Leo Trotzki

 

Mein Leben


Durch Spanien

Zwei Polizeiinspektoren warteten in meiner Wohnung in der kleinen Rue Oudry. Der eine war klein, fast ein Greis; der andere ein Riese, glatzköpfig, etwa fünfundvierzig Jahre alt, schwarz wie Pech. Die Zivilkleidung saß auf beiden ungeschickt, und wenn sie antworteten, hoben sie die Hand zum unsichtbaren Mützenschirm. Als ich von den Freunden und der Familie Abschied nahm, versteckten sich die Polizisten äußerst höflich hinter der Türe. Beim Hinausgehen zog der ältere mehrere Male den Hut: „Excusez, Madame.“

Einer der Spitzel, die unermüdlich und bösartig mich während der letzten zwei Monate verfolgt hatten, wartete vor dem Hause. Freundlich, als sei nichts gewesen, ordnete er den Plaid und schloß die Türe des Automobils. Er sah einem Jäger ähnlich, der sein Wild dem Käufer aushändigte. Wir fuhren ab.

Schnellzug. Coupé dritter Klasse. Der ältere Inspektor entpuppt sich als ein guter Geograph. Tomsk, Kasan, der Jahrmarkt von Nischni-Nowgorod – er kennt alles. Spricht Spanisch, kennt das Land. Der andere, der große und schwarze, schwieg lange und saß finster abseits. Später aber ging auch er aus sich heraus. „Die lateinische Rasse stampft auf einem Platz herum, die anderen kommen ihr zuvor“, erklärte er unerwartet, während er in seinen mit schweren Ringen geschmückten, behaarten Händen ein Stück Schweinespeck hielt, das er mit dem Messer bearbeitete. „Was haben wir in der Literatur? Niedergang überall. In der Philosophie dasselbe. Seit der Zeit Descartes’ und Pascals keine Bewegung mehr ... Die lateinische Rasse stampft auf einem Platz herum.“ Erstaunt wartete ich auf die Fortsetzung. Aber er schwieg und kaute an seinem Speck mit Weißbrot. „Sie hatten vor kurzem Tolstoi, aber Ibsen ist uns verständlicher als Tolstoi.“ Und er schwieg wieder.

Der Alte, durch den Ausbruch dieser Gelehrsamkeit verletzt, begann die Bedeutung der sibirischen Eisenbahn zu erklären. Und dann, die pessimistische Schlußfolgerung seines Kollegen ergänzend und sie gleichzeitig mildernd, fügte er hinzu: „Ja, uns fehlt die Initiative. Alle wollen Beamte werden. Das ist traurig, aber nicht abzuleugnen.“ Ich hörte beiden notgedrungen, aber nicht ohne Interesse zu.

„Überwachung? Oh, das ist jetzt eine unmögliche Sache. Die Überwachung ist nur dann wirksam, wenn sie unsichtbar bleibt, nicht wahr? Man muß offen sagen: die Metro tötet die Überwachung. Man sollte Personen, die man überwacht, vorschreiben: steigt nicht in die Metro, – nur dann wäre die Überwachung möglich.“ Der Schwarze lachte finster. Der Alte sagte mildernd: „Oft überwachen wir, ohne selbst zu wissen, aus welchem Grunde.“

„Wir Polizisten sind Skeptiker“, begann wieder ohne Übergang der Schwarze. „Sie haben Ihre Ideen. Wir beschützen das, was besteht. Nehmen Sie die große Revolution. Welche Bewegung der Ideen! Vierzehn Jahre nach der Revolution war das Volk unglücklicher denn je. Lesen Sie Taine. Wir Polizisten sind von Amts wegen konservativ. Der Skeptizismus ist die einzige Philosophie, die unserem Beruf entspricht. Schließlich, – niemand wählt sich seinen Weg. Es existiert überhaupt keine Freiheit des Willens. Alles ist durch den Lauf der Dinge vorbestimmt.“

Er begann stoisch Rotwein zu trinken, direkt aus der Flasche. Dann diese zupfropfend, fing er wieder an: „Renan hat gesagt, daß neue Ideen immer zu früh kommen. Und das ist richtig.“

Dabei warf er einen lauernden Blick auf meine Hand, die ich zufällig auf den Türgriff gelegt hatte. Um ihn zu beruhigen, steckte ich die Hand in die Tasche.

Der Alte nahm wieder Revanche: er sprach von den Basken, von ihrer Sprache, ihren Frauen, ihrem Kopfputz und so weiter. Wir näherten uns der Station Hendaye.

„Hier hat Déroulède gewohnt, unser Nationalromantiker. Ihm genügte es, die Berge Frankreichs zu sehen. Ein Don Quichotte in seinem spanischen Winkel.“ Der Schwarze lächelte mit gemessener Herablassung. „Bitte, Monsieur, folgen Sie mir in das Bahnhofskommissariat.“

In Irun wandte sich ein französischer Gendarm mit einer Frage an mich, aber mein Begleiter machte ihm ein Freimaurerzeichen und führte mich durch irgendwelche Bahnhofsausgänge schnell weg.

„C’est fait avec discrétion? N’est-ce pas!“ fragte mich der Schwarze. „Sie können aus Irun mit der Straßenbahn nach San Sebastian reisen. Sie müssen sich das Aussehen eines Touristen geben, um nicht den Verdacht der spanischen Polizei zu erwecken, die sehr, sehr mißtrauisch ist. Und nun kenne ich Sie nicht mehr, nicht wahr?“

Wir verabschiedeten uns kühl ...

Von San Sebastian, wo ich das Meer bewunderte und über die Preise entsetzt war, fuhr ich nach Madrid und war nun in einer Stadt, wo ich niemanden kannte – nicht einen Menschen – und wo mich niemand kannte. Und da ich auch die spanische Sprache nicht kannte, so hätte ich in der Sahara oder in der Peterpaulfestung kaum einsamer sein können. Es blieb nur übrig, zu der Sprache der Kunst Zuflucht zu nehmen. Zwei Jahre Krieg hatten vergessen lassen, daß sie überhaupt auf der Welt existierte. Mit der Gier eines Ausgehungerten genoß ich die kostbaren Schätze des Madrider Museums und fühlte wie einst das Element des „Ewigen“ in dieser Kunst. Rembrandt, Ribera. Bilder des Hiernoymus Bosch, genial in ihrer naiven Lebensfreude. Der alte Wächter gab mir eine Lupe, damit ich die Meinen Figuren der Bauern, Eselchen und Hunde auf den Bildern Miguels besser betrachten könnte. Der Krieg war hier gar nicht zu spüren, alles stand fest auf seinem Platz, die Farben lebten ihr eigenes, unkontrolliertes Leben.

Folgendes trug ich im Museum in mein Notizbuch ein:

„Zwischen uns und diese Alten stellte sich vor dem Kriege – ohne das Alte zu verdrängen oder zu verkleinern – die neue Kunst, die intimere, individuellere, nuanciertere, subbjektivere, bewegtere. Der Krieg wird wahrscheinlich diese Stimmungen und diese Art für lange Zeit wegspülen und durch Massenleidenschaften und Massenleiden ersetzen, – aber auch dann wird nicht die Rückkehr zu der alten Form erfolgen, der schönen, anatomisch und botanisch vollendeten, zu den Rubensschen Hüften (wenn auch die Hüften wahrscheinlich in der neuen, lebensgierigen Nachkriegskunst eine große Rolle spielen werden). Es ist schwer, zu prophezeien, aber aus den unerhörten Erlebnissen, von denen fast die ganze zivilisierte Menschheit unmittelbar erfaßt ist, wird eine neue Kunst entstehen müssen ...“

Ich saß im Hotel, las mit dem Wörterbuch in der Hand spanische Zeitungen und erwartete die Antworten auf meine Briefe, die ich nach Italien und nach der Schweiz gesandt hatte. Ich hoffte noch immer, in die Schweiz reisen zu können. Am vierten Tag meines Aufenthaltes in Madrid erhielt ich aus Paris einen Brief mit der Adresse des französischen Sozialisten Gabier. Er war hier Direktor einer Versicherungsgesellschaft. Trotz seiner bürgerlichen sozialen Stellung erwies sich Gabier als ein entschiedener Gegner der patriotischen Politik seiner Partei. Von ihm erfuhr ich, daß die spanische Partei ganz unter dem Einfluß des französischen Sozialpatriotismus stand. Eine ernste Opposition gab es nur in Barcelona bei den Syndikalisten. Der Sekretär der sozialistischen Partei, Anguillano, den ich besuchen wollte, befand sich gerade für fünfzehn Tage im Gefängnis, weil er sich respektlos über einen katholischen Heiligen geäußert hatte. In früheren Zeiten wäre Anguillano einfach auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden.

Ich wartete auf die Antwort aus der Schweiz, studierte spanische Vokabeln, unterhielt mich mit Gabier und besuchte Museen. Am 9. November rief mich das Stubenmädchen der kleinen Pension, in der mich Gabier untergebracht hatte, mit erschrockenen Gesten in den Korridor hinaus. Dort standen zwei Kerle von sehr eindeutigem Aussehen, die mich ohne große Höflichkeiten aufforderten, ihnen zu folgen. – Wohin? – Selbstverständlich in die Madrider Präfektur. Dort setzte man mich in eine Ecke. „Ich bin also verhaftet?“ fragte ich.

„Ja, par una hora, dos horas (für eine, zwei Stunden).“

Ohne meine Körperstellung zu verändern, verbrachte ich in der Präfektur sieben volle Stunden. Um neun Uhr abends führte man mich nach oben. Ich stand vor einem ziemlich zahlreich bevölkerten Olymp.

„Weshalb haben Sie mich eigentlich verhaftet?“

Diese einfache Frage verblüffte die Olympier. Der Reihe nach äußerten sie verschiedene Hypothesen. Der eine berief sich auf Paß-schwierigkeiten, die die russische Regierung Ausländern bereite, die nach Rußland wollen.

„Wenn Sie gewußt hätten, wieviel Geld wir für die Verfolgung unserer Anarchisten ausgeben müssen ...“, suchte ein anderer mein Mitleid zu erwecken.

„Aber erlauben Sie, ich kann doch nicht gleichzeitig für die russische Polizei und für die spanischen Anarchisten verantwortlich gemacht werden.“

„Gewiß, gewiß, das war auch nur so als Beispiel gesagt ...“

„Welches sind Ihre Anschauungen?“ fragte nach kurzem Grübeln der Chef.

Ich setzte in populärer Form meine Anschauungen auseinander. „Also, sehen Sie“, antwortete er mir.

Schließlich erklärte mir der Chef durch einen Dolmetscher, ich werde aufgefordert, unverzüglich Spanien zu verlassen, und bis dahin müsse meine Freiheit „einigen Einschränkungen“ unterliegen. „Ihre Ansichten sind für Spanien ein wenig zu fortgeschritten“ (trop avancées), sagte er mir offenherzig, durch den Übersetzer.

Um zwölf Uhr nachts brachte mich ein Polizeiagent mit einer Droschke ins Gefängnis. Die unvermeidliche Kontrolle der Sachen im Zentrum des „Sterns“, wo fünf Gebäudeflügel zu je vier Etagen sich kreuzen. Eiserne Hängetreppen. Stille, die besondere, nächtliche, von schweren Ausdünstungen und Alpdrücken erfüllte Gefängnisstille. Düstere elektrische Lämpchen in den Korridoren. Alles bekannt, alles dasselbe. Das Gepolter beim Öffnen der schmiedeeisernen Tür. Ein großes Zimmer, Halbdunkel, schlechte Gefängnisluft, ein armseliges, ekelerregendes Bett. Das Poltern beim Zuschließen der Tür. Zum wievielten Mal? Ich machte das kleine Lüftungsfensterchen vor dem Gitter auf. Es wehte Kühle herein. Ohne mich auszuziehen, alle Knöpfe geschlossen, legte ich mich aufs Bett und deckte mich mit meinem Mantel zu. Hier erst wurde mir die ganze Absurdität des Vorgefallenen klar. In Madrid im Gefängnis! Davon hatte ich niemals geträumt. Iswolski hatte gründlich gearbeitet. In Madrid! Ich lag auf dem Bett des Madrider „Mustergefängnisses“ und lachte aus vollem Herzen. Ich lachte, bis ich einschlief.

Beim Spaziergang erklärten mir die kriminellen Sträflinge, in diesem Gefängnis gäbe es Zellen, die gratis, und solche, die zu bezahlen seien. Eine Zelle erster Klasse koste anderthalb Pesetas, eine zweiter 75 Centimes den Tag. Jeder Sträfling habe Anrecht auf einen vermietbaren Raum, habe aber nicht das Recht, den Gratisraum abzulehnen. Meine Zelle war eine kostenpflichtige erster Klasse. Ich lachte wieder herzlich. Aber eigentlich war die Einrichtung nur konsequent. Warum soll es im Gefängnis einer Gesellschaft, die ganz und gar auf Ungleichheit aufgebaut ist, Gleichheit geben? Ich erfahre weiter, daß die Insassen der kostenpflichtigen Zellen zweimal am Tage je eine Stunde spazierengehen dürfen, die anderen nur eine halbe Stunde am Tage. Wiederum richtig. Die Lungen des Staatsschatzdefraudanten, der täglich anderthalb Franken bezahlt, haben das Recht auf eine größere Portion Luft als die Lungen eines Streikenden, der gratis atmet.

Am dritten Tag holte man mich zu anthropometrischen Messungen und forderte mich auf, meine Finger auf Druckerschwärze zu legen, um von ihnen dann einen Abdruck zu nehmen. Ich weigerte mich. Da wandte man „Gewalt“ an, allerdings mit ausgesuchter Höflichkeit. Ich blickte aus dem Fenster, während der Aufseher meine Hand, einen Finger nach dem anderen, behutsam beschmierte und sie etwa zehnmal auf verschiedene Karten und Papierbogen legte, – zuerst die rechte Hand, dann die linke. Danach forderte man mich auf, mich hinzusetzen und meine Schuhe abzunehmen. Ich weigerte mich. Mit den Füßen war die Sache schwieriger. Die Beamten umkreisten mich unschlüssig. Endlich ließ man von mir ab und führte mich in das Sprechzimmer, wo mich Gabier und Anguillano, der gestern aus dem Gefängnis – aber aus einem anderen – entlassen worden war, erwarteten. Sie teilten mir mit, daß zu meiner Befreiung alle Hebel in Bewegung gesetzt seien. Im Korridor stieß ich mit dem Gefängnisgeistlichen zusammen. Er drückte mir seine katholischen Sympathien für meinen Pazifismus aus und fügte trostreich hinzu: „Paciencia, paciencia.“ Nichts anderes blieb mir ja vorläufig übrig.

Am 12. morgens teilte mir ein Polizeiagent mit, daß ich am Abend nach Cadiz fahren müsse, und fragte mich, ob ich für mein Billett selbst zahlen wolle. Aber es war nicht meine Absicht, nach Cadiz zu fahren. Ich bedankte mich entschieden, für das Billett zu zahlen. Es genügte die Bezahlung für den Aufenthalt in dem mustergültigen Gefängnis.

Und so begaben wir uns abends von Madrid nach Cadiz. Reisespesen auf Kosten des spanischen Königs. Aber warum nach Cadiz? Ich betrachtete einmal die Karte. Cadiz befindet sich am äußersten Punkt der südwestlichen Halbinsel Europas. Aus Beresow auf Renntieren über den Ural nach Petersburg, von dort auf Umwegen nach Österreich, aus Österreich über die Schweiz nach Frankreich, aus Frankreich nach Spanien und schließlich durch die ganze Pyrenäische Halbinsel nach Cadiz. Gesamtrichtung: von Nordost nach Südwest. Weiter hört das Festland auf und es beginnt der Ozean. Paciencia!

Die Agenten, die mich begleiteten, umgaben unsere Reise keinesfalls mit einem Geheimnis: im Gegenteil, allen, allen, die sich dafür interessierten, erzählten sie ausführlich meine Geschichte, wobei sie mich von der besten Seite charakterisierten: kein Falschmünzer, sondern ein Caballero, aber mit unpassenden Anschauungen. Alle trösteten mich damit, daß in Cadiz ein sehr gutes Klima sei.

„Wie haben Sie mich eigentlich gefunden?“ fragte ich die Agenten. Sehr einfach, nach einem Telegramm aus Paris. So hatte ich es mir auch gedacht. Die Madrider Polizeidirektion empfing ein Telegramm von der Pariser Präfektur: Gefährlicher Anarchist, folgte Name, hat die Grenze bei San Sebastian passiert. Will in Madrid Aufenthalt nehmen. – So daß man mich erwartete, suchte und beunruhigt war, als man mich eine ganze Woche lang nicht zu finden vermochte. Die französischen Polizisten hatten mich „delikat“ über die Grenze geführt, der Verehrer Montaignes und Renans hatte sogar gefragt: „C’est fait avec discrétion, n’est-ce pas?“, gleichzeitig aber telegraphierte die gleiche Polizei nach Madrid, daß ein gefährlicher „Anarchist“ durch Irun-San Sebastian gereist sei.

In dieser ganzen Geschichte spielte der Chef der sogenannten Juristischen Polizei, Bidet-Faupas, eine hervorragende Rolle. Er war die Seele der Überwachung und der Ausweisung. Von seinen Kollegen unterschied sich Bidet durch ungewöhnliche Roheit und Bösartigkeit. Er versuchte, mit mir in einem Ton zu sprechen, wie es die zaristischen Gendarmerieoffiziere sich nicht erlaubt hatten. Unsere Unterhaltungen endeten jedesmal mit einer Explosion. Wenn ich von ihm wegging, fühlte ich in meinem Rücken einen haßerfüllten Blick. Bei meiner Zusammenkunft mit Gabier im Gefängnis sprach ich die Überzeugung aus, daß meine Verhaftung durch Bidet-Faupas vorbereitet worden sei. Dieser Name machte dank meiner leichten Hand eine Runde durch die gesamte spanische Presse. Nach weniger als zwei Jahren sollte das Schicksal mir auf Kosten des Herrn Bidet eine ganz unerwartete Genugtuung geben. Im Sommer 1918 teilte man mir telephonisch in das Kriegskommissariat mit, Bidet, der Donnergott Bidet, säße in einem Sowjetgefängnis. Ich wollte meinen Ohren nicht trauen. Es stellte sich heraus, daß die französische Regierung ihn zu Zwecken der Spionage und der Anzettelung von Verschwörungen mit der Militärmission in die Sowjetrepublik geschickt hatte. Er aber besaß die Unvorsichtigkeit, hineinzufallen. Wahrhaftig, eine größere Genugtuung konnte man von der Nemesis nicht verlangen, besonders wenn man hinzufügt, daß Malvy, der Innenminister Frankreichs, der meinen Ausweisungsbefehl unterschrieben hatte, bald danach selbst vom Ministerium Clemenceau unter der Beschuldigung pazifistischer Intrigen aus Frankreich ausgewiesen wurde. Solch ein Zusammentreffen der Ereignisse, wie für einen Film ausgedacht!

Als man Bidet zu mir ins Kommissariat brachte, erkannte ich ihn zuerst nicht. Der Donnergott hatte sich in einen ganz einfachen Sterblichen verwandelt, dazu noch in einen heruntergekommenen. Ich blickte ihn fragend an. „Mais oui, monsieur“, sagte er, den Kopf neigend „c’est moi.“ Ja, das war Bidet. Aber wie denn? Wie konnte das geschehen? Ich war wirklich erstaunt. Bidet machte eine philosophische Handbewegung und erklärte mit der Überzeugung eines Polizeistoikers: „C’est la marche des événements.“ Jawohl! Eine herrliche Formel. In meiner Erinnerung tauchte jener schwarze Fatalist auf, der mich nach San Sebastian geführt hatte: Willensfreiheit gibt es nicht, alles ist vorbestimmt. „Aber immerhin, Herr Bidet, Sie waren zu mir nicht sehr höflich in Paris ...!“ „Leider, ich muß es mit Wehmut gestehen, Herr Volkskommissar. Ich habe in meiner Zelle oft darüber nachgedacht. Es ist für einen Menschen manchmal nützlich“, ergänzte er bedeutungsvoll, „das Gefängnis von innen kennenzulernen. Ich hoffe aber, daß mein Pariser Benehmen für mich keine traurigen Folgen haben wird?“ Ich beruhigte ihn. „Nach Paris zurückgekehrt, werde ich nicht mehr die Beschäftigung ausüben, die ich bisher ausgeübt“, versicherte er mir. „Wirklich, Herr Bidet? On revient toujours à ses premiers amours.“ Ich habe diese Szene meinen Freunden sooft erzählt, daß ich mich an unseren Dialog erinnere, als hätte er erst gestern statt gefunden. Beim Gefangenenaustausch wurde Bidet später nach Frankreich entlassen. Mir ist sein weiteres Schicksal unbekannt.

Wir müssen jedoch das Kriegskommissariat verlassen und noch etwas zurückkehren nach Cadiz. Nachdem er sich mit dem Gouverneur beraten hatte, erklärte mir der Präfekt von Cadiz, daß ich morgen früh um 8 Uhr nach Havanna transportiert werden würde, wohin – ein glücklicher Zufall wolle es – gerade morgen ein Dampfer abgehe.

„Wohin?“

„Nach Havanna.“

„Nach Ha-van-na?“

„Nach Havanna!“

„Freiwillig werde ich nicht fahren.“

„Wir werden dann gezwungen sein, Sie in den Kielraum zu bringen.“

Der bei dem Gespräch als Dolmetscher anwesende Sekretär des deutschen Konsulats, ein Freund des Präfekten, empfahl mir, „mich mit den Realitäten abzufinden“.

Paciencia, paciencia! Aber das war zuviel. Ich erklärte noch einmal, daß ich nicht gehen würde. In Begleitung von Spitzeln lief ich durch die Straßen des bezaubernden Städtchens, ohne viel davon zu merken, zum Telegraphenamt und gab „dringende“ Telegramme auf, an Gabier, Anguillano, an den Direktor der politischen Polizei, an den Minister des Innern, an den Premier Rornanones, an die liberalen Blätter, an die republikanischen Deputierten; ich mobilisierte alle Argumente, die im Rahmen eines Telegramms Platz fanden. Sandte in alle Ecken und Enden der Welt Briefe. „Stellen Sie sich vor, lieber Freund“, schrieb ich an den italienischen Deputierten Serrati, „Sie wären jetzt in Twer unter Aufsicht der russischen Polizei und man will Sie nach Tokio ausweisen, wohin zu gehen aber durchaus nicht Ihre Absicht ist, – so ungefähr ist augenblicklich meine Lage in Cadiz, am Vorabend des Abtransportes nach Havanna.“ Dann jagte ich wieder mit den Spitzeln zum Präfekten. Auf mein Drängen hin telegraphierte dieser auf meine Kosten nach Madrid, daß ich es eher vorzöge, bis zur Ankunft des New Yorker Dampfers im Gefängnis von Cadiz zu bleiben, als nach Havanna zu gehen. Ich wollte die Waffen nicht strecken. Das war ein heißer Tag!

Unterdessen brachte der republikanische Deputierte Castrovido in den Cortes eine Anfrage ein über meine Verhaftung und Ausweisung. In den Zeitungen entstand eine Polemik. Die Linken griffen die Polizei an, verurteilten als Frankophile aber meinen Pazifismus. Die Rechten sympathisierten mit meinem „Germanophilentum“ (ich sei doch nicht umsonst aus Frankreich ausgewiesen), fürchteten aber meinen Anarchismus. In diesem Wirrwarr konnte sich niemand auskennen. Es wurde mir aber doch erlaubt, in Cadiz den nächsten Dampfer nach New York abzuwarten. Das war ein erster Sieg!

Einige Wochen lang stand ich nun unter Aufsicht der Polizei von Cadiz. Dies war aber eine sehr friedliche und familiäre Aufsicht, anders als in Paris. Dort hatte ich während der zwei letzten Monate nicht wenig Energie darauf verwendet, den Spitzeln zu entkommen, – ich fuhr in einem einsamen Automobil davon, verschwand in ein dunkles Kino, sprang im allerletzten Augenblick in einen Wagen der Metro oder, umgekehrt, sprang aus ihm hinaus und so weiter, und so weiter. Die Spitzel aber schliefen auch nicht und wandten bei der Jagd nach mir alle ihre Kunst an: schnappten mir das Auto vor der Nase weg, wachten vor den Kinoausgängen, flogen wie Bomben aus Tram oder Metro zur Entrüstung des Publikums und des Wagenführers. Im wesentlichen war es ein gewisses l’art pour l’art. Meine politische Betätigung verlief ohnehin vollständig unter den Augen der Polizei. Aber die Verfolgungen der Spitzel reizten und weckten Sportinstinkte. In Cadiz dagegen erklärte der Spitzel, er käme zu der und der Stunde, ich möge im Hotel auf ihn geduldig warten. Dagegen verteidigte er beharrlich meine Interessen, half mir bei Einkäufen, machte mich auf die Löcher im Trottoir aufmerksam. Als einmal ein Krawattenverkäufer mir zwei Realen für das Dutzend abverlangte, schimpfte der Spitzel wie besessen, fuchtelte drohend mit den Händen, und als der Verkäufer bereits aus dem Café hinaus war, stürzte der Spitzel hinterher und erhob vor den Fenstern ein solches Geschrei, daß sich eine Menge ansammelte.

Ich war bemüht, die Zeit nicht unnütz verstreichen zu lassen: arbeitete in der Bibliothek über die Geschichte Spaniens, büffelte spanische Konjugationen und erneuerte, mich auf Amerika vorbereitend, den Vorrat meiner englischen Worte. Die Tage vergingen unmerklich, und oft konstatierte ich am Abend mit Bedauern, daß der Tag der Abreise nahe und ich zu wenig vorwärtsgekommen war. In der Bibliothek saß ich stets allein, wenn man die Bücherwürmer, die unzählige Bände des achtzehnten Jahrhunderts angefressen hatten, nicht mitrechnet. Man mußte manchmal nicht wenig Mühe aufwenden, um einen Namen oder eine Zahl zu entziffern.

In meinem damaligen Notizbuch finde ich folgenden Auszug: „– Die Geschichte Spaniens berichtet von Politikern, die fünf Minuten vor dem Sieg einer Volksbewegung diese als Verbrechen und Wahnsinn schmähten, um sich nach dem Siege an ihre Spitze zu stellen. ‚Diese schlauen Herrschaften ‘ –, fährt der alte Historiker fort, – ‚tauchten in allen folgenden Revolutionen auf und schrien am lautesten.‘ Die Spanier nennen solche Konjunkturkerle panzistas – vom Worte Wanst. Von diesem Wort stammt auch der Name unseres alten bekannten Sancho Pansa. Diese Bezeichnung ist schwer übersetzbar (etwa Fettwanst), aber die Schwierigkeit ist nur eine linguistische, nicht eine politische. Der Typus an sich ist absolut international.“ Nach 1917 hatte ich nicht selten Gelegenheit, mich davon zu überzeugen.

Es war bemerkenswert, daß die Zeitungen in Cadiz nichts über den Krieg berichteten, sie sahen aus, als gäbe es ihn nicht. Als ich die Aufmerksamkeit der Leute, mit denen ich mich unterhielt, auf das völlige Fehlen von Kriegsnachrichten in der verbreitetsten Zeitung El Diario de Cadiz aufmerksam machte, antwortete man mir verwundert: „Wirklich? Unmöglich... Ja, ja, tatsächlich.“ Folglich hatten sie selbst es bisher nicht gemerkt. Der Krieg wurde ja auch irgendwo hinter den Pyrenäen geführt. Auch ich begann, mir den Krieg abzugewöhnen.

Der Dampfer nach New York ging von Barcelona ab. Ich bekam die Erlaubnis, der Familie dorthin entgegenzufahren. In Barcelona neue Schwierigkeiten mit der Präfektur, neue Proteste und Telegramme, neue Spitzel. Meine Familie kam an. Sie hatte inzwischen nicht wenige Aufregungen in Paris zu bestehen gehabt. Dafür aber war jetzt alles gut. Wir sahen uns in Begleitung der Spitzel Barcelona an. Den Jungens sagten Meer und Früchte sehr zu. Mit dem Gedanken, nach Amerika überzusiedeln, hatten wir uns alle abgefunden. Meine Bemühungen, von Spanien aus über die Schweiz nach Italien zu gelangen, hatten zu nichts geführt Die Erlaubnis wurde zwar schließlich auf Drängen der italienischen und schweizerischen Sozialisten erteilt, aber erst als ich mit meiner Familie bereits auf dem spanischen Dampfer war, der am 25. Dezember den Hafen von Barcelona verließ. Die Verspätung war natürlich beabsichtigt gewesen. Iswolski hatte nicht schlecht alles arrangiert.

Die Türe Europas fiel in Barcelona hinter mir zu. Die Polizei brachte mich mit meiner Familie auf den spanischen Dampfer Monserat der Transatlantischen Gesellschaft, der in siebzehn Tagen seine lebende und tote Fracht nach New York brachte. Siebzehn Tage – diese Frist wäre sehr verlockend gewesen in der Epoche des Christoph Columbus, dessen Denkmal sich über dem Hafen von Barcelona erhebt. Das Meer war in dieser schlechtesten Jahreszeit sehr stürmisch; und das Schiff tat alles, um uns an die Vergänglichkeit des Daseins zu erinnern. Monserat war ein Wrack, wenig geeignet für Ozeanfahrten. Aber die neutrale spanische Flagge verminderte während des Krieges die Chancen auf Ertränkung. Aus diesem Grunde nahm die spanische Gesellschaft viel Geld für die Überfahrt, brachte die Passagiere schlecht unter und verpflegte sie noch schlechter.

Die Bevölkerung des Dampfers war sehr bunt und in ihrer Buntheit wenig anziehend. Da waren nicht wenige Deserteure aller Länder, vorwiegend bessere Marke. Ein Maler schaffte seine Bilder, sein Talent, seine Familie, sein Vermögen unter dem Schutz eines alten Vaters aus der Feuerlinie weit weg. Ein Boxer, gleichzeitig auch belletristischer Schriftsteller, ein Vetter Oscar Wildes, gestand offen, er ziehe es vor, die Kiefer der Herren Yankees im edlen Spott zu zertrümmern, als seine Rippen von irgendeinem unbekannten Deutschen durchstechen zu lassen. Ein Champion des Billardspiels, ein tadelloser Gentleman, empörte sich darüber, daß die Reihe auch an sein Alter gekommen war. Und wofür denn? Wegen dieser sinnlosen Schlächterei? Nein! Und er äußerte seine Sympathien mit den Ideen von ... Zimmerwald. Die übrigen waren von derselben Art: Deserteure, Abenteurer, Spekulanten oder aus Europa hinausgeworfene „lästige“ Elemente, – wem wäre denn sonst in den Sinn gekommen, in dieser Zeit auf einem armseligen spanischen Dampferchen den Atlantischen Ozean zu durchqueren? ...

Schwieriger war es, sich in den Passagieren der dritten Klasse auszukennen. Diese lagen zusammengedrängt, sprachen wenig, bewegten sich kaum, denn sie hatten wenig zu essen, waren düster, schwammen von einer bösen und dumpfen Not zu der anderen, die für sie noch im völligen Dunkel lag. Amerika arbeitete für das kriegführende Europa und brauchte frische Arbeitskräfte, aber ohne Trachome, ohne Anarchismus und andere Krankheiten.

Der Dampfer bot den Jungens ein unermeßliches Feld für Beobachtungen. Fortwährend entdeckten sie etwas Neues. „Weißt du, unser Heizer hier ist ein sehr guter Mann. Er ist ein Republikler.“ Infolge des ewigen Hin- und Her, aus einem Lande in das andere, sprachen sie ihre besondere, eigene Sprache. „Ein Republikaner? Wie habt ihr euch mit ihm verständigt?“ „Er hat uns alles gut erklärt. Er sagte: Alfonso, und machte dann so: piff-paff.“ „Ja, dann ist er wirklich ein Republikaner“, stimmte ich ihnen zu. Die Jungens schleppten für den Heizer getrocknete Trauben und andere schöne Sachen heran. Sie machten uns mit ihm bekannt. Der Republikaner war etwa zwanzig Jahre alt und hatte über Monarchie offenbar absolut festgelegte Ansichten.

1. Januar 1917. Auf dem Dampfer gratulierten alle einander zum neuen Jahr. Zwei Kriegs-Neujahren begegnete ich in Frankreich, dem dritten auf dem Ozean. Was bereitete das Jahr 1917 vor?

Sonntag, den 13. Januar. Wir fahren an New York heran. Um drei Uhr nachts Erwachen. Wir stehen. Es ist dunkel. Kalt. Windig. Am Ufer ein nasser, gewaltiger Häuserhaufen. Die Neue Welt!


Zuletzt aktualisiert am 22.7.2008