Leo Trotzki

 

Mein Leben


Vorbereitung zur neuen Revolution

Meine Arbeit in den Jahren der Reaktion bestand zur guten Hälfte in der Deutung der Revolution von 1905 und in der theoretischen Wegbereitung für die zweite Revolution.

Schon bald nach meiner Ankunft im Ausland machte ich eine Reise durch die russischen Studenten- und Emigrantenkolonien mit zwei Referaten: „Das Schicksal der russischen Revolution (zum gegenwärtigen politischen Moment)“ und „Kapitalismus und Sozialismus (sozialrevolutionäre Perspektiven)“. Das eine Referat wies nach, daß die Perspektive von 1905 bestätigt worden war. Das zweite Referat hatte zur Aufgabe, die russische Revolution mit der Weltrevolution zu verbinden.

Seit Oktober 1908 gab ich in Wien die russische Zeitung Prawda heraus, die für breite Arbeiterkreise bestimmt war. Nach Rußland wurde sie geschmuggelt, entweder über die galizische Grenze oder über das Schwarze Meer. Die Zeitung erschien während dreieinhalb Jahren, nicht häufiger als zweimal im Monat, aber die Herausgabe erforderte große und mühselige Arbeit. Die illegale Korrespondenz mit Rußland nahm viel Zeit in Anspruch. Ich stand außerdem in engster Verbindung mit dem illegalen Bund der Schwarzmeer-Seeleute, denen ich half, ihr Organ herauszugeben.

Mein Hauptmitarbeiter an der Prawda war A.A. Joffe, der später bekannte Sowjetdiplomat. Seit den Wiener Tagen datiert unsere Freundschaft. Joffe war ein Mann von hoher Geistigkeit, großer persönlicher Weichheit und der Sache unverbrüchlich ergeben. Er opferte der Prawda seine Zeit und seine Mittel. Wegen einer nervösen Krankheit stand Joffe in psychoanalytischer Behandlung bei dem bekannten Wiener Arzt Alfred Adler, der als Schüler des Professors Freud begonnen harte, sich aber dann in Opposition zu seinem Lehrer stellte und eine eigene individualpsychologische Schule gründete. Durch Joffe wurde ich mit den Problemen der Psychoanalyse bekannt, die mir sehr verführerisch erschienen, obwohl auf diesem Gebiete vieles sehr schwankend und unbeständig ist und den Boden für Phantastik und Willkür öffnet Mein zweiter Mitarbeiter war der Suident Skobeljew, später Arbeitsminister in der Regierung Kerenski: wir trafen uns im Jahre 1917 als Feinde. Als Sekretär der Prawda hat eine Zeitlang Victor Kopp gearbeitet, der spätere Sowjetgesandte in Schweden.

In Angelegenheiten der Wiener Prawda reiste Joffe nach Rußland. Er wurde in Odessa verhaftet, saß lange im Gefängnis und wurde dann nach Sibirien verschickt. Erst die Februarrevolution von 1917 befreite ihn. Joffe war einer der aktivsten Teilnehmer am Oktoberumsturz. Der persönliche Mut dieses schwerkran ken Menschen war wahrhaft herrlich. Ich sehe noch jetzt seine schwerfällige Gestalt auf dem herbstlichen, von Geschossen zerwühlten Feld bei Petersburg im Herbst 1919. In der ausgesuchten Kleidung des Diplomaten, mit einem weichen Lächeln auf dem ruhigen Gesicht, mit einem Stöckchen, als wäre er Unter den Linden, beobachtete Joffe neugierig die in seiner Nähe platzenden Geschosse, ohne die Schritte zu beschleunigen oder zu verlangsamen. Er war ein guter, nachdenklicher, gemütvoller Redner und auch solch ein Schriftsteller. Bei jeder Arbeit war Joffe bis in die feinsten Details aufmerksam, was bei so vielen Revolutionären nicht der Fall ist. Lenin hat die diplomatische Tätigkeit Joffes sehr geschätzt. Ich war viele Jahre lang enger als sonst jemand mit diesem Manne verbunden. Seine Ergebenheit in der Freundschaft und seine geistige Treue waren unvergleichlich. Sein Leben hat Joffe tragisch been det. Schwere ererbte Krankheiten hatten seine Gesundheituntergraben. Nicht weniger hart traf ihn die wüste Hetze der Epigonen gegen die Marxisten. Der Möglichkeit beraubt, gegen seine Krankheitanzukämpfen, und damit auch, sich politisch zu betätigen, nahm sich Joffe im Herbst 1927 das Leben. Seinen vor dem Tode an mich gerichteten Brief haben die Agenten Stalins von Joffes Nachttisch gestohlen. Die Zeilen, die der Beachtung des Freundes gewidmet waren, wurden durch die Jaroslawski und andere innerlich demoralisierte Subjekte aus dem Zusammenhang gerissen, entstellt und umgelogen. Dies wird jedoch nicht verhindern, daß Joffes Name im Buche der Revolution als einer ihrer besten Namen eingetragen bleiben wird.

In den trübsten und lichtlosesten Tagen der Reaktion haben wir beide zuversichtlich das Nahen der neuen Revolution erwartet, und wir haben sie gerade so erwartet, wie sie sich im Jahre 1917 entfaltete. Swertschkow, der in jenen Jahren Menschewik war und jetzt Stalinist ist, schreibt in seinen Erinnerungen über die Wiener Prawda: „In dieser Zeitung setzte er (Trotzki) in alter Weise beharrlich und hartnäckig den Gedanken von der „Permanenz“ der russischen Revolution auseinander, das heißt, er versuchte zu beweisen, daß die Revolution, einmal begonnen, nicht aufhören würde, bis sie zur Niederwerfung des Kapitalismus und der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaftsordnung in der ganzen Welt geführt haben wird. Man lachte über ihn, sowohl die Bolschewiki wie die Menschewiki beschuldigten ihn der Romantik und der sieben Todsünden, er aber blieb hartnäckig und fest auf seinem Standpunkt, ohne sich durch die Angriffe beirren zu lassen.“

Im Jahre 1909 habe ich in der polnischen Zeitschrift von Rosa Luxemburg das gegenseitige Verhältnis zwischen Proletariat und Bauernschaft folgendermaßen charakterisiert: „Lokalkretinismus ist der historische Fluch der Bauernbewegungen. An der politischen Beschränktheit des Bauern, der in seinem Dorfe den Gutsbesitzer plündert, um sich dessen Landes zu bemächtigen, der aber, sobald er in den Soldatenrock kriecht, Arbeiter niederschießt, ist die erste Welle der russischen Revolution (1905) zerschellt. Ihren ganzen Verlauf kann man als einen erbarmungslosen Anschauungsunterricht betrachten, mit dessen Hilfe die Geschichte dem Bauern das Bewußtsein einzuhämmern versuchte, daß zwischen seiner lokalen Landnot und dem zentralen Problem der Staatsmacht eine direkte Verbindung besteht.“

Auf das Beispiel Finnlands verweisend, wo die Sozialdemokratie auf Grund der Kleinpächter-Frage einen riesigen Einfluß auf das Dorf gewonnen hatte, führte ich aus: „Welchen Einfluß auf die Bauernschaft wird unsere Partei im Prozeß und als Folge der unvergleichlich breiteren Massenbewegung in Stadt und Dorf gewinnen können! Natürlich nur dann, wenn wir nicht selbst die Waffen strecken werden aus Angst vor den Verlockungen der politischen Macht, der uns die neue Welle unvermeidlich entgegentragen wird. „ Wie sieht dies doch einer „Ignorierung der Bauernschaft“ oder einem „Überspringen der Agrarfrage“ ähnlich!

Am ?. Dezember 1909, als die Revolution endgültig und hoffnungslos zertreten schien, schrieb ich in der Prawda: „Schon heute, durch die uns umlagernden schwarzen Wolken der Reaktion hindurch, erkennen wir den siegreichen Widerschein eines neuen Oktober.“ Nicht nur die Liberalen, sondern auch die Menschewiki höhnten damals über diese Worte, die ihnen als pure Agitationsphrase ohne Inhalt erschienen. Professor Miljukow, dem die Ehre der Erfindung des Terminus „Trotzkismus“ gebührt, erwiderte mir: „Die Idee der Diktatur des Proletariats ist eine rein kindische Idee, und kein Mensch in Europa wird sie ernstlich unterstützen.“ Nichtsdestoweniger vollzogen sich im Jahre 1917 Ereignisse, die die großartige Überzeugung des liberalen Professors stark erschüttern mußten.

In den Jahren der Reaktion beschäftigte ich mich mit der Frage der Handels- und Industriekonjunktur, sowohl im Weltmaßstabe wie im nationalen Ausmaße. Mich leitete dabei das revolutionäre Interesse: Ich wollte das Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Schwankungen des Handels und der Industrie einerseits und dem Stadium der Arbeiterbewegung und des revolutionären Kampfes andererseits feststellen. Auch hier, wie in allen anderen Fragen, habe ich mich am meisten davor gehütet, eine automatische Abhängigkeit der Politik von der Ökonomie festzustellen. Die Wechsdwirkun g mußte man aus dem Gesamtprozeß ableiten. Ich befand mich noch im böhmischen Städtchen Hirschberg, als auf der New Yorker Börse sich der Schwarze Freitag abspielte. Er wurde der Vorbote einer Weltkrise, die unvermeidlich auch Rußland erfassen sollte, das durch den russisch-japanischen Krieg und danach durch die Revolution erschüttert war. Was werden die Folgen der Krise sein? Der in der Partei, und zwar in beiden Fraktionen, vorherrschende Standpunkt war, daß die Krise eine Verschärfung des revolutionären Kampfes mit sich bringen müsse. Ich nahm einen anderen Standpunkt ein. Nach einer Periode großer Kämpfe und großer Niederlagen wirken Krisen auf die Arbeiterklasse nicht erhebend, sondernd drückend, rauben ihr die Zuversicht zu ihren Kräften und zersetzen sie politisch. Unter solchen Umständen vermag nur ein neuer industrieller Aufschwung das Proletariat zusammenzuschweißen, zu neuem Leben zu erwecken, ihm das Vertrauen zu seiner Kraft zurückzugeben und es wieder kampffähig zu machen. Diese Perspektive begegnete Kritik und Mißtrauen. Die offiziellen Ökonomisten der Partei entwickelten außerdem den Gedanken, daß ein industrieller Aufschwung unter dem Regime der Konterrevolution überhaupt unmöglich sei. Im Gegensatz zu ihnen ging ich davon aus, daß ein wirtschaftlicher Aufschwung ünvermeidlich wäre; daß er eine neue Streikwelle hervorrufen würde, wonach erst eine neue ökonomische Krise den Anstoß zum revolutionären Kampfe geben könne. Diese Prognose hat sich völlig bestätigt. Ein industrieller Aufstieg begann im Jahre 1910, trotz der Konterrevolution. Zusammen mit ihm kamen auch Streiks. Die Niederschießung der Arbeiter in den Goldgruben von Lena im Jahre 1912 fand einen gigantischen Widerhall im ganzen Lande. Im Jahre 1914, als die Krise schon unzweifelhaft vorhanden war, wurde Petersburg wieder die Arena von Arbeiterbarrikaden. Ihr Zeuge war Poincarè, der am Vorabend des Krieges dem Zaren einen Besuch abstattete.

Diese theoretische und politische Erfahrung ist für mich in der Folge von unschätzbarer Bedeutung geworden. Auf dem dritten Kongreß der Kommunistischen Internationale hatte ich die erdrückende Mehrzahl der Delegierten gegen mich, als ich auf die Unvermeidlichkeit des ökonomischen Aufstiegs des Nachkriegseuropa als auf die Voraussetzung weiterer revolutionärer Krisen verwies. In der allerjüngsten Zeit war kh wieder gezwungen, gegen den sechsten Kongreß der Komintern die Beschuldigung zu erheben, daß er den in China stattgefundenen Umschwung der ökonomischen und politischen Verhältnisse ganz und gar nicht begn.ffen habe, als er nach der grausamen Niederlage der Revolution irrtümlich ihre Weiterentwicklung als Folge der zugespitzten ökonomischen Krise im Lande erwartete.

Die Dialektik des Prozesses ist an sich gar nicht so kompliziert Es ist aber leichter, sie in allgemeinen Zügen zu formulieren, als sie jedesmal aufs neue an lebendigen Beispielen zu entdecken. Mindestens stoße ich in dieser Frage bis auf den heutigen Tag auf die hartnäckigsten Vorurteile, die in der Politik zu groben Fehlern und schweren Folgen führen.

In der Einschätzung des weiteren Schicksals des Menschewismus und der organisatorischen Aufgaben der Partei hat die Prawda niemals die Leninsche Klarheit errekht. Ich hatte immer noch gehofft, daß eine neue Revolution die Menschewiki – wie im Jahre 1905 – zwingen würde, den revolutionären Weg zu beschreiten. Ich habe die Bedeutung der vorbereitenden ideologischen Aufzucht und politischen Stählung unterschätzt. ln Fragen der innerparteilichen Entwicklung beging ich die Sünde, mich einer Art sozialrevolutionärem Fatalismus hinzugeben. Das war eine falsche Position. Aber sie war unermeßlich höher als jener ideenlose bürokratische Fatalismus, der die Mehrzahl meiner heutigen Kritiker aus dem Lager der Kommunistischen Internationale auszeichnet.

Im Jahre 1912, als sich der neue politische Aufstieg klar zeigte, machte ich den Versuch, eine Vereinigungskonferenz von Vertretern aller sozialdemokratischen Fraktionen einzuberufen. Daß in jener Zeit die Hoffnung auf eine Wiederherstellung einer einigen russischen Sozialdemokratie nicht nur mich beschäftigte, zeigt das Beispiel Rosa Luxemburgs. Im Sommer 1911 schrieb sie: „Trotz alledem kann die Parteieinheit noch gerettet werden, wenn man beide Seiten zwingt, zusammen die Konferenz einzuberufen.“ Im August 1911 wiederholte sie: „Der einzige Weg, die Einigkeit zu retten, ist, eine allgemeine aus Rußland beschickte Konferenz zustandezubringen, denn die Leute in Rußland wollen alle den Frieden und die Einigkeit, und sie sind die einzige Macht die die ausländischen Kampfhähne zur Räson bringen wird.“

Unter den Bolschewiki selbst waren die versöhnlerischen Tendenzen in jener Periode sehr stark, und ich verlor die Hoffnung nicht, daß dieses auch Lenin veranlassen würde, sich an der Konferenz zu beteiligen. Lenin jedoch widersetzte sich der Vereinigung mit aller Kraft. Der ganze Verlauf der Ereignisse hat gezeigt, daß Lenin recht hatte. Die Konferenz versammelte sich im August 1912 in Wien, ohne die Bolschewiki, und ich geriet formell in einen „Block“ mit den Menschewiki und einzelnen Gruppen der Bolschewiki-Dissidenten. Eine politische Basis hatte dieser Block nicht, in allen grundlegenden Fragen ging kh mit den Menschewiki auseinander. Der Kampf gegen sie wurde am Tage nach der Konferenz wiederaufgenommen. Zugespitzte Konflikte erwuchsen täglich aus den zwei tief entgegengesetzten Tendenzen: der sozialrevolutionären und der demokratisch-reformistischen.

„Aus dem Brief Trotzkis“, schreibt Axelrod am 4. Mai kurz vor der Konferenz, „habe ich den für mich recht schweren Eindruck gewonnen, daß er gar nicht den Wunsch hat, sich tatsächlich ernstlich uns und unseren Freunden in Rußland zu nähern ... zum gemeinsamen Kampfe gegen den gemeinsamen Feind.“ Eine solche Absicht: mich mit den Menschewiki zu verbinden zum gemeinsamen Kampfe gegen die Bolschewiki, hatte ich tatsächlich nicht und konnte ich nicht haben. Nach der Konferenz beklagte sich Martow in einem Brief an Axelrod darüber, daß Trotzki die „schlimmsten Sitten des Lenin-Plechanowschen Literaten-Individualismus“ auferstehen lasse. Der vor einigen Jahren veröffentlichte Briefwechsel zwischen Axelrod und Martow legt Zeugnis ab für deren ganz unverfälschten Haß gegen mich. Trotz dem mich von ihnen trennenden tbgrunde hatte ich niemals ein solches Gefühl gegen sie gehegt. Auch jetzt noch denke ich mit Dankbarkeit daran, daß sie mir in meinen jungen Jahren Wertvolles gegeben haben.

Die Episode des August-Blocks ist in alle „antitrotzkistischen“ Lehrbücher des Epigonentums hineingekommen. Für Neulinge und Analphabeten wird die Vergangenheit so dargestellt, als sei der Bolschewismus gleich in voller Rüstung aus dem historischen Laboratorium herausgekommen. Die Geschichte des Kampfes der Bolschewiki mit den Menschewiki ist aber in Wahrheit gleichzeitig die Geschichte un unterbrochener Vereinigungsbestrebungen. Im Jahre 1917 nach Rußland zurückgekehrt macht Lenin den letzten Versuch einer Verständigung mit den Menschewiki-Internationalisten. Als ich im Mai aus Amerika eintraf, bestand die Mehrzahl der sozialdemokratischen Organisationen in der Provinz aus vereinigten Bolschewiki und Menschewiki. Auf der Parteikonferenz im März 1917, einige Tage vor der Ankunft Lenins, predigte Stalin die Vereinigung mit der Partei Zeretellis. Noch nach der Oktoberrevolution haben Sinowjew, Kamenjew, Rykow, Lunatscharski und Dutzende anderer wütend für eine Koalition mit den Sozialrevolutionären und den Menschewiki gekämpft. Diese Menschen versuchen heute, ihre geistige Existenz mit dem schrecklichen Märchen von der Wiener Vereinigungskonferenz des Jahres 1912 zu fristen.

Die Kijewskaja Mysl (Kiewer Gedanke) machte mir das Angebot, als Kriegskorrespondent nach dem Balkan zu gehen. Dieses Angebot kam mir um so gelegener, als die August-Konferenz sich inzwischen als eine Fehlgeburt erwiesen hatte. Ich empfand das Bedürfnis, mindestens für eine kurze Zeit mich von den Angelegenheiten der russischen Emigration femzuhalten. Die wenigen Monate, die ich auf der Balkanhalbinsel verbrachte, waren Kriegs-monate, und sie haben mich vieles gelehrt.

Ich fuhr im September 1912 gen Südosten, den Krieg im voraus nicht nur als wahrscheinlich, sondern als unvermeidlich betrachtend. Als ich jedoch in den Straßen von Belgrad war, die langen Reihen der Reservisten erblickte, als ich mich mit meinen eigenen Augen überzeugte, daß es kein Zurück mehr gab, daß der Krieg kommen werde, kommen werde in wenigen Tagen, als ich erfuhr, daß einige mir gut bekannte Menschen bereits unter Waffen an der Grenze standen und daß sie als erste gezwungen sein würden, zu morden und zu sterben, – da erschien mir der Krieg, mit dem ich in meinen Gedanken und Artikeln so leicht umgegangen war – unwahrscheinlich und unmöglich. Wie auf ein Gespenst blickte ich auf das Regiment, das in den Krieg ging – das 18. Infanterie-Regiment –, in feldgrauen Uniformen, in Bastschuhen und mit grünen Zweigen an den Käppchen. Die Bastschuhe an den Füßen und die Zweige an den Käppchen – bei voller Kriegsausrüstung – gaben den Soldaten das Aussehen von Opfergeweihten. Und nichts vom Wahnsinn des Krieges brannte in diesem Augenblick im Bewußtsein so unerträglich wie diese Zweige und Bauernschuhe. Wie weit ist die heutige Generation von den Gewohnheiten und Stimmungen des Jahres 1912 entfernt! Ich verstand auch damals sehr gut, daß der humanitär-moralisierende Standpunkt dem historischen Prozeß gegenüber der fruchtloseste Standpunkt ist. Aber es handelte sich nicht um Deutungen, sondern um Erlebnisse. Die Seele war erfüllt von einem unmittelbaren, nicht wiederzugebenden Gefühl der historischen Tragik; Die Ohnmacht vor dem Fatum, der brennende Schmerz für die menschliche Heuschrecke.

Der Krieg wurde nach zwei, drei Tagen erklärt. „Sie in Rußland wissen es und glauben es“, schrieb ich, „ich aber, hier an Ort und Stelle, glaube daran nicht Diese Verbindung des Üblichen, des Alltäglich-Menschlichen: Hühner, Zigaretten, barfüßige Jungen mit Rotznasen – mit der unwahrscheinlichen tragischen Tatsache des Krieges findet in meinem Kopfe keinen Platz. Ich weiß, daß der Krieg erklärt ist, daß er bereits begonnen hat, aber ich habe noch nicht gelernt, an ihn zu glauben.“ Man wurde aber gezwungen, fest und für lange Zeit an ihn zu glauben.

Die Jahre 1912, 13 haben mir die nahe Bekanntschaft mit Serbien, Bulgarien, Rumänien und – dem Krieg vermittelt. Dies war in vieler Beziehung eine gute Vorbereitung nicht nur für das Jahr 1914, sondern auch für 1917. Ich begann in meinen Artikeln einen Kampf gegen die Lüge des Slawophilentums zu führen, gegen den Chauvinismus überhaupt, gegen die Illusionen des Krieges, gegen das wissenschaftlich organisierte System der Nasführung der öffentlichen Meinung. Die Redaktion der Kijewskaja Mysl besaß Entschlossenheit genug, meinen Artikel zu drucken, der die bulgarischen Bestialitäten gegen die verwundeten und gefangenen Türken schilderte und die Verschwörung der russischen Presse, die sie verschwieg, entlarvte. Das rief einen Sturm der Entrüstung bei den liberalen Zeitungen hervor. Am 30. Januar 1913 stellte ich Miljukow in der Presse die „außerparlamentarische Interpellation“ betreffs der „slawischen“ Bestialitäten gegen die Türken. An die Wand gedrückt, antwortete Miljukow, der geschworene Vertreter des offiziellen Bulgariens, mit einem hilflosen Gestammel. Die Polemik dauerte einige Wochen und entbehrte nicht der Anspielungen der Regierungsorgane darauf, daß sich hinter dem Pseudonym Antid Oto nicht etwa nur ein Emigrant, sondern auch ein österreichisch-ungarischer Agent verberge.

Der Monat, den ich in Rumänien verlebte, hatte mich Dobrudschanu-Gherea genähert und meine Freundschaft mit Rakowski, den ich seit 1903 kannte; für immer befestigt.

Ein russischer Revolutionär der siebziger Jahre blieb „im Vorbeigehen“ am Vorabend des russisch-türkischen Krieges in Rumänien, wurde dort zufällig aufgehalten, – und bereits nach wenigen Jahren gewann unser Landsmann, unter dem Namen Gherea, großen Einfluß zuerst auf die rumänische Intelligenz, dann auf die fortgeschrittenen Arbeiter. Die literarische Kritik auf sozialer Basis war das Hauptgebiet, auf dem Gherea das Bewußtsein der fortschrittlichen Elemente der rumänischen Intelligenz formte. Von den Fragen der Ästhetik und der persönlichen Moral leitete er über zum wissenschaftlichen Sozialismus. Die Mehrzahl der Politiker fast sämtlicher Parteien Rumäniens hat in ihrer Jugend eine flüchtige Schule des Marxismus unter der Leitung von Gherea durchgemacht. Das hat sie übrigens nicht gehindert, im reifen Alter eine Politik des reaktionären Banditismus zu verfolgen.

Christian Georgijewitsch Rakowski ist eine der internationalsten Gestalten in der europäischen Bewegung. Ein Bulgare der Abstammung nach, aus der Stadt Kotel, dem Herzen Bulgariens, aber rumänischer Untertan dank der Balkankarte, französischer Arzt der Bildung nach, Russe durch seine Verbindungen, Sympathien und literarischen Arbeiten, beherrscht Rakowski alle Balkansprachen und vier europäische, hat sich zu verschiedenen Perioden aktiv am Leben von vier sozialistischen Parteien beteiligt der bulgarischen, russischen, französischen und rumänischen –, um später einer der Führer der Sowjetföderation, einer der Begründer der Kommunistischen Internationale, der Vorsitzende des ukrainischen Sowjets der Volkskommissare, der diplomatische Vertreter der Sowjetunion in England und Frankreich zu werden und schließlich das Schicksal der linken Opposition zu teilen. Die persönlichen Eigenschaften Rakowskis, ein weiter internationaler Horizont und ein tiefer, edler Charakter haben ihn bei Stalin besonders verhaßt gemacht, da dieser gerade die entgegengesetzten Eigenschaften verkörpert.

Im Jahre 1913 war Rakowski der Gründer und Führer der rumänischen sozialistischen Partei, die sich später der Kommunistischen Internationale anschloß. Die Partei erlebte einen Aufstieg. Rakowski redigierte eine Tageszeitung, er finanzierte sie auch. Am Ufer des Schwarzen Meeres, unweit von Mangalien, hatte Rakowski ein kleines Erbgut, dessen Erträgnisse zur Unterstützung der rumänischen sozialistischen Partei und einer Reihe revolutionärer Gruppen und Personen in anderen Ländern dienten. Drei Tage in der Woche verbrachte Rakowski in Bukarest, schrieb Artikel, leitete die Sitzungen des Zentralkomitees, trat in Versammlungen auf, beteiligte sich an straßendemonstrationen. Dann eilte er mit dem Zug an das Ufer des Schwarzen Meeres zurück, brachte Bindfaden, Nägel und andere Gebrauchsgegenstände für das Gut mit, fuhr auf das Feld, kontrollierte die Arbeit des neuen Traktors, lief im städtischen Gehrock über die Furchen hinter ihm her und hastete tags darauf wieder zurück, um nicht ein Meeting oder eine Sitzung zu versäumen. Ich begleitete Rakowski auf einer Reise und bewunderte dessen überschäumende Energie, dieses Nieermüden, die ständige geistige Frische und die freundliche Aufmerksamkeit gegen kleine Leute. Auf der Straße in Mangalien ging Rakowski in Gesprächen mit den Kolonisten und Handelsagenten im Verlaufe von fünfzehn Minuten von der rumänischen zur türkischen, von der türkischen zur bulgarischen, dann zur deutschen und französischen Sprache über, um schließlich mit den vielen in der Umgegend lebenden russischen Skopzen [1] Russisch zu sprechen. Er unterhielt sich als Gutsbesitzer, als Arzt, als Bulgare, als rumänischer Untertan und am häufigsten als Sozialist. So ging er vor meinen Augen wie ein Wunder einher, durch die Straßen des weltentlegenen, sorglosen, trägen Seestädtchens. Und in der Nacht jagte er schon wieder zum Kampfplatz. Er fühlte sich überall wohl und heimisch, in Bukarest, Sofia, Paris, Petersburg oder Charkow.

Die Jahre der zweiten Emigration waren für mich Jahre der Mitarbeit an der russischen demokratischen Presse. Ich debütierte in der Kijewskaja Mysl mit einem großen Aufsatz über den Münchener „Simplicissimus“, der mich einige Zeit, als die Zeichnungen von Th.Th. Heine noch von einem starken sozialen Geiste erfüllt waren, so sehr interessierte, daß ich alle seit der Gründung dieser Zeitschrift erschienenen Nummern aufmerksam durchsah. In diese Zeit fällt auch meine nähere Bekanntschaft mit der netten deutschen Belletristik. Über Wedekind schrieb ich einen großen sozialkritischen Aufsatz, weil in Rußland das Interesse für diesen Dichter parallel mit dem Niedergang der revolutionären Stimmungen stieg.

Die Kijewskaja Mysl war die im Süden verbreitetste radikale Zeitung marxistischer Färbung. Eine solche Zeitung konnte nur in Kiew existieren, mit seiner schwachen Industrie, seinen unentwickelten Klassengegensätzen und den starken Traditionen des intellektuellen Radikalismus. Man kann mutatis mutandis behaupten, daß die radikale Zeitung in Kiew aus demselben Grunde entstanden war, aus dem der „Simplicissimus“ in München erschien. Ich schrieb in der Zeitung über die verschiedensten, mitunter im Sinne der Zensur gewagtesten Themen. Kleine Artikel waren manchmal das Resultat großer Vorarbeiten. Natürlich konnte ich in einer legalen parteilosen Zeitung nicht alles das sagen, was ich wollte. Aber ich habe niemals das geschrieben! was ich nicht sagen wollte. Meine Artikel aus der Kijewskaja Mysl sind von dem Staatsverlag in einigen Bänden gesammelt und neu herausgegeben worden. Ich habe nichts zurückzunehmen gebraucht. Es ist vielleicht nicht überflüssig, hier daran zu erinnern, daß ich an der bürgerlichen Presse mit formeller Zustimmung des Zentralkomitees, in dem Lenin die Mehrheit hatte, mitarbeitete.

Ich habe bereits erwähnt, daß wir uns gleich nach unserer Ankunft in Wien außerhalb der Stadt niedergelassen hatten. „Hütteldorf hatte mir gefallen“, schrieb meine Frau. „Die Wohnung hier war besser, als wir sie sonst haben konnten, da hier die Villen gewöhnlich erst im Frühling vermietet werden, wir aber für den Herbst und Winter mieteten. Aus den Fenstern sah man Berge, alle in dunkelroter herbstlicher Farbe. Ins Freie gelangte man durch eine kleine Tür, ohne die Straße zu berühren. Im Winter kamen sonntags auf ihren Ausflügen in die Berge die Wiener mit Schlitten und Schiern in bunten Mützen und Sweatern vorbei. Im April, als wir unsere Wohnung verlassen mußten, da die Miete verdoppelt wurde, blühten im Garten und hinter dem Garten schon die Veilchen, ihr Duft drang durch die offenen Fenster ins Zimmer. Hier wurde Serjoscha geboren. Man mußte dann nach dem demokratischeren Sievering umziehen.

Die Kinder sprachen Russisch und daneben auch Deutsch. Im Kindergarten und in der Schule verständigten sie sich auf Deutsch und sprachen darum auch zu Hause beim Spiel in dieser Sprache miteinander; sobald aber ich oder ihr Vater sie anredeten, gingen sie sofort auf Russisch über. Sprachen wir sie deutsch an, wurden sie verlegen und antworteten russisch. In den letzten Jahren hatten sie sich auch den Wiener Dialekt angeeignet und sprachen ihn vorzüglich.“

Sie liebten es, die Familie Kljatschko zu besuchen, wo alle, das Oberhaupt der Familie, die Hausfrau und die erwachsenen Kinder, sehr aufmerksam gegen sie waren, ihnen allerhand Interessantes zeigten und sie mit herrlichen Dingen bewirteten.

Die Kinder liebten auch Rjasanow, den bekannten Marxforscher. Rjasanow, der damals in Wien lebte, versetzte die Kinder in Begeisterung durch seine gymnastischen Heldentaten und gefiel ihnen durch sein lärmendes Benehmen. Einmal wurde dem jüngeren Knaben das Haar vom Friseur geschnitten. Ich saß dabei. Serjoscha winkte mich mit dem Finger heran und sagte mir leise ins Ohr: „Ich möchte, daß er mir so eine Frisur macht wie bei Rjasanow.“ Er war von der großen, glatten Glatze des Rjasanow begeistert – das war etwas Besonderes, nicht wie bei allen, sondern viel schöner.

Als Ljowa in die Schule kam, entstand die Frage nach dem Religionsunterricht. Gemäß dem damaligen österreichischen Gesetz mußten Kinder bis zu vierzehn Jahren in der Religion ihrer Väter erzogen werden. Da in unseren Dokumenten keine Religion vermerkt war, so wählten wir für die Kinder den protestantischen Religionsunterricht, da diese Religion uns für die kindlichen Schultern und Seelen als am leichtestertragbar schien. Die Lehre Luthers unterrichtete eine Lehrerin außerhalb der Schulstunden, aber im Schulgebäude. Ljowa gefiel dieser Unterricht, das sah man seinem Frätzchen an, aber zu Hause sich darüber auszulassen, hielt er für überflüssig. Einmal hörte ich, wie er schon im Bett liegend etwas flüsterte. Auf meine Frage antwortete er: „Das ist ein Gebet; weißt du, es gibt sehr schöne Gebete, wie Gedichte.“

Schon während meiner ersten Emigration hatten meine Eltern begonnen, Reisen ins Ausland zu machen. Sie waren bei mir in Paris, kamen später mit meiner älteren Tochter, die bei ihnen im Dorfe lebte, nach Wien. Im Jahre 1910 waren sie in Berlin. Zu jener Zeit hatten sie sich schon mit meinem Schicksal abgefunden. Das letzte, schwerwiegende Argument war wohl das Erscheinen meines ersten Buches in deutscher Sprache. Die Mutter war schwer krank (Actinomycosis). Die letzten zehn Jahre ihres Lebens ertrug sie die Krankheit wie eine neue ergänzende Last, ohne die Arbeit einzustellen. In Berlin hatte man ihr eine Niere entfernt. Die Mutter war sechzig Jahre alt. In den ersten Monaten nach der Operation blühte sie förmlich auf. Dieser Fall wurde in der medizinischen Welt viel besprochen. Aber die Krankheit kam bald wieder und raffte die Mutter in wenigen Monaten hinweg. Sie starb in Janowka, wo sie ihr arbeitsreiches Leben verbracht und ihre Kinder großgezogen hatte.

Das große Kapitel meines Wiener Lebens wäre nicht vollständig, wenn ich nicht erwähnen würde, daß die Familie des alten Emigranten S.L. Kljatschko in Wien zu unseren nächsten Freunden zählte. Die Geschichte meiner zweiten Emigration ist aufs engste verflochten mit dieser Familie, die ein wahrer Herd breitester politischer und überhaupt geistiger Interessen war; in diesem Hause wurde Musik getrieben, waren vier europäische Sprachen heimisch und wurden europäische Verbindungen unterhalten. Der Tod des Familienhauptes, Semjon Lwowitsc im April 1914, war für mich und meine Frau ein großer Schmerz. Leo Tolstoi schrieb über seinen sehr begabten Bruder Sergej, daß ihm nur einige Mängel fehlten, um ein großer Künstler zu werden. Das gleiche läßt sich von Semjon Lwowitsch sagen: er besaß alles für einen hervorragenden Politiker, nur nicht die dafür notwendigen Fehler. In der Familie Kljatschko fanden wir stets Hilfe und Freundschaft, und wir bedurften oft der einen wie der anderen.

Mein Einkommen aus der Kijewskaja Mysl hätte für unsere bescheidene Existenz hingereicht. Aber es gab Monate, wo die Arbeit an der Prawda mir keine Möglichkeit ließ, auch nur eine bezahlte Zeile zu schreiben. Dann trat eine Krise ein. Meine Frau kannte den Weg ins Leihhaus gut, und ich habe wiederholt meine in üppigeren Tagen erworbenen Bücher zu den Antiquaren getragen, Es kam vor, daß unsere bescheidene Wohnungseinrichtung rückständiger Miete wegen gepfändet wurde. Wir hatten zwei kleine Kinder und keine Kinderfrau. Die Schwere des Lebens lastete doppelt auf meiner Frau. Aber sie fand dennoch Zeit und Kraft, mir bei meiner revolutionären Arbeit zu helfen.


Anmerkung

1. Einer russische Sekte.


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008