Leo Trotzki

 

Nochmals über Brandler und Thalheimer

(12. Juni 1929)


Quelle: L. Trotzki, Schriften über Deutschland, (Hrsg. H. Dahmer), Bd. II, Frankfurt/M. 1971, S. 742–749.
Transkription: Heinz Hackelberg.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Konstantinopel, 12. Juni 1929

Werter Genosse,
ich danke Ihnen sehr für Ihren detaillierten Brief vom 3. Juni; er enthält eine ganze Reihe von für mich sehr wichtigen Informationen, die mir, wie ich hoffe, zukünftig von Nutzen sein werden. Hier möchte ich mich auf die Frage unserer Haltung zur deutschen Rechtsopposition beschränken.

1. Sie geben zu, daß Brandler–Thalheimer die revolutionäre Situation in Deutschland 1923 nicht erkannt haben, ebensowenig die chinesische von 1925–27, die englische von 1926 und schließlich den thermidorianischen Charakter des Kampfes gegen den „Trotzkismus“ in den Jahren 1923 bis 1927. Alles das akzeptieren Sie. Aber damit erkennen Sie auch an, daß Brandler –Thalheimer keine Revolutionäre sind, denn Revolutionäre werden durch ihre Haltung zu den Grundfragen der Weltrevolution charakterisiert und erkennbar. Was können wir Bolschewisten in der Politik mit Nicht-Revolutionären gemein haben, schlimmer noch: mit Leuten, die unsere Entscheidungen und Losungen in den kritischsten Augenblicken der letzten sechs bis sieben Jahre bekämpft haben?

2. Sie sind aber betrübt, daß man Brandler und Thalheimer Liquidatoren und Menschewisten nennt. Nimmt man das wörtlich, so ist es natürlich falsch. Aber die Tendenz, die sie uns gegenüberstellt, ist unzweifelhaft eine liquidatorische und menschewistische. Die Wiener Arbeiterzeitung kritisiert mich in genau der gleichen Weise, wie Thalheimer es tut. Zusammen mit Thalheimer sympathisiert die „Arbeiterzeitung“ mit Stalin und ist gegen mich, und sympathisiert Stalin gegenüber mit Rykow und Bucharin. Aber die Wiener Arbeiterzeitung tut das ganz offen, während Brandler–Thalheimer erbärmlich Versteck spielen. In diesem Fall ziehe ich die Arbeiterzeitung, d. h. den offenen Gegner vor.

3. Ihr Brief enthält vernichtende Argumente gegen die Rechten. Trotzdem halten Sie es für nötig, hinzuzufügen, daß die Lage „in der deutschen Kommunistischen Partei besser wäre, wenn sie die sogenannte rechte Politik und nicht die heutige durchführen würde“.

4. Aber wir haben doch schon einmal die Brandler-Politik als Parteilinie erlebt. Sie führte zu der großen Katastrophe Ende 1923. Diese Katastrophe liegt allen folgenden extremen Schwankungen des deutschen „Kommunismus“ nach rechts und links zugrunde. Sie schuf die politischen Voraussetzungen der nachfolgenden Stabilisierungsperiode des europäischen Kapitalismus.
Wie kann man nicht sehen, daß Brandler als Politiker auf der anderen Seite der Barrikade steht?

5. Sie wissen, daß ich nicht auf einen Schlag zu dieser vernichtenden Schlußfolgerung gekommen bin. Ich hoffte, Brandler könnte lernen. Im Herbst 1923 spürte er seine Unzulänglichkeit. Er selbst hat mir mehrere Male gesagt, er besitze nicht die Kraft, sich in einer revolutionären Situation zurechtzufinden. Aber nachdem er die revolutionäre Chance verpaßt hatte, wurde er hochnäsig. Er fing an, mich des „Pessimismus“ zu beschuldigen. Er sah dem Jahr 1924 mit größerem „Optimismus“ entgegen. Da verstand ich, daß dieser Mensch nicht Gesicht und Rücken der Revolution zu unterscheiden wußte.
Wäre das nur eine individuelle Eigentümlichkeit, so wäre es halb so schlimm. Aber jetzt wird daraus ein System gemacht und auf diesem System eine Fraktion aufgebaut. Was können wir mit einer solchen Fraktion gemein haben?

6. Ich will damit in keiner Weise die Politik von Maslow und anderen verteidigen. 1923 war der Wortradikalismus Maslows mit der gleichen Untätigkeit verknüpft, die Brandler zeigte. Ohne das Abc der Frage zu verstehen, versuchte Maslow, meine Forderung, einen Termin für den Aufstand festzusetzen, lächerlich zu machen. Auf dem V. Weltkongreß war er noch der Meinung, die Revolution sei im Aufschwung. Mit anderen Worten: er teilte in den wesentlichen Fragen die Irrtümer Brandlers, servierte sie aber mit ultralinker Soße. Aber Maslow versuchte zu lernen, bis er in den Sumpf der Kapitulanten geriet. Andere ehemalige Ultralinke haben einiges gelernt. Ich übernehme keineswegs die Verantwortung für die Linie des „Volkswillens“ insgesamt. Noch heute gibt es da so manchen Nachgeschmack der Vergangenheit: Kombinationen opportunistischer Tendenzen mit Ultralinkstum. Aber dennoch haben diese Genossen viel gelernt, und viele von ihnen haben bewiesen, daß sie fähig sind, noch mehr zu lernen. Brandler–Thalheimer hingegen haben einen riesigen Schritt rückwärts gemacht, als sie aus ihrer Blindheit eine Plattform machten.

7. Sie sehen ein Verdienst in ihrem Kampf für innerparteiliche Demokratie. Ich sehe dies Verdienst nicht. Brandler–Thalheimer haben niemals gegen die Vernichtung der Linken Opposition protestiert. Sie haben das Stalin-Regime nicht nur toleriert, sondern unterstützt. Sie haben in den Chor des thermidorianischen Kampfes gegen den „ Trotzkismus“ eingestimmt.
Wann haben sie ihre Berufung zum Kampf für innerparteiliche Demokratie entdeckt? Als der Apparat sie selbst zu unterdrücken begann und als sie merkten, daß sie als bloße Diener der Stalinisten nicht an die Macht kommen würden. Kann man wirklich darin ein Verdienst sehen, daß Opportunisten schreien, wenn die Zentristen aus Furcht vor linker Kritik sie zu unterdrücken beginnen? Niemand läßt sich gern schlagen. Darin liegt kein Verdienst. Die zentristischen Methoden des Kampfes gegen die Rechten sind abstoßend und nutzen in letzter Instanz den Rechten. Aber das heißt keineswegs, daß das demokratische Regime der Kommunistischen Partei der opportunistischen Brandler-Tendenz das Bürgerrecht sichern muß.
Man kann die Parteidemokratie nicht als Ding an sich betrachten. Wir sprechen von Parteidemokratie auf bestimmten revolutionären Grundlagen, die mit dem Brandlerismus unvereinbar sind.

8. Das zweite Verdienst der Brandlerianer sehen Sie in ihrem Kampf für Übergangsforderungen, in ihrem Bemühen, mit den Massen in Verbindung zu kommen usw. Aber brauchen wir diese Verbindung mit den Massen um ihrer selbst willen oder für revolutionäre (und das heißt internationale) Ziele? Wenn man von der bloßen Verbindung mit den Massen ausgeht, muß man auf die II. Internationale und auf Amsterdam schauen. Die deutsche Sozialdemokratie ist in dieser Hinsicht weitaus beeindruckender als Brandler -Thalheimer.
Man kann natürlich einwenden, daß das eine Übertreibung ist – Brandler und Thalheimer sind schließlich nicht die Sozialdemokratie ... Natürlich, sie sind noch keine Sozialdemokratie und nicht die heutige Sozialdemokratie, aber man muß die Dinge in ihrer Entwicklung sehen. Die deutsche Sozialdemokratie hat auch nicht mit Hermann Müller anngefangen. Andererseits will Brandler erst die Massen für sich gewinnen, aber er hat sie noch nicht. Sie sprechen selbst mit Entrüstung davon, daß die Brandlerianer dem internationalen Proletariat den Rücken zukehren. Sie haben nichts mit der russischen, nichts mit der chinesischen Revolution zu tun, nichts mit der übrigen Menschheit !Sie wollen ihre Politik in Deutschland machen, so wie Stalin den Sozialismus in Rußland aufbauen will. Leben und leben lassen, Aber wir wissen, wohin das führte: zum 4. August 1914. Erlauben Sie mir, Sie nochmals daran zu erinnern, daß junge, vor allem opportunistische Oppositions-Fraktionen im gleichen Maße sympathischer sind als alte sozialchauvinistische Parteien, wie ein Ferkel sympathischer ist als ein altes Schwein.

8 (a). Wer sich einbildet, daß Brandler die Massen wirklich auf den Boden der Realität (d. h. zum National-Reformismus) führen kann, ist auf dem Holzweg. Auf diesem Gebiet hat Brandler einen unschlagbaren Konkurrenten. Hat der Durchschnittsarbeiter die Wahl zwischen Brandler und Wels, so wird er sich für Wels entscheiden und auf seine Art recht haben: Es ist unnütz, das, was man einmal durchgemacht hat, nochmals von vorn anzufangen.

9. Sie scheinen Brandler–Thalheimer ihre Kritik der 1. Mai-Politik Thälmanns als Verdienst anzurechnen. Gleichzeitig drücken Sie die Gewißheit aus, daß ich diese Politik nicht billigen werde. Ich weiß nicht, ob Sie meinen Brief an den VI. Weltkongreß (Was nun?) gelesen haben. Er enthält einen besonderen Abschnitt, der den Perspektiven der Radikalisierung der deutschen Arbeiterklasse gewidmet ist. Darin findet sich eine direkte und kategorische Warnung vor der unsinnigen Überschätzung dieser Radikalisierung durch Thälmann und vor den Gefahren der daraus entstehenden ultralinken Abenteuer. Über all das werde ich ausführlicher in einer Broschüre schreiben, die, wie ich hoffe, im nächsten Monat erscheinen wird. Aber wo ich das bürokratische Abenteurertum kritisiere, werde ich eine scharfe Trennungslinie zwischen meiner und der Brandlerschen Kritik ziehen. Opportunisten triumphieren immer, wenn sie das revolutionäre Abenteurertum kritisieren. Aber gerade sie bereiten ihm den Weg: Brandler hat Maslow heraufbeschworen wie Maslow Thälmann, der alle Fehler Brandlers und Maslows in sich vereint und eigene hinzufügt, die aus bürokratischer Dummheit und prahlerischer Ignoranz stammen.

10. Sie weisen auf einzelne Gruppen der Linken Opposition hin und nennen sie „Sektierer“. Man muß sich über die Bedeutung dieses Wortes verständigen. Es gibt bei uns Leute, die sich mit einer Kritik der Fehler der offiziellen Partei im stillen Kämmerlein begnügen, die sich keine größeren Aufgaben stellen, die keine revolutionären Verpflichtungen auf sich nehmen, die aus der revolutionären Opposition einen Titel in Art der Ehrenlegion machen. Es gibt ferner sektiererische Tendenzen, die sich mit HaarspaIterei beschäftigen. Dagegen muß man kämpfen, und was mich angeht, so bin ich bereit, diesen Kampf ohne Rücksicht auf Freundschaften oder persönliche Bindungen usw. zu führen.
Aber man darf sich keine Illusionen machen. Die revolutionären Marxisten sind abermals - nicht zum ersten und wahrscheinlich auch nicht zum letzten Mal – auf den Status einer internationalen Propagandagesellschaft zurückgeworfen worden. Eine solche Situation bedingt gewisse Momente von Sektierertum, die nur schrittweise überwunden werden können. Offenbar schreckt Sie die geringe Zahl. Natürlich ist das unangenehm.
Natürlich ist es besser, hinter sich Millionenorganisationen zu haben. Aber wie könnten wir, die Avantgarde der Avantgarde, Millionenorganisationen hinter uns haben, am Tage, nachdem die Weltrevolution in den wichtigsten Ländern katastrophale Niederlagen erlitten hat, die durch die menschewistische Leitung, die sich mit einer bolschewistischen Maske tarnte, herbeigeführt wurden ? Wie ?
Wir gehen - nach einer Reihe von revolutionären Jahren (1917–1923) – durch eine Periode ungeheurer Reaktion. Auf einer neuen und höheren historischen Stufe sehen wir revolutionären Marxisten uns auf die Position einer kleinen, verfolgten Minderheit zurückgeworfen, fast wie zu Anfang des imperialistischen Krieges.

Wie die ganze Geschichte zeigt, angefangen z. B. mit der I. Internationale, sind solche Rückschritte unvermeidlich. Unser Vorteil gegenüber unseren Vorgängern ist, daß die objektive Situation heute reifer ist, und daß wir selbst „reifer“ sind, da wir auf den Schultern von Marx, Lenin und vielen anderen stehen. Diesen Vorteil können wir nur nutzen, wenn wir imstande sind, die größte ideelle Unversöhnlichkeit an den Tag zu legen, die Lenins Intransigenz bei Ausbruch des imperialistischen Krieges womöglich noch übertrifft. Charakterlose Impressionisten wie Radek werden uns noch verlassen, sie werden auf jeden Fall von unserm „Sektierertum“ sprechen. Worte darf man nicht fürchten.

Wir sind schon zweimal durch ähnliche Erfahrungen hindurchgegangen. So war es in den Jahren der Reaktion 1907–1912 in Rußland, so war es wieder während des Krieges in ganz Europa.

Die heutige Reaktion reicht tiefer als die vorhergehenden. Es wird von neuem einzelne Kapitulationen, Fahnenflucht und direkten Verrat geben, – das liegt in der Natur der jetzigen Periode. Umso zuverlässiger wird die Auswahl unserer Kader sein. Jetzt in den Augen von Spießbürgern, Heulsusen und seichten „Denkern“ ein revolutionär-marxistischer Sektierer zu bleiben, ist die größte Ehre für einen wirklichen Revolutionär.

Ich wiederhole: Heute sind wir von neuem nur eine revolutionäre Propagandagesellschaft. Ich sehe darin keinen Grund zum Pessimismus, obwohl wir das enorme historische Gebirge der Oktoberrevolution hinter uns haben, – genauer gesagt: gerade darum nicht. Ich zweifle nicht daran, daß die Entwicklung des neuen Kapitels der proletarischen Revolution ihre Genealogie auf unsere „sektiererische“ Gruppe zurückführen wird.

11. Zum Schluß ein paar Worte über die Brandler-Fraktion im ganzen. Sie stimmen mit mir überein, daß Brandler–Thalheimer selbst unverbesserlich sind. Ich bin bereit, Ihnen zuzustimmen, daß ihre Fraktion jedenfalls besser ist als ihre Führer. Viele Arbeiter, die über die Politik der offiziellen Partei verzweifelt sind und gleichzeitig die unglückselige ultralinke Führung nach 1923 nicht vergessen können, gehen zu dieser Fraktion über. Das alles ist richtig. Ein Teil dieser Arbeiter wird, ebenso wie ein Teil der ultralinken Arbeiter, zur Sozialdemokratie übergehen. Ein anderer Teil wird zu uns kommen, wenn wir den Rechten gegenüber keine Nachsicht üben. Unsere Aufgabe besteht darin, aufzuzeigen, daß die Brandler-Fraktion nur ein neues Tor ist, das zur Sozialdemokratie führt.

12. Brauchen wir eine Plattform von Übergangsforderungen? Ja. Brauchen wir eine richtige Taktik in den Gewerkschaften? Unbedingt. Aber über diese Fragen kann man nur mit Leuten reden, die sich ganz klar darüber geworden sind, wozu wir das alles brauchen. Ebenso wie ich über die verschiedenen Richtungen im Materialismus nicht mit jemandem diskutiere, der sich vor einer Kirche bekreuzigt, werde ich nicht mit Brandler zusammen, der prinzipiell den Rücken der Revolution ihr Gesicht nennt (und umgekehrt), Losungen und eine Taktik ausarbeiten. Man muß sich einen richtigen Ausgangspunkt wählen und sich dann auf taktischer Linie entfalten. Wir sind gegenwärtig in einer Phase prinzipieller Selbstverständigung und unerbittlicher Abgrenzung gegenüber Opportunisten und Wirrköpfen. Nur in dieser Richtung liegt der Ausweg, der auf die breite Straße der Revolution führt.

Mit festem und unversöhnlichem Gruß

Ihr L. Trotzki


Zuletzt aktualisiert am 9.11.2011