern darstellte, d.h. also, aus Großrussen und „Fremdvölkern“, von denen viele sich in einer kolonialen oder halbkolonialen Lage befanden, bestand. Lenin forderte nicht allein die allergrößte Aufmerksamkeit in bezug auf die Nationalitätenfrage der Völker des zaristischen Russland, sondern er proklamierte auch – gegen Bucharin und andere – die elementare Verpflichtung des Proletariats der herrschenden Nation, den Kampf der unterdrückten Völker für das Selbstbestimmungsrecht selbst bis zur Abtrennung zu unterstützen. Hat die Partei daraus etwa die Konsequenz gezogen, dass die Bourgeoisie der durch den Zarismus geknechteten Völker – Polen, Ukraine, Tartaren, Juden, Armenier und andere – fortschrittlicher, radikaler und revolutionärer als die russische sei? Die historische Erfahrung bezeugt, dass die polnische Bourgeoisie trotz der doppelten Unterdrückung durch die Selbstherrschaft des Zarismus und als nationale Minderheit reaktionärer als die russische Bourgeoisie war und in der Staatsduma sich nicht an die Kadetten, sondern an die Oktobristen angeschlossen hat. Dasselbe bezieht sich auf die tatarische Bourgeoisie. Auch die direkt beispiellose jüdische Rechtlosigkeit hat die jüdische Bourgeoisie keineswegs daran gehindert, noch feiger, reaktionärer und niederträchtiger zu handeln als die russische Bourgeoisie. Und war etwa die estländische, die lettische, die georgische oder die armenische Bourgeoisie revolutionärer als die Großrussische? Wie, kann man solche historische Lehren vergessen? Oder soll man jetzt nachträglich vielleicht anerkennen, dass der Bolschewismus sich damals geirrt hat, als er im Gegensatz zu dem [jüdischen] Bund, zu den [armenischen] Daschnaki, zur [polnischen] PPS, den georgischen oder anderen Menschewiki, die Arbeiter sämtlicher unterdrückter Nationen, aller Kolonialvölker des zaristischen Russlands bereits beim Beginn der bürgerlichdemokratischen Revolution aufrief, sich zu selbständigen Klassenorganisationen zusammenzuschließen, jede organisatorische Gemeinschaft nicht nur mit der liberalen Bourgeoisie, sondern auch mit dem revolutionären Kleinbürgertum rücksichtslos zu zerreißen, im Kampfe gegen sie die Arbeiterklasse zu erobern und durch die Arbeiter gegen sie, um den Einfluss auf die Bauernschaft, zu kämpfen? Haben wir hier vielleicht einen „trotzkistischen“ Fehler verbrochen und in bezug auf die Unterdrückten, darunter auch äußerst zurückgebliebene Völker, die Kuomintangsche Entwicklungsphase übersprungen? In der Tat, wie leicht wäre hier die Theorie aufzubauen, dass die PPS, die Daschnaki-Zutjun, der Bund usw. „eigenartige“ Formen der notwendigen Mitarbeit der verschiedenen Klassen im Kampfe gegen die Selbstherrschaft und die nationale Unterdrückung waren. Wie kann man denn solche historischen Lehren vergessen?

Für einen Marxisten war es bereits vor den chinesischen Ereignissen der letzten drei Jahre klar – jetzt müsste es selbst für einen Blinden klar sein –, dass der ausländische Imperialismus, als der unmittelbare Faktor für das innere Lehen Chinas, die chinesischen Miljukows und Kerenskis letzten Endes noch niederträchtiger machen werde als deren russische Prototyps. Nicht umsonst verkündet das erste Manifest unserer Partei, dass je weiter nach dem Osten, um so nichtswürdiger und niederträchtiger die Bourgeoisie wird und um so größere Aufgaben sich auf die Schultern des Proletariats legen. Dieses historische „Gesetz“ bezieht sich voll und ganz auch auf China.

„Unsere Revolution ist eine bürgerliche – deshalb müssen die Arbeiter die Bourgeoisie unterstützen – so sagen die völlig unfähigen Politiker aus dem Lager der Liquidatoren.

Unsere Revolution ist eine bürgerliche – so sagen wir Marxisten – deshalb müssen die Arbeiter das Volk über den Betrug der politischen Schieber der Bourgeoisie aufklären und es lehren, nicht an Worte zu glauben und sich nur auf die eigenen Kräfte, auf die eigene Organisation, auf die eigene Einigkeit und auf die eigene Bewaffnung zu verlassen.“ (1. Brief aus der Ferne, Lenin, Werke Band 23, S.311 -322, hier S.320]

Diese These Lenins ist für den gesamten Osten obligatorisch und muss um jeden Preis in das Programm der Komintern aufgenommen werden.

 

 

2. Die Etappen der chinesischen Revolution

Die erste Etappe der Kuomintang war die Herrschaft der nationalen Bourgeoisie, apologetisch unter dem Aushängeschild des „Blocks der vier Klassen“. Die zweite Periode nach dem Staatsstreich Tschiang Kai-scheks, war der Versuch einer parallelen und „selbstständigen“ Herrschaft des chinesischen Kerenskitums. Doch wenn die russischen Narodniki zusammen mit den Menschewiki ihrer kurzfristigen „Diktatur“ die Form einer offenen Doppelherrschaft geben konnten, so war die chinesische „revolutionäre Demokratie“ noch zu grün dazu. Und da die Geschichte überhaupt nicht nach Bestellung arbeitet, so bleibt nichts weiter übrig als zu begreifen, dass es eine andere „demokratische“ Diktatur außer jener, welche die Diktatur der Kuomintang seit dem Jahre 1925 war, nicht gibt und nicht geben wird. Das wird gleich richtig bleiben, unabhängig davon, ob die von Kuomintang erreichte halbe Vereinigung Chinas für die nächste Zeit bewahrt bleibt, oder ob das Land wieder in verschiedene Teile zerfallen wird. Und gerade damals, als die Klassendialektik der Revolution, nachdem sie alle anderen Hilfsmittel verbraucht hatte, die Diktatur des Proletariats, das unzählige Millionen Unterdrückter und Enterbter in Stadt und Land hinter sich herführte, auf die Tagesordnung gestellt hatte, kam das EKKI nur der Parole der demokratischen (also der bürgerlich-demokratischen) Diktatur der Arbeiter und Bauern heraus. Die Antwort auf diese Formel war der Aufstand in Kanton, welcher, bei all seiner Vorzeitigkeit, bei allem Abenteurertum seiner Leitung, immerhin einen Zipfel des Vorhangs der neuen Etappe, oder richtiger der zukünftigen dritten chinesischen Revolution gehoben hat. Es ist notwendig hierbei länger zu verweilen.

Die Führung hatte in ihrem Bestreben, sich eine Rückendeckung gegenüber den früheren Sünden zu verschaffen, die Ereignisse ganz ungeheuer forciert und so gegen Ende des vergangenen Jahres zur revolutionären Frühgeburt von Kanton geführt. Jedoch auch eine Frühgeburt kann sich für uns als sehr lehrreich in bezug auf den mütterlichen Organismus und auf den Geburtsprozess erweisen. Die ungeheure theoretische, ja direkt entscheidende Bedeutung der Kantoner Ereignisse für die grundsätzlichen Fragen der chinesischen Revolution liegt darin, dass wir hier eine Art Laboratoriumsexperiment von gigantischem Maßstab besitzen, was in der Geschichte und in der Politik sehr selten vorkommt. Wir haben dafür zwar sehr teuer bezahlen müssen, doch um so größer ist für uns die Verpflichtung, uns die Lehren desselben anzueignen.

Eine der Kampfparolen des Kantoner Umsturzes war, wie die Prawda berichtet (Nr.31), der Ruf „Nieder mit der Kuomintang“. Die Fahnen und die Kokarden der Kuomintang wurden heruntergerissen und zertreten. Das EKKI aber hatte gleich nach dem „Verrat“ Tschiang Kai-scheks und nach dem „Verrat“ Wang Tin-weis – des Verrats nicht an ihrer Klasse, sondern an unseren ... Illusionen – feierliche Versprechungen gegeben: „Niemals werden wir die Fahne der Kuomintang aufgeben“. Die Arbeiter Kantons haben die Kuomintang-Partei verboten und sie mit all ihren Strömungen für außerhalb der Gesetze stehend erklärt. Das bedeutet, dass die Bourgeoisie, nicht allein die große, sondern auch die kleine, zur Lösung der grundsätzlichen Aufgaben derselben, keine solche politische Kraft, oder solche Partei, oder Fraktion aufstellen konnte, mit der die Partei des Proletariats Schulter an Schulter die Aufgaben der bürgerlich-demokratischen Revolution hätte lösen können. Der Schlüssel dazu liegt gerade darin, dass die Aufgabe der Führung der Bewegung der Dorfarmut bereits vollständig auf den Schultern des Proletariats liegt, unmittelbar also auf den Schultern der Kommunistischen Partei ruht. Und die Inangriffnahme einer wirklichen Lösung der bürgerlich-demokratischen Aufgaben der Revolution erfordert die Konzentrierung der gesamten Macht in den Händen des Proletariats.

Die Prawda teilt über die Politik der kurzfristigen Kantoner Sowjetregierung folgendes mit:

„Im Interesse der Arbeiter verfügten die Dekrete des Kantoner Sowjets setzten fest: ... Kontrolle der Produktion durch die Arbeiter vermittels der Betriebsräte; ... Nationalisierung der Großindustrie, des Transports und der Banken.“

Es werden weiter noch folgende Maßnahmen genannt:

„Konfiszierung aller Wohnungen der Großbourgeoisie zugunsten der Werktätigen.“ [Inprekorr, Nr.16, 17., 2. 1928, S.338-41, hier S.339, 340]

Somit war die Macht in den Händen der Kantoner Arbeiterschaft. Also tatsächlich in den Händen der Kommunistischen Partei. Das Programm der neuen Macht bestand nicht allein in der Konfiskation der Ländereien der Gutsbesitzer, soweit es solche überhaupt in Kwantung gab, nicht allein in der Arbeiterkontrolle der Produktion, sondern auch in der Nationalisierung der Großindustrie, der Banken, der Transportmittel und sogar der Beschlagnahme der Wohnungen der Großbourgeoisie und deren gesamten Eigentums zugunsten der Arbeitenden. Wenn das nun die Methoden einer bürgerlichen Revolution sein sollen, so fragt es sich, wie soll dann in China eine proletarische Revolution aussehen?

Trotzdem die Direktiven des EKKI gar nichts von einer Diktatur des Proletariats und von sozialistischen Maßnahmen sagten, obwohl Kanton sich durch einen kleinbürgerlichen Charakter im Vergleich zu Schanghai, Hankau und anderen Industriezentren des Landes unterscheidet, musste der revolutionäre Umsturz, welcher gegen die Kuomintang durchgeführt worden ist, ganz automatisch zur Diktatur des Proletariats führen, die von ihrem ersten Schritte an durch die Situation gezwungen war, radikalere Maßnahmen zu ergreifen als die, mit denen die Oktoberrevolution begonnen hatte. Diese Tatsache entspringt trotz ihrer äußeren Paradoxie vollkommen gesetzmäßig sowohl aus den sozialen Bedingungen Chinas, wie auch aus der ganzen Entwicklung der Revolution heraus. Die große und mittlere Landwirtschaft – nach chinesischem Maßstab – ist aufs engste mit dem städtischen darunter auch ausländischen Kapital verknüpft. Eine Gutsbesitzerschicht, die im Gegensatz zur Bourgeoisie stände, existiert in China nicht. Der auf dem Lande am meisten verbreitete und verhasste Typus, der Kulak-Wucherer, ist der Agent des städtischen Bankkapitals. Darum trägt die Agrarrevolution einen genau so antibürgerlichen Charakter, wie der gegen die Leibeigenschaft gerichtete. Die erste Etappe unserer Oktoberrevolution wo der Kulak gemeinsam mit dem Mittelbauer und armen Bauer gegen die Gutsbesitzer vorging, wird sich in China gar nicht oder fast gar nicht wiederholen. Die Agrarrevolution in China bedeutet stets einen Aufstand nicht allein gegen die nicht so zahlreich vertretenen Gutsbesitzer und die Bürokratie, sondern auch gegen die Kulaken und Wucherer. Wenn bei uns die Komitees der armen Bauern erst bei der zweiten Etappe der Oktoberrevolution gegen Mitte des Jahres 1918 auftraten, so werden sie in China, in der einen oder anderen Form, sofort in die Erscheinung treten, also bei Beginn einer Agrarbewegung. Die „Entkulakisierung“ wird der erste, nicht der zweite Schritt des chinesischen Oktobers sein.

Doch die Agrarrevolution bildet nicht den einzigen Inhalt des gegenwärtigen historischen Kampfes in China. Selbst die äußerste Erscheinung einer Agrarrevolution, Tschorny-Peredel (die schwarze Landaufteilung) – die Kommunistische Partei wird diese natürlich unterstützen –, wird noch keinen Ausweg aus der ökonomischen Sackgasse ergeben. Die nationale Einigung und wirtschaftliche Souveränität, d.h. also die Zollautonomie, oder richtiger das Außenhandelsmonopol, sind für China nicht weniger notwendig. Das würde aber eine Befreiung von dem internationalen Imperialismus bedeuten, für den China auch in der Perspektive nicht nur eine Quelle der Bereicherung, sondern auch der Existenz bleibt, als ein Sicherheitsventil gegen innere Explosionen des europäischen und morgen vielleicht schon des amerikanischen Kapitalismus. Das bedingt das gigantische Ausmaß und die ungeheure Schärfe des den Volksmassen Chinas bevorstehenden Kampfes, um so mehr, als jetzt bereits alle Beteiligten die Tiefe der Kampfströmung ermessen konnten.

Die ungeheure Rolle, die das ausländische Kapital in der chinesischen Industrie spielt und die Gewohnheit desselben, sich zur Verteidigung seines Raubsystems unmittelbar auf seine eigenen „nationalen“ Bajonette zu stützen, macht für China das Programm einer Arbeiterkontrolle noch weniger durchführbar, als es sich bei uns erwiesen hat. Wahrscheinlich wird durch den Gang der Ereignisse bereits am zweiten Tage nach einem siegreichen Aufstande eine direkte Expropriation der Unternehmungen der ausländischen und später auch der chinesischen Kapitalisten erfolgen.

Jene objektiven sozialhistorischen Gründe, die den „Oktober“-Ausgang der russischen Revolution bestimmten, sind in China in einer noch verschärften Form vorhanden. Der bürgerliche und der proletarische Pol der chinesischen Nation stehen sich, wenn das überhaupt noch möglich ist, noch unversöhnlicher einander gegenüber, als es in Russland der Fall war. Im selben Maße, in dem einerseits die chinesische Bourgeoisie unmittelbar mit dem ausländischen Imperialismus und dessen Kriegsmaschinerie paktiert, ist andererseits das chinesische Proletariat von Anfang an mit der Komintern und der Sowjetunion verbunden. Die chinesischen Bauern sind zahlenmäßig noch weit stärker überwiegend, als die russischen. Der chinesische Bauer ist, eingeklemmt durch die internationalen Widersprüche, von deren Lösung nach der einen oder anderen Seite hin, sein Schicksal abhängt, noch viel weniger als der russische fähig, eine führende Rolle zu spielen. Das ist jetzt keine theoretische Prophezeiung mehr, sondern eine nach allen Seiten hin bis zu Ende durchgeprüfte Tatsache.

Diese grundsätzlichen, unbestreitbaren sozialen und politischen Voraussetzungen der dritten chinesischen Revolution beweisen nicht nur, dass die Formel der demokratischen Diktatur für die letztere schon hoffnungslos überlebt ist, sondern auch, dass die dritte chinesische Revolution trotz der großen Rückständigkeit Chinas, oder richtiger, wegen ihrer im Vergleich zu Russlands großen Rückständigkeit, nicht einmal eine halbjährige „demokratische“ Periode, wie die Oktoberrevolution (November 1917 bis Juli 11918) haben wird, sondern gleich von Anfang an gezwungen sein wird, das bürgerliche Privateigentum in Stadt und Land entschieden anzugreifen und aufzuheben.

Gewiss, diese Perspektive entspricht nicht den pedantischen und schematischen Vorstellungen über die Wechselwirkung zwischen der Ökonomik und Politik. Doch die Verantwortung für dieses Nichtentsprechen, das die wieder neu befestigten Vorurteile zerstört, denen bereits der Oktober seinerzeit einen schlimmen Streich gespielt hatte, muss man schon nicht dem „Trotzkismus“, sondern dem Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung aufbürden. Gerade in diesem Falle ist das Gesetz an seinem Platze.

Es wäre ein unvernünftiger Pedantismus, wenn man behaupten wollte, dass die chinesische Kommunistische Partei bei einer bolschewistischen Politik während der Revolution 1925/27 unbedingt zur Macht gekommen wäre. Armselige Philister sind aber jene, welche behaupten, dass eine solche Möglichkeit überhaupt ausgeschlossen war. Die Massenbewegung der Arbeiter und Bauern war ebenso, wie der Zerfall der herrschenden Klassen stark genug dazu. Die nationale Bourgeoisie sandte ihre Tschiang Kai-scheks, Wang Tin-weis nach Moskau und klopfte durch ihre Hu Han-Mins an die Pforte der Komintern, weil sie sich gegenüber den revolutionären Massen bis zum höchsten Grade schwach und unsicher fühlte, dieser Schwäche bewusst war und eine Gegendeckung dafür suchte. Weder die Arbeiter noch die Bauern wären der nationalen Bourgeoisie gefolgt, wenn wir sie nicht selbst wieder in ihr Schlepptau gelotst hätten. Bei einer nur einigermaßen richtigen Politik der Komintern wäre der Ausgang des Kampfes der Kommunistischen Partei um die Massen schon im voraus entschieden gewesen: Das chinesische Proletariat hätte die Kommunisten und der Bauernkrieg das revolutionäre Proletariat gestützt.

Wenn wir zu Anfang des Nordfeldzugs damit begonnen hätten, in den befreiten Gebieten Sowjets zu errichten (die Massen strebten ganz instinktiv und mit allen Kräften danach), dann hätten wir die notwendige Basis und den revolutionären Anlauf bekommen. Wir hätten die einzelnen Agraraufstände um uns zusammenfassen, unsere Armee aufbauen und die Armee der Feinde zersetzen können. -Und trotz ihrer Jugend hätte die chinesische Kommunistische Partei unter einer richtigen Führung der Komintern in diesen Ausnahmejahren heranreifen und zur Macht gelangen können, wenn vielleicht auch nicht gleich in ganz China, so doch wenigstens in einem bedeutenden Teil desselben. Und was die Hauptsache ist, wir hätten eine Partei gehabt.

Aber gerade auf dem Gebiet der Führung ist etwas ganz Ungeheuerliches vor sich gegangen – eine direkt historische Katastrophe. Die gesamte Autorität der Sowjetunion, der Partei der Bolschewik!, der Komintern wurde zuerst restlos zur Unterstützung von Tschiang Kai-schek und später zur Unterstützung Wang Tin-weis, als des Führers der Agrarrevolution eingesetzt. Indem das EKKI die Grundlagen der Leninschen Politik mit Füßen trat und dem jungen Bolschewismus das Genick gebrochen hatte, schaffte es die Voraussetzungen für den Sieg des chinesischen Kerenskitums über den Bolschewismus, der chinesischen Miljukows über das Kerenskitum und des englisch-japanischen Imperialismus über die Miljukows.

Hierin und nur hierin liegt der Sinn dessen, was sich in den Jahren 1925/27 in China ereignet hat.

 


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008