Leo Trotzki

 

Mein Leben


Paris und Zimmerwald

Am 19. November 1914 passierte ich in der Eigenschaft des Kriegskorrespondenten der Kijewskaja Mysl die Grenze Frankreichs. Ich hatte das Angebot der Zeitung um so bereitwilliger angenommen, als es mir die Möglichkeit verschaffte, näher an den Krieg heranzukommen. Paris war traurig, die Straßen versanken abends in Dunkelheit. Zeppeline statteten Besuche ab. Nachdem die deutschen Armeen an der Marne zum Stehen gebracht worden waren, wurde der Krieg immer fordernder und erbarmungsloser. Im uferlosen Chaos, das an Europa fraß, unter dem Schweigen der von der Sozialdemokratie betrogenen und verratenen Arbeitermassen entwickelten die Vernichtungsmaschinen ihre automatische Kraft. Die kapitalistische Zivilisation führte sich selbst ad absurdum, indem sie sich bemühte, der Menschheit den harten Schädel einzuschlagen.

In jenem Augenblick, als die Deutschen sich Paris näherten und die bürgerlichen französischen Patrioten es verließen, begründeten zwei russische Emigranten in Paris eine kleine Tageszeitung in russischer Sprache. Sie hatte die Aufgabe, die nach Paris verschlagenen Russen über die sich entwickelnden Ereignisse aufzuklären und den Geist der internationalen Solidarität nicht erlöschen zu lassen. Vor dem Erscheinen der ersten Nummer waren in der „Kasse“ des Verlages genau 30 Franken. Nicht ein „vernünftig denkender“ Mensch würde geglaubt haben, daß man mit einem solchen Gründungskapital eine Tageszeitung herausgeben könnte. Und wirklich: mindestens einmal in der Woche durchlebte die Zeitung, trotz der unbezahlten Arbeit der Redaktion und der Mitarbeiter, eine solche Krise, daß es schien, als gäbe es keinen Ausweg. Aber der Ausweg fand sich. Es hungerten die der Zeitung ergebenen Setzer, die Redakteure hetzten in der Stadt herum auf der Suche nach dem nötigen Dutzend Franken, – und die fällige Nummer erschien. So existierte, unter den Schlägen des Defizits und der Zensur, bald verschwindend, bald wiedererscheinend, die Zeitung während zweieinhalb Jahre, das heißt bis zur Februarrevolution 1917. Nach meiner Ankunft in Paris begann ich eifrig an dem Nasche Slowo, das damals noch Golos („Die Stimme“) hieß, mitzuarbeiten. Die täglich erscheinende Zeitung war für mich selbst ein wichtiges Orientierungsmittel über die heranwachsenden Ereignisse. Die Erfahrungen des Nasche Slowo erwiesen mir später, als ich näher an die Kriegssache herangehen mußte, einen guten Dienst.

Meine Familie übersiedelte erst im Mai des Jahres 1915 nach Frankreich. Wir nahmen eine Wohnung in Sèvres, in einem kleinen Häuschen, das uns ein junger Freund, der italienische Maler René Parece, für einige Monate zur Verfügung gestellt hatte. Die Jungens besuchten die Schule in Sèvres. Der Frühling war herrlich, das Grün schien besonders zart und lieblich. Aber die Zahl der Frauen in Schwarz nahm immer mehr zu. Die Schuljungens blieben ohne Väter. Zwei Armeen gruben sich in die Erde ein. Ein Ausweg war nicht zu sehen. Clemenceau begann in seiner Zeitung Joffre zu attackieren. Die unterirdische Reaktion bereitete sich für einen Staatsstreich vor. Gerüchte darüber wurden von Mund zu Mund weitergegeben. In den Spalten des Temps wurde das Parlament ein oder zwei Tage lang nicht anders als der Esel genannt. Von den Sozialisten forderte der Temps jedoch die strengste Wahrung der nationalen Einigkeit.

Jaurès war nicht mehr. ich besuchte das Café du Croissant, wo Jaurès ermordet worden war: ich wollte seine Spuren finden. Politisch stand ich Jaurès fern. Aber es war unmöglich, die Anziehungskraft dieser gewaltigen Persönlichkeit nicht zu fühlen. Jaurès’ geistige Welt, die aus nationalen Traditionen, aus der Metaphysik der sittlichen Grundsätze, aus Liebe zu den Erniedrigten und aus poetischer Phantasie bestand, trug ebenso scharf ausgesprochen aristokratische Züge, wie das geistige Antlitz Bebels plebejisch einfach war. Und doch überragten sie beide um Haupteslänge die Erben, die sie hinterlassen hatten. Ich hatte Jaurès in Pariser Volksversammlungen, auf internationalen Kongressen und in Kommissionen sprechen hören. Und immer lauschte ich ihm, als wäre es das erste Mal. Er pflegte keine Routine anzuhäufen, wiederholte sich im wesentlichen nicht, fand sich stets selbst, mobilisierte jedesmal aufs neue die unterirdischen Quellen seines Geistes. Mit einer gewaltigen Kraft, die elementar wie ein Wasserfall war, vereinigte er viel Weichheit, die auf seinem Gesicht leuchtete wie der Abglanz einer höheren Geisteskultur. Er stürzte Felsen, donnerte, erschütterte, er betäubte sich aber niemals selbst, er war immer auf der Wacht, mit einem feinen Ohr erlauschte er jedes Echo, nahm es auf, parierte auf Erwiderungen, manchmal erbarmungslos, wie ein Sturm fegte er auf seinem Wege Widerstände hinweg, manchmal großmütig und weich, wie ein Lehrer, wie ein älterer Bruder. Jaurès und Bebel waren Antipoden und gleichzeitig die Gipfel der Zweiten Internationale. Beide waren tief national: Jaurès mit seiner feurigen lateinischen Rhetorik und Bebel mit seiner protestantischen Trockenheit. Ich liebte beide, aber auf verschiedene Art. Bebel hatte sich physisch ausgeschöpt. Jaurès fiel in der Blüte seiner Kraft. Aber beide starben rechtzeitig. Ihr Tod bezeichnet jene Grenze, wo die fortschreitende historische Mission der Zweiten Internationale endete.

Die französische sozialistische Partei befand sich im Zustande völliger Demoralisation. Den Platz von Jaurès konnte niemand einnehmen. Vaillant, der alte „Antimilitarist“, verausgabte sich täglich in Artikeln im Geiste des wütendsten Chauvinismus. Ich traf den Alten zufällig im Comité d’Action, das aus Vertretern der Partei und der Gewerkschaften bestand. Vaillant ähnelte seinem Schatten – dem Schatten des Blanquismus mit den Traditionen aus dem Sansculotten-Kriege in der Epoche Raymond Poincarés. Das Vorkriegsfrankreich mit seiner dauernd sinkenden Bevölkerungszahl und den konservativen Formen der Wirtschaft und des Denkens erschien Vaillant als das einzige Land der Bewegung und des Fortschritts, als die auserwählte, befreiende Nation, deren Berührung allein schon andere Völker zum geistigen Leben erwecke. Sein Sozialismus war chauvinistisch wie sein Chauvinismus messianisch war. Jules Guesde, der Führer des marxistischen Flügels, der sich im langen erschöpfenden Kampfe gegen die Fetische der Demokratie verbraucht hatte, war nur noch imstande, seine unbefleckte moralische Autorität am „Altar“ der nationalen Verteidigung niederzulegen. Alles bot ein Durcheinander. Marcel Sembat, der Autor des Buches: „Schafft einen König, oder schafft Frieden !“, sekundierte Guesde im Ministerium – Briand. Pierre Renaudel wurde für eine Zeit „Führer“ der Partei. Schließlich mußte ja doch irgendwer Jaurès Platz einnehmen. Sich überanstrengend, ahmte er den getöteten Führer in Gesten und Stimmgedonner nach. Longuet folgte Renaudels Spuren, aber mit einer gewissen Verlegenheit, die er für links ausgab. Durch sein ganzes Benehmen erinnerte er daran, daß Marx für seine Enkel keine Verantwortung trägt. Der offizielle Syndikalismus, den der Vorsitzende der Confédération Générale, Jouhaux, vertrat, war in vierundzwanzig Stunden verblaßt. Er „verneinte“ den Staat in Friedenszeiten, um im Kriege vor ihm auf den Knien zu liegen. Der revolutionäre Clown Hervé, der gestrige radikale Antimilitarist, zeigte seine Kehrseite und blieb als radikaler Chauvinist der gleiche selbstzufriedene Clown. Gleichsam als verhöhne er seine gestrigen Ideale, fuhr er fort, seine Zeitung La guerre sociale zu nennen. Alles zusammen ähnelte einer Trauermaskerade, einem Karneval des Todes. Man durfte sich sagen: „Nein, wir sind doch aus einem solideren Material gemacht, – uns haben die Ereignisse nicht überrascht, wir haben manches vorausgesehen, sagen manches jetzt voraus und sind zu vielem bereit!“ Wie oft haben wir die Fäuste geballt, wenn die Renaudel, Hervé und das übrige Publikum sich aus der Ferne mit Karl Liebknecht zu verbrüdern versuchten! Vereinzelte oppositionelle Elemente waren hie und da verstreut, in der Partei und in den Gewerkschaften, – aber sie gaben fast keine Lebenszeichen von sich.

Die bedeutendste Figur, die ich in Paris unter den russischen Emigranten vorfand, war zweifellos Martow, der Führer der Menschewiki, einer der begabtesten Köpfe, die ich in meinem Leben überhaupt getroffen habe. Das Unglück dieses Mannes bestand darin, daß das Schicksal ihn zu einem Politiker in einer revolutionären Epoche gemacht hatte, ohne ihm den dazu erforderlichen Vorrat an Willensstärke zu verleihen. In der geistigen Wirtschaft Martows herrschte kein Gleichgewicht, und das zeigte sich jedesmal tragisch, wenn große Ereignisse eintraten. Ich habe Martow in drei historischen Etappen beobachtet: in den Jahren 1905, 1914 und 1917. Die erste Reaktion auf die Ereignisse trug bei Martow fast stets einen revolutionären Charakter. Aber bevor er noch Zeit gefunden hatte, seine Gedanken zu Papier zu bringen, setzten ihm von allen Seiten Zweifel zu. Seinem reichen, elastischen und mannigfaltigen Denken fehlte die Achse des Willens. In den Briefen von 1905 an Axelrod, geschrieben auf dem Höhepunkt der ersten russischen Revolution, klagt Martow bitter darüber, daß er seine Gedanken nicht sammeln könne. Er vermochte sie auch wirklich nicht zu sammeln, bis zum Eintreten der Reaktion. Zu Beginn des Krieges klagt Martow, die Ereignisse hätten ihn an die Grenze des Wahnsinns gebracht. Schließlich, 1917, macht er eine unsichere Bewegung nach links und – überläßt innerhalb seiner Fraktion die Führung Zeretelli und Dan, das heißt zwei Personen, von denen der erste in geistiger Beziehung, der andere in jeder Beziehung ihm knapp bis zu den Knien reichte.

Am 14. Oktober 1914 schreibt Martow an Axelrod: „Eher noch als mit Plechanow könnten wir uns vielleicht mit Lenin verständigen, der, allem Anschein nach, sich für die Rolle des Kämpfers gegen den Opportunismus in der Internationale vorbereitet.“ Solche Stimmungen aber dauerten bei Martow nicht lange an. Ich fand ihn in Paris schon im Zustand des Welkens. Unsere Mitarbeit an dem Nasche Slowo gestaltete sich von den ersten Tagen an zu einem unversöhnlichen Kampf, der mit dem Austritt Martows aus der Redaktion und dann aus dem Mitarbeiterstab endete.

Bald nach meiner Ankunft in Paris besuchte ich zusammen mit Martow Monatte, einen der Redakteure der syndikalistischen Zeitschrift La vie ouvrière. Ein früherer Volksschullehrer, dann Korrektor, dem Aussehen nach ein typischer Pariser Arbeiter, ein gescheiter Kerl mit Charakter, wich Monatte keinen Augenblick in die Richtung der Versöhnung mit dem Militarismus und dem bürgerlichen Staat ab. Aber wo einen Ausweg suchen? In dieser Frage gingen wir auseinander. Monatte „verneinte“ den Staat und den politischen Kampf. Der Staat kümmerte sich um Monattes „Verneinung“ nicht und zwang ihn, rote Hosen anzuziehen, nachdem er mit einem offenen Protest gegen den syndikalistischen Chauvinismus hervorgetreten war. Durch Monatte kam ich in nahe Beziehungen zu dem Journalisten Rosmer, der ebenfalls zur anarchosyndikalistischen Schule gehörte, aber, wie die Ereignisse gezeigt hatten, schon damals dem Marxismus eigentlich viel näher stand als die Guesdeisten Mit Rosmer verbindet mich seit jenen Tagen eine enge Freundschaft, die allen Prüfungen des Krieges, der Revolution, der Sowjetmacht und der Niederschlagung der Opposition standgehalten hat ... In jenen Pariser Tagen lernte ich außerdem eine Reihe anderer mir bis dahin unbekannter Vertreter der französischen Arbeiterbewegung kennen: den Sekretär des Metallarbeiterverbandes, den vorsichtigen, verschlagenen, verbindlichen Merrheim, der in jeder Hinsicht so traurig geendet hat; den Journalisten Guilbeaux, der später wegen angeblichen „Hochverrats“ in contumaciam zum Tode verurteilt wurde; den Sekretär der Böttchergewerkschaft, „Papa“ Bourderon; den Lehrer Loriot, der den Weg zum revolutionären Sozialismus suchte, und viele andere. Wir trafen uns jede Woche in der Quai de Jemappes, manchmal versammelten wir uns in großer Zahl in der Grange-aux-Belles, tauschten interne Nachrichten aus über den Krieg, über die Arbeit der Diplomatie, kritisierten den offiziellen Sozialismus, haschten nach Anzeichen sozialistischen Erwachens, bemühten uns, die Schwankenden zu überzeugen, bereiteten die Zukunft vor.

Am 4. August 1915 schrieb ich im Nasche Slowo: „Und doch begegnen wir dem blutigen Jahresjubiläum ohne seelische Niedergeschlagenheit oder politischen Skeptizismus. Wir revolutionären Internationalisten haben der größten Weltkatastrophe standgehalten, auf den Positionen der Analyse, der Kritik und der politischen Voraussicht, Wir haben auf alle „nationalen“ Brillen verzichtet, die die Generalstäbe nicht nur zu billigem Preise, sondern mit Zuzahlung verteilten. Wir überblickten die Dinge, so wie sie waren, wir nannten sie bei ihrem Namen und sahen die Logik ihrer weiteren Entwicklung voraus.“

Auch jetzt, dreizehn Jahre später, kann ich diese Worte nur wiederholen. Das Gefühl, das uns nicht für einen Tag verlassen hatte: dem offiziellen politischen Gedanken, einschließlich dem des patriotischen Sozialismus überlegen zu sein, dies Gefühl war nicht die Frucht hochmütiger Überheblichkeit. In diesem Gefühl war nichts Persönliches, es folgerte nur aus unserer prinzipiellen Position: wir standen auf einem hohen Gipfel. Der kritische Gesichtspunkt gab uns vor allem die Möglichkeit, die Perspektiven des Krieges selbst klarer zu überblicken. Beide Seiten rechneten, wie bekannt, mit einem schnellen Sieg. Man könnte zahllose Beispiele für den leichtsinnigen Optimismus sammeln. „Mein französischer Kollege“, schreibt Buchanan in seinen Memoiren, „war eine Zeitlang so optimistisch gestimmt, daß er mit mir eine Wette auf fünf Pfund Sterling hielt, der Krieg werde bis zu Weihnachten beendet sein.“ Buchanan selbst verlegte in der Tiefe seiner Seele das Kriegsende bis auf Ostern. Seit dem Herbst 1914 wiederholten wir, allen Prophezeiungen entgegen, in unserer Zeitung tagaus, tagein, daß der Krieg hoffnungslos lange dauern und daß ganz Europa geschlagen aus ihm hervorgehen würde. Dutzende Male schrieben wir im Nasche Slowo, daß Frankreich selbst im Falle eines Sieges der Alliierten, nach dem Kriege, wenn Dunst und Nebel verflogen, in der internationalen Arena als ein großes Belgien erscheinen würde – als nichts weiter. Wir sahen die künftige Weltdiktatur der Vereinigten Staaten klar voraus. „Der Imperialismus“, schrieben wir zum hundertstenmal am 5. September 1916, „setzt durch diesen Krieg seinen Einsatz auf die Starken: ihnen wird die Welt gehören.“

Aus Sèvres war meine Familie schon längst nach Paris übergesiedelt, in die kleine Rue Oudry. Paris entleerte sich immer mehr. Eine Straßenuhr nach der anderen blieb stehen. Dem Belforter Löwen steckte aus irgendeinem Grunde schmutziges Stroh aus dem Maul heraus. Der Krieg buddelte sich immer tiefer in die Erde ein. Hinaus aus den Schützengräben, aus der Passivität, aus den Gruben, aus der Unbeweglichkeit – das war der Schrei des Patriotismus. Bewegung! Bewegung! So entstand der entsetzliche Wahnsinn der Kämpfe bei Verdun. Mich durch die Blitze der Kriegszensur durchwindend, schrieb ich in jenen Tagen im Nasche Slowo: „Wie groß die militärische Bedeutung der Kämpfe bei Verdun auch sein mag, ihr politischer Sinn ist unvergleichlich größer. In Berlin und an anderen Orten [sic!] wollten sie die „Bewegung“, sie werden sie haben. Bei Verdun wird unser morgiger Tag geschmiedet.“

Im Sommer 1915 kam der italienische Deputierte Morgari, der Sekretär der sozialistischen Fraktion des römischen Parlaments, ein naiver Eklektiker, nach Paris, mit der Absicht, die französischen und die englischen Sozialisten zu einer internationalen Konferenz hinzuzuziehen. Auf der Terrasse eines Cafés auf einem der großen Boulevards hatten wir mit Morgari und einigen sozialistischen Deputierten, die sich aus irgendeinem Grunde als „Linke“ bezeichneten, eine Aussprache. Solange sich die Unterhaltung auf pazifistische Redensarten und die Wiederholung der Gemeinplätze über die Notwendigkeit der Wiederherstellung von internationalen Verbindungen beschränkte, ging die Sache glatt. Aber als Morgari im tragischen Flüsterton von der Notwendigkeit zu sprechen begann, falsche Pässe für die Reise in die Schweiz zu beschaffen – er begeisterte sich offensichtlich für die „karbonarische“ Seite der Angelegenheit –, bekamen die Herren Deputierten lange Gesichter, und einer von ihnen, ich erinnere mich nicht mehr wer, rief hastig den Garcon und bezahlte den gesamten von der Konferenz konsumierten Kaffee. Der Geist Molières schwebte über der Terrasse, wahrscheinlich auch der Geist Rabelais’. Damit endete die Sache. Auf dem Rückwege mit Martow lachten wir beide sehr, belustigt und ergrimmt zugleich. Monatte und Rosmer waren inzwischen mobilisiert und konnten nicht reisen. Zur Konferenz fuhr ich mit Merrheim und Bourderon, dem sehr gemäßigten Pazifisten. Falsche Pässe brauchte niemand von uns; die Regierung, die sich von den Vorkriegssitten noch nicht völlig befreit hatte, stellte reguläre Pässe aus.

Die organisatorische Seite der Sache oblag dem Berner sozialistischen Führer Grimm, der zu jener Zeit mit aller Kraft bestrebt war, sich über das Niveau des Philistertums seiner Partei (und sein eigenes) zu erheben. Er hatte für die Konferenz einen Platz zehn Kilometer von Bern vorbereitet, in einem kleinen Dörfchen Zimmerwald, hoch in den Bergen. Wir drängten uns in vier Wägen zusammen und fuhren ins Gebirge. Die Vorübergehenden blickten neugierig auf diese seltsame Karawane. Die Delegierten scherzten selbst darüber, daß es ein halbes Jahrhundert nach der Begründung der Ersten Internationale möglich war, alle Internationalisten in vier Wagen unterzubringen. Aber in diesen Scherzen war kein Skeptizismus. Der historische Faden zerreißt oft. Dann muß man einen neuen Knoten binden. Das eben taten wir in Zimmerwald.

Die Tage der Konferenz (vom 5. bis 8. September) waren stürmische Tage. Der revolutionäre Flügel, den Lenin repräsentierte, und der pazifistische Flügel, dem die Mehrzahl der Delegierten angehörte, konnten sich nur mit Mühe auf ein gemeinsames Manifest einigen, dessen Entwurf ich ausgearbeitet hatte. Das Manifest sprach bei weitem nicht alles aus, was zu sagen nötig war. Aber es bedeutete doch einen gewaltigen Schritt vorwärts. Lenin stand auf dem äußersten linken Flügel der Konferenz. In einer Reihe Fragen blieb er mit seiner Stimme allein innerhalb der Zimmerwalder Linken, der ich formell nicht angehörte, obwohl ich ihr in allen grundlegenden Fragen nahestand. In Zimmerwald spannte Lenin die Feder scharf an für die späteren internationalen Handlungen. In dem schweizerischen Bergdörfchen legte er die ersten Grundsteine für die revolutionäre Internationale.

Die französischen Delegierten unterstrichen in ihrem Bericht jene Bedeutung, die für sie das Bestehen des Nasche Slowo habe, das eine geistige Verbindung mit der internationalen Bewegung der anderen Länder aufrecht erhielt. Rakowski wies darauf hin, daß Nasche Slowo eine bedeutende Rolle spielte in dem Prozeß der Ausarbeitung einer internationalen Position der Sozialdemokratie auf dem Balkan. Der italienischen Partei war Nasche Slowo aus den vielen Übersetzungen der Balabanowa bekannt. Am häufigsten jedoch wurde Nasche Slowo von der deutschen Presse zitiert, darunter auch von der offiziösen: wie Renaudel sich auf Liebknecht zu stützen versuchte, so war Scheidemann nicht abgeneigt, in uns Verbündete zu sehen.

Liebknecht selbst kam nicht nach Zimmerwald. Er war bereits Gefangener der Hohenzollernarmee, bevor er Gefangener des Zuchthauses wurde. Aber er schickte der Konferenz einen Brief, der einen schroffen Übergang von der pazifistischen zur revolutionären Linie bedeutete. Der Name Liebknecht wurde auf der Konferenz nicht selten genannt. Er war schon zu einer Parole geworden in dem Kampfe, der den Weltsozialismus zerriß.

Es war strengstens verboten, von Zimmerwald aus über die Konferenz zu schreiben, damit nicht vorzeitig Nachrichten in die Presse drangen, was den Delegierten auf der Rückreise beim Überschreiten der Grenzen Schwierigkeiten bereitet hätte. Nach einigen Tagen erklang der bis dahin unbekannte Name Zimmerwald in der ganzen Welt. Das machte einen erschütternden Eindruck auf den Gasthausbesitzer. Der verdienstvolle Schweizer erklärte Grimm, er hoffe stark, der Preis seines Besitztums werde steigen, und er sei darum bereit, einen gewissen Betrag für den Fonds der Dritten Internationale zu spenden. Ich glaube allerdings, daß er sich das bald anders überlegt hat.

Die Zimmerwalder Konferenz war ein starker Antrieb für die Antikriegsbewegung in den verschiedenen Ländern. In Deutschland hatte sie eine intensivere Tätigkeit der Spartakisten zur Folge. In Frankreich wurde das „Komitee zur Herstellung internationaler Verbindungen“ geschaffen. Die Arbeiter aus der russischen Kolonie in Paris schlossen sich enger dem Nasche Slowo an und nahmen die finanziellen und anderen Schwierigkeiten der Zeitung auf ihre Schultern. Martow, der in der ersten Periode eifrig am Nasche Slowo mitgearbeitet hatte, zog sich von ihm jetzt zurück. Die nebensächlichen Meinungsverschiedenheiten, die mich in Zimmerwald noch von Lenin getrennt hatten, wurden in den nächsten Monaten völlig ausgeglichen.

Unterdessen sammelten sich über unseren Häuptern Wolken, die sich im Laufe des Jahres 1916 immer mehr verdichteten. Im Inseratenteil brachte das reaktionäre Blatt Liberté Notizen unbekannter Herkunft, die uns der Germanophilentums beschuldigten. Immer häufiger erhielten wir anonyme Drohbriefe. Die Beschuldigungen wie die Drohungen stammten ganz sicher aus der russischen Botschaft. In der Nähe unserer Druckerei trieben sich ständig verdächtige Gestalten herum. Hervé drohte uns mit dem Polizeifinger. Professor Dürckheim, der Vorsitzende der Regierungskommission in Fragen der russischen Emigranten berichtete, daß man in den Regierungssphären von einem Verbot des Nasche Slowo und der Ausweisung seines Redakteurs spreche. Die Sache verzögerte sich jedoch. Es bot sich kein Anlaß, da ich die Gesetze nicht verletzte, nicht einmal die Gesetzlosigkeiten der Zensur. Man mußte immerhin einen anständigen Vorwand haben. Er wurde schließlich auch gefunden, oder richtiger, geschaffen.


Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003